H. Gerlach u.a. (Hrsg.): Ausgänge. Zur DDR-Philosophie

Cover
Titel
Ausgänge. Zur DDR-Philosophie in den 70er und 80er Jahren


Herausgeber
Gerlach, Hans-Martin; Rauh, Hans-Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
793 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Dietzsch, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Wir Menschen seien, so hat es Marx einmal gesagt, „in einem Verfasser und Schausteller unseres eigenen Dramas“.1 Wie – und ob überhaupt – in dieser Lebenslage ein analytisch genaues Selbstverständnis zu erreichen wäre, kann gefragt und mit guten Gründen bezweifelt werden. Aber die Probleme damit wollen wir in den verschiedenen Erzählungen von uns selber (von der Geschichtswissenschaft) zumindest zur Sprache gebracht wissen. Bei einem, philatelistisch gesagt, abgeschlossenen Sammelgebiet wie der ‚DDR-Philosophie‘ wird diese Problemlage nicht einfacher. Gerade auch wenn ihre Geschichte geschrieben wird von Akteuren und Sympathisanten jenes Unternehmens selber. Denn hier lastet zudem noch, wie der Nachtmahr in Füsslis bekanntem Bild, der Alb des geschichtlichen Misserfolgs auf unseren Tagträumen; – und der Misserfolg ist, wie wir wissen, ein Waisenkind. Und so ist man froh, mit diesem dritten Band zur Geschichte der DDR-Philosophie Ausgänge erreicht zu haben, ‚Ausgang‘ gleichermaßen als Öffnung (Befreiung) und Ende eines doktrinären Labyrinthganges.

Das generelle Problem dieser Geschichtsdarstellung ist auch das Problem der DDR-Philosophie überhaupt: die tiefsitzende Verbundenheit mit dem politischen ‚Projekt DDR‘,2 die, wenn man das so nennen darf, ‚Politizität‘ der philosophierenden Subjekte. