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Titel
Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft - Lehrbuch mit Übungsteil


Autor(en)
Bein, Thomas
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Brandt, Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Die Editionswissenschaft, auch die altgermanistische, hat sich (mit einigen Diskontinuitäten) stetig weiterentwickelt. In Zeiten hochschulpolitisch induzierter ‚Entrümpelung’ des Lernstoffs und modularisierter Studiengänge klafft daher auch hier die Schere zwischen dem, was zu wissen wäre, und dem, was in Veranstaltungen noch gelehrt werden kann, immer weiter auseinander. Seltsamerweise fühlen sich universitär Lehrende nur selten bemüßigt, den negativen Folgen dieser Situation abzuhelfen: Während es zum Beispiel immer mehr schulbezogene altgermanistische Fachliteratur gibt (um zu verhindern, dass das Teilfach der germanistischen Mediävistik völlig aus den schulischen Curricula exkludiert wird), fehlen häufig Einführungen in Arbeitsweisen und Techniken des Fachs, die für den Hochschul-Nachwuchs relevant und zum Selbststudium geeignet wären. Im Bereich von Edition und Textkritik existierte jedenfalls ein solches Manko bisher, und das nimmt Wunder: Wenn etwas so wichtig ist (und das ist es), weshalb gibt es dann kaum etwas für Studierende? Beins Einführung von 19901 ist vergriffen. Ältere Darstellungen, die immerhin noch über Bibliotheken greifbar sind, müssen teils als inhaltlich und methodisch überholt, teils als mittlerweile zu anspruchsvoll für Studierende, teils als perspektivisch verengt gelten – manchmal treffen alle drei Faktoren zusammen. Beins neue Einführung, die solchen Defiziten mit Sicherheit abhelfen kann, wartet demgegenüber vor allem mit folgenden Positiva auf:

1. Sie ist methodisch auf dem neuesten Stand und informiert über diesen Stand verlässlich auf der Basis ausgeprägter Kennerschaft (Beins eigene praktische und theoretische Beiträge zu den verschiedensten Aspekten der Bereiche Textkritik, Edition und Überlieferungswissenschaft umfassen inzwischen – ohne Rezensionen – über 30 Arbeiten).

2. Sie schafft den Spagat zwischen Materialfülle und Themenkomplexität einerseits, Vermittelbarkeit andererseits, indem mit Blick für das Wichtige und Wesentliche ausgewählt wird und die Anordnung der Einzelthemen Zusammenhänge klar werden lässt.

3. Sie beschränkt sich nicht auf die Entfaltung des engeren Themas ‚Textkritik und Edition’, sondern bettet dieses ein in mediengeschichtlich-medientheoretische und überlieferungswissenschaftliche Ausführungen, gibt der Forschungsgeschichte den ihr gebührenden Raum und liefert ferner (unter anderem) Hinweise zu Textsortenlinguistik, Intertextualität, Kodikologie, Metrik. Für eine Behandlung engerer im Rahmen weiterer Themenstellungen bestand in Zeiten, als universitäre Lehrpläne noch nicht so ausgedünnt waren, wenig Veranlassung. Mit seinem Konzept antwortet Bein auf die veränderte Situation – leistet damit aber viel mehr als eine bloße Anpassung an veränderte Ausbildungsbedingungen: Eine Einführung in ein Einzelthema im Rahmen von Kontexten belegt deutlicher die Relevanz des je speziellen Gegenstandes und hat damit ein erheblich größeres Motivationspotenzial.

Der Aufbau ist sachlich und didaktisch sinnvoll und zielführend strukturiert; kontinuierliche Rückbezüge insbesondere zu Beginn von Kapiteln sorgen für die Vernetzung von Informationen. Die Einleitung zum Thema "Was ist ein Text?" dürfte nicht nur für Studierende der mediävistischen Germanistik interessant sein; die mittlerweile anderwärts etwas abgegriffene Gewebe-Metapher wird durch Facettierungen revalorisiert und für das Verständnis der Sachverhalte nutzbar gemacht. Im Kapitel "Texte unterwegs: Zur Medialität mittelalterlicher Literatur" finden sich Begriffsklärungen, Erläuterungen zu Textsorten, den Spezifika handschriftlicher Überlieferung sowie zum Aufbau von Handschriften; auch die Materialität der Kommunikation kommt also ausführlich zur Geltung. Das Kapitel "Zur Überlieferung (hoch-)mittelalterlicher deutschsprachiger Texte" behandelt acht Beispiele (Otfrids Evangelienbuch, Wiener Handschrift; Konrads Rolandslied, Handschrift P; Nibelungenlied, Handschrift C; Kleine Heidelberger Liederhandschrift; Große Heidelberger Liederhandschrift; Jenaer Liederhandschrift; Oswald von Wolkenstein, Handschrift A; Kolmarer Liederhandschrift). Die Auswahl mag etwas lyriklastig wirken, was aber im Kontext dieser Einführung keine Nachteile hat: Zwar zeigt die handschriftliche Überlieferung von Lied- und Sprachsammlungen Spezifika; aber zum einen sollten Studierende diese kennen, und zum anderen werden zu den Sammlungen Informationen geliefert, die auch allgemein wichtig sind. Auf die "Pionierarbeit" der Lyrik-Editoren für die gesamte Editionsphilologie weist Bein hin (S. 88). In einem Kapitel über "Original und Abschrift(en)" werden die theoretischen Erläuterungen illustrativ an Fallbeispielen erläutert.

