L. Novotný: Vergangenheitsdiskurse zwischen Deutschen und Tschechen

Cover
Titel
Vergangenheitsdiskurse zwischen Deutschen und Tschechen. Untersuchung zur Perzeption der Geschichte nach 1945


Autor(en)
Novotný, Lukáš
Reihe
Extremismus und Demokratie 19
Erschienen
Baden-Baden 2009: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum, München

In seiner 2008 an der Technischen Universität Chemnitz verteidigten Dissertation geht Lukáš Novotný der Frage nach, wie Tschechen und Deutsche die gemeinsame Beziehungsgeschichte seit 1918 wahrnehmen und welchen Einfluss das Wissen und die subjektiven Ansichten über diese Vergangenheit auf ihr aktuelles Verhältnis zueinander haben. Der Untersuchungsschwerpunkt liegt dabei im böhmisch-bayerischen Grenzland, wo Novotný 50 leitfadenorientierte Interviews geführt hat. Diese Interviews, die im dritten Teil des Buches in Ausschnitten wiedergegeben und diskutiert werden, bilden ein interessantes und zugleich auch schwieriges, weil inhaltlich widersprüchliches Material, das es verdient gehabt hätte, im Zentrum der Darstellung zu stehen. Die Potentiale, die die Analyse regionaler Geschichtsbilder gehabt hätte, werden jedoch nicht ausgeschöpft, was zunächst einmal am unausgewogenen Aufbau der Arbeit liegt.

Auf das einführende Kapitel, in dem Novotný seine Begrifflichkeiten und Methoden darlegt, folgen gute 100 Seiten deutsch-tschechische Beziehungsgeschichte seit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg. Das ist einerseits viel mehr, als der Leser als Faktengrundlage benötigt, um die später dargebotenen individuellen Erklärungen und Meinungen einordnen zu können, und bleibt andererseits doch weitgehend an der Oberfläche und traditionellen in Erzählmustern verhaftet. Auch zeigt der Text – was in Anbetracht des gewaltigen Themas nicht verwunderlich ist – stellenweise gewisse Unsicherheiten.1 Die große Linie geht zugunsten von Details verloren. Vor allem aber lässt dieses Großkapitel jede Verbindung zum ersten Teil vermissen. Wenn von Geschichtsdiskursen die Rede ist, warum werden dann nicht die im 20. Jahrhundert entstandenen und politikwirksamen Vergangenheitsnarrative vorgestellt? Wozu Assmann und Nora herbeizitieren, wenn dann doch die meiste Energie darauf verwendet wird, historische Wahrheit festzuklopfen?

Auf weiteren knapp 100 Seiten werden daran anschließend die Interviews abgehandelt. Diese präsentiert Novotný passagenweise klar strukturiert, etwa wenn er die Haltungen seiner Interviewpartner in vier Grundtypen einteilt, die er auf beiden Seiten der Grenze vorgefunden hat. In anderen Abschnitten bekommt er seine Quellengrundlage weniger gut in den Griff und im Text vermengen sich die Meinungen der Interviewpartner mit erneuten Ausführungen des Autors zur Realgeschichte.

In der Zusammenfassung seiner Ergebnisse macht Novotný deutlich, wie schwer sich die Befunde aus seinen Interviews auf einen Nenner bringen lassen: So wird zwar manche Erwartung erfüllt – etwa die von der enormen Bedeutung des Wirtschaftsgefälles zwischen Bayern und Böhmen oder von dem raschen Ende der Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhanges –, andere Resultate indessen sind durchaus erstaunlich. Offenbar sagen Alter, Herkunft (etwa aus dem Vertriebenenmilieu) und sozialer Status wenig darüber aus, wie positiv oder negativ jemand über den tschechischen bzw. deutschen Nachbarn denkt. Bemerkenswert sind auch die lokalen Differenzen, die Novotný für das bayerische Grenzland in Fragen wie der Haltung zur EU-Osterweiterung eruiert hat. Interessant ist zudem die Feststellung, dass auf der bayerischen Seite regionalgeschichtliche Bezüge eine ungleich größere Rolle spielen als auf der böhmischen. Im tschechischen Grenzland steht die Nationalgeschichte unangefochten an erster Stelle, und das, obwohl es ein erklärtes Ziel kommunistischer Geschichtspolitik nach 1948 war, regionale historische Traditionen zu schaffen und zu pflegen.

