K. Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689-1721)

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Titel
Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718)


Autor(en)
Bütikofer, Kaspar
Reihe
Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 54
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Bock, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn

Forschungen zum Pietismus, der bedeutendsten religiösen Erneuerungsbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus zwischen Reformation und Aufklärung, haben eine lange Tradition. Hatten lange vor allem kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien im Vordergrund gestanden, die oft durch die persönliche Zugehörigkeit der Autoren zum Pietismus geprägt waren, so fanden ab den 1970er-Jahren sozialhistorische und später ideen- und kulturhistorische Ansätze Eingang in die Pietismusforschung.

Kaspar Bütikofer greift in seiner Basler Dissertation diese inhaltlichen und methodischen Weiterentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf, um am Beispiel einer Kommune um 1700 die sozial-, mentalitäts- und politikgeschichtlichen Aspekte der frühen pietistischen Bewegung zu untersuchen. Die Stadt Zürich bietet hierfür eine sehr günstige Quellensituation. Zürich gehört neben Bern und Sankt Gallen zu den Orten der Schweiz, wo pietistische Strömungen früh nachzuweisen sind. Sie waren hier von zwei ausführlich dokumentierten Verfolgungswellen betroffen, so dass auch Bütikofer zwangsläufig der von obrigkeitlicher Sichtweise geprägten Definition darüber folgt, wer der pietistischen Bewegung zuzuordnen sei.

Mittels einer seriellen Auswertung der Pietistenakten kann der Verfasser insgesamt 216 Personen ausfindig machen, die im Untersuchungszeitraum ins Visier der obrigkeitlichen Pietistenverfolgung gerieten. Diese entstammten mehrheitlich aufstrebenden Schichten der städtischen Bevölkerung und waren überwiegend Theologen, „freiberufliche“ Gebildete und Amtleute. Frauen spielten hier wie andernorts eine wichtige Rolle. Die sozial stabile Trägerschaft des Zürcher Pietismus rekrutierte sich zum großen Teil aus sich selbst und war durch eine hohe politische Präsenz gekennzeichnet. Plausibel ist deshalb Bütikofers Charakterisierung der frühen Zürcher Anhängerschaft des Pietismus als ein „Bürgertum avant la lettre“ (S. 75).

Den deutlichen Schwerpunkt der Studie bildet eine mentalitätsgeschichtliche Auswertung der ursprünglich 283 Bände umfassenden Bibliothek des Zürcher Kaufmanns Johann Heinrich Locher, die in Folge einer obrigkeitlichen Konfiskation 1698 um knapp zwei Drittel dezimiert wurde. Locher, die zentrale Person der ersten Pietistengeneration in Zürich, trat weniger als Vordenker denn als Lehrer und Organisator der Bewegung in Erscheinung. Bütikofers Ansatz ist es, leitmotivartig die wesentlichen Denkfiguren in den von Locher rezipierten Schriften herauszuarbeiten, um diese als pars pro toto für die Mentalität des frühen Pietismus in der Schweiz anzunehmen. So lässt sich eine Reihe von Elementen identifizieren, die Bütikofer dazu bewegen, den Zürcher Pietismus als „eine frühe und unscharfe Kultur des modernen Bürgertums am Beginn seiner formativen Phase“ (S. 433) zu charakterisieren. Hierzu zählen etwa die radikale Zurückweisung der Prädestination, ein Welt bejahendes Gottesbild, ein ausgeprägtes Individualitätsbewusstsein, die Tendenz zur Internalisierung und Privatisierung von Normen, der Wille zur Selbstbeherrschung sowie Arbeitsamkeit. Gleichzeitig gibt es in Lochers Lesewelt eine Fülle rückwärtsgewandter und antinomischer Denkstrukturen. Insgesamt sei der frühe Pietismus laut Bütikofer deshalb als ein „Übergangsstadium“ (S. 435) zwischen verschiedenen Epochen, Denkkulturen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen anzusehen.

Im politikgeschichtlichen Teil der Arbeit wird die Beteiligung pietistischer Vertreter an den Zürcher Verfassungsunruhen im Jahr 1713 in den Blick genommen. Das Verhältnis des Pietismus zur Politik ist indes kein neues Forschungsthema und wurde eingehend etwa für Württemberg und Preußen analysiert.1 Bütikofer schließt nun eine entsprechende Forschungslücke zur Schweiz. In Zürich zog das Scheitern der Reformbemühungen eine neue Welle der Pietistenverfolgungen nach sich, die 1721 in die Verbannung des Obmanns Johann Heinrich Bodmer, Auslöser der Burgerunruhen und zentrale Figur der zweiten Pietistengeneration, mündete.

Bütikofer greift verschiedene wichtige Themen und Thesen der Frühneuzeitforschung auf, um sie mit Blick auf den Pietismus zu überprüfen: In den politischen Gesellschaftsvorstellungen der Zürcher Pietisten macht er eine grundlegende Kritik an einer absolutistischen Herrschaftskonzeption aus. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen pietistischem Wirken und der Entwicklung des modernen Kapitalismus lässt sich am Beispiel Zürich nicht belegen. Was die Entstehung der Aufklärung anbelangt, bereitete der Pietismus das Terrain laut Bütikofer mit vor.

Abschließend gibt Bütikofer auf kurzen vier Seiten eine zusammenfassende Bewertung des frühen Pietismus in Zürich. Dieser lasse sich durchaus als politisch radikal charakterisieren; erst mit dem Scheitern aller Reformversuche erfolgte der Rückzug in die Kontemplation. Das Zürcher pietistische Reformbestreben orientierte sich dabei kaum an den aus der lutherischen Kirche stammenden Leitfiguren Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke. Eine generell institutionenfeindliche Haltung der Kirche gegenüber ist nicht zu beobachten. Angesichts der Fülle des Materials und der umfangreichen Forschungsliteratur hätte man sich gerade diesen, die verschiedenen Ergebnisse zusammenführenden Teil ausführlicher gewünscht, um die Zürcher Pietismusausprägung vergleichend besser einordnen zu können.

Kaspar Bütikofer hat insgesamt eine sehr gründliche Studie vorgelegt, die den frühen Pietismus in Zürich erschöpfend aufarbeitet. Sie gibt in erster Linie grundlegende Einblicke in die Ideenwelt eines wichtigen Repräsentanten der Bewegung, verortet das Phänomen aber auch in seinen sozialen und politischen Kontexten. Obwohl die Verzahnung der verschiedenen Aspekte noch deutlicher hätte herausgearbeitet werden können, ist der integrative methodische Zugriff an sich beispielgebend für die weitere Pietismusforschung.

Anmerkung:
1 Vgl. Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 1969; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971; Mary Fulbrook, Piety and Politics. Religion and the Rise of Absolutism in England, Württemberg and Prussia, Cambridge 1983.

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