Dass im Kapitel "Zur Geschichte der altgermanistischen Textkritik" im Rahmen einer Einführung in die Textkritik nicht nur der aktuelle Wissensstand referiert, sondern auch die Fachgeschichte mit einbezogen wird, kann nicht genug hervorgehoben werden. Den Studierenden wird die engagierte Ehrenrettung Friedrich Heinrich von der Hagens (S. 85) weniger sagen – aber man freut sich darüber; und auch für Studierende dürfte die Erkenntnis wichtig sein, dass Wertungen selbst in scheinbar nur faktenbezogen Bereichen hinsichtlich ihrer wissenschaftskulturellen Bedingtheit relativierbar bleiben. Das, worauf Textkritik abzielt, die Bereitstellung einer (unter welchen Prämissen und mit welcher konkreten Zielsetzung auch immer) zuverlässigen Ausgabe, behandelt Bein übersichtlich in zwei gesonderten Kapiteln: "Von der Handschrift zur Edition: Editorische Vorarbeiten" und "Die Textedition". Ein "Ausblick: Zum Umgang mit Editionen" liefert ein kurzes Fazit und hebt einige besonders relevante Aspekte textkritischer Arbeit noch einmal hervor.

Was Beins Einführung unverwechselbar und unersetzbar macht, sind jedoch vor allem die "Übungen". Kriterium für Relevanz und Praktikabilität der Aufgaben ist die Qualität der vorhergehenden Ausführungen – und die ist ohne Einschränkung gegeben. Die Aufgaben selbst sind bewältigbar, ohne zu unterfordern, und inhaltlich ausnahmslos sinnvoll, weil stets auf essentials textkritischer Arbeit und wesentliche Grundkenntnisse bezogen, die durch die Einführung vermittelt werden.

Der selbständigen Weiterbildung im Themenbereich dienen auch die "Hinweise auf weiterführende Literatur". Hier finden sich 45 Titel, verteilt auf die Rubriken "Methodengeschichtlich aufschlussreiche Texteditionen (beteiligt an Paradigmenwechseln)" und "Forschungsbeiträge (Schwerpunkt Methodologie)". Die aufgeführten Editionen können gerade im Rahmen einer Einführung Repräsentativität beanspruchen, und außerdem ist es sinnvoll, dass bevorzugt Ausgaben erscheinen, die vorher erwähnt und besprochen wurden. Was man hier und in den anderen Rubriken vermissen könnte, findet sich überwiegend in Literaturhinweisen, die den einzelnen Kapiteln und Unterkapiteln beigegeben sind (Umfang: Kap. I: 13 Titel; II: 13 Titel; III: 45 Titel; IV: 11 Titel; V: 48 Titel; VI: 20 Titel; VII: 82 Titel), zum Teil mit Kommentaren oder einem Pfeilzeichen zur Hervorhebung der Wichtigkeit sowie gegebenenfalls gesonderter Rubrikenbildung. Und schließlich werden auch im laufenden Text einige zusätzliche Arbeiten in Fußnoten nachgewiesen. Damit sind die Literaturhinweise sehr reichhaltig, aber keineswegs überfrachtet, zumal eine jeweilige Auswahl nach den Bedürfnissen der Nutzer leicht zusammengestellt werden kann.

Da einer Erstnutzerin dieser Einführung wichtige Termini nach einmaliger Nennung im Text noch nicht geläufig sein werden, hat das am Schluss beigegebene Glossar (S. 169–176) mit 60 Lemmata einen großen praktischen Wert.