Hätte sich Novotný nicht bereits im historischen Vorlauf verausgabt, wären seine Überlegungen an dieser Stelle gut weiterzuführen gewesen – etwa indem das Geschichtswissen und -denken im Grenzland zu dem der tschechischen und deutschen Mehrheitsbevölkerung in Beziehung gesetzt worden wäre. Eine lohnende Vertiefung hätte auch darin bestehen können, exemplarisch nachzuvollziehen, wie das Urteil über die Vergangenheit das politische Leben auf lokaler Ebene beeinflusst. Themen, die sich für eine detaillierte Diskursanalyse geeignet hätten, erwähnt Novotný durchaus – so zum Beispiel den heftigen und in Deutschland unbekannten Konflikt, der im grenznahen Cheb 2005 um die Errichtung eines Denkmals für die „Opfer des Eisernen Vorhangs“ geführt wurde (S. 211). So aber erschließt sich die Verbindung von „großer Geschichte“ und Grenzland nicht. Welche Relevanz die Ergebnisse der Interviews haben, ob die Vorstellungen, die die Befragten eher typisch oder untypisch für Tschechen und Deutsche sind, ob die „Bilder in den Köpfen“ als charakteristisch für eine Nachbarschaft am ehemaligen „Eisernen Vorhang“ bezeichnet werden können, wird nicht diskutiert. Das ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass ein vergleichender Blick unterbleibt.

Dass die Lektüre des Buches mitunter mühsam ist, liegt aber nicht nur daran, dass die eigentliche Untersuchung regionaler Geschichtsdiskurse zu knapp ausfällt und zu kurz greift. Ärgerlich ist auch die mangelnde Stringenz des Textes. Fast hat man den Eindruck, als würde Novotný den Begriffen und Ansätzen, zu denen er sich eingangs bekennt, doch nicht so recht vertrauen. Immer wieder korrigiert er die Aussagen seiner Gesprächspartner und gibt dem Leser Hinweise, wie er diese zu beurteilen habe, im Stil von: „Die Zeit des realen Sozialismus deformierte bei einem Teil der Menschen freilich auch das moralische Bewusstsein und hatte schwere Folgen für ihr Historizitätsbewusstsein.“ (S. 241) Möglicherweise ist diese Inkonsequenz darauf zurückzuführen, dass das Buch sowohl analysieren als auch „weiterführende Gesichtspunkte und Empfehlungen für den deutsch-tschechischen Dialog“ geben möchte (S. 23, S. 243-245). Dieses praxisorientierte Anliegen, das vor allem dann sehr deutlich spürbar wird, wenn Novotný kritisch mit den tschechischen Medien und der tschechischen Politik ins Gericht geht, ist sympathisch und legitim. Ihm wäre aber durch eine klare Trennung der verschiedenen Beobachter- und Darstellungsebenen sicher besser Genüge getan worden.

Anmerkung:
1 Der bayerische Politiker Wilhelm Hoegner stand keineswegs an der Spitze der CSU, sondern war der einzige SPD-Ministerpräsident des Freistaats (S. 123). – Das Collegium Carolinum ist keine „Bildungseinrichtung“ der Sudetendeutschen Landsmannschaft (S. 122) sondern ein mit der Ludwig-Maximilians-Universität verbundenes unabhängiges Forschungsinstitut, das vom Land Bayern und durch Drittmittel finanziert wird. – DDR-Truppen waren, obwohl viele Tschechen und DDR-Bürger lange Jahre vom Gegenteil überzeugt waren, im August 1968 nicht am Einmarsch in die Tschechoslowakei beteiligt (S. 125, 191). Dazu: Rüdiger Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung, Berlin 1995.

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