Fazit: Beins Einführung ist nicht nur prinzipiell wichtig, sondern besticht auch inhaltlich und didaktisch in jeder Hinsicht. Angesichts von Qualität und Funktionalität kommt man sich daher bei den folgenden Hinweisen und Wünschen etwas undankbar vor, und der Rezensent gibt auch gerne zu, dass manches von subjektiven Einschätzungen abhängt; in Hinsicht auf eine Neuauflage mag jedoch das eine oder andere vielleicht verwertbar sein:
Die Literaturhinweise sind überwiegend chronologisch nach Erscheinungsdatum, nicht alphabetisch nach Verfasser, Herausgeber, Titeln geordnet; ein Forschungsregister wäre also in Zukunft eine schätzenswerte Beigabe. Auf Seite 9 beansprucht Bein für seinen Textbegriff eine Anlehnung an "die strukturalistische Ausrichtung"; der Singular könnte verwirren, weil gerade im Bereich strukturalistischer Theorien und Methoden eine sehr weitgehende Ausdifferenzierung feststellbar ist. Auf Seite 11 wird in Anmerkung 3 auf Genettes "Palimpsest" verwiesen, der Begriff Palimpsest anschließend handschriftengeschichtlich erläutert. In Genettes Theorien dient Palimpsest aber eher als Metapher, deren Deutung über das rein handschriftengeschichtliche Phänomen hinausgeht. Auf Seite 27 wird für nicht-fiktionale Texte behauptet, diese verzichteten "meist auf bewusste Sprachästhetik". Das kann man so allgemein vielleicht nicht sagen; vergleiche etwa den Versuch einer Textsorten-Typologie frühneuhochdeutscher Literatur bei Reichmann/Wegera2, wo bei einigen nicht-fiktionalen Textsorten unter den sprachlichen Kennzeichen auch dezidiert Rhetorisches auftaucht. Auf Seite 147 fehlt im Abschnitt "Typographische Druckeinrichtung […]" bei den Zeichen die einfache, nach links geöffnete eckige Klammer (Lemmazeichen/Lemmaklammer), die erst auf Seite 148 vorgestellt wird. Aufgabe 5c im Übungsteil (S. 157) setzt die Fertigkeit des Erstellens eines Variantenapparats bereits voraus. Das gehört natürlich nicht zu Beins eigentlichem Thema, wäre aber vielleicht eine sinnvolle Ergänzung. Auf Seite 166 fehlt bei ‚Walther 1999’ der Verlagsort. Zum Stichwort Abbreviaturen im Glossar: Kürzel finden sich nicht nur für Silben oder ganze Worte, sondern auch für einzelne Buchstaben (Nasalstrich zur Verdoppelung von n oder m, die Seite 156, letzter Absatz erwähnte Sonderform des er-Häkchens für den Vokal e usw.); Stichwort Apex: Der Apex findet nicht nur in mittelalterlichen, sondern auch noch in frühneuzeitlichen Handschriften Verwendung; Stichwort Apparat: die Sperrung von "einen" ist vielleicht irreführend; sinnvoller wäre eventuell die Sperrung "Quellenapparat" im Unterschied zum folgenden "Forschungsapparat". Dass Editionen "[i]n der Regel" nur einen Quellenapparat (Handschriftenapparat) haben, wird man so nicht sagen können – zusätzliche Forschungsapparate sind durchaus nicht selten, und auf Seite 148, im letzten Absatz, liest sich das auch etwas anders; verwirrend könnte sein, dass sich im Glossar die Bezeichnung "Quellenapparat" findet, auf Seite 113 dagegen die geläufigeren Termini "Lesarten"- und "Variantenapparat". Bei den Lemmata zu Schriftarten könnte man mit Seitenzahlen auf Beispielabbildungen im Band verweisen, analog vielleicht auch im Fall von Lemmata, die in den Hauptteilen ausführlicher besprochen werden. Stichwort Heuristik: Heuristik meint wohl eher die Technik der Suche nach Textzeugen als diese Suche selbst; das Stichwort Mouvance meint nicht nur die Bewegung von "Texten", obwohl es in diesem Sinn gleichfalls gebraucht wird 3, sondern die spezifische ‚Lebensweise’ der mittelalterlichen Literatur insgesamt.4 Das Lemma Überlieferungsgeschichte ist alphabetisch verstellt.

Anmerkungen:
1 Thomas Bein, Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen der Edition altdeutscher Dichtung, Göppingen 1990. Übersetzung ins Italienische unter dem Titel: Introduzione alla critica dei testi tedeschi medievali, Pisa 1999.
2 Oskar Reichmann / Klaus-Peter Wegera (Hrsg.), Frühneuhochdeutsches Lesebuch, Tübingen 1988, siehe Einleitung der einzelnen Textsorten-Kapitel.
3 Stephan Fuchs-Jolie, under diu ougen sehen. Zu Visualität, Mouvance und Lesbarkeit von Walthers ‚Kranzlied’ (L 74,20), in: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters 128 (2006), S. 275–297.
4 Vgl. Paul Zumthor, La lettre et la voix: De la ‘littérature’ médiévale, Paris 1987, S. 160–186; Bella Millett, Mouvance and the Medieval Author, in: A. J. Minnis (Hrsg.), Late-Medieval Religious Texts and their Transmission: Essays in Honour of A. I. Doyle, Cambridge 1994, S. 9–20.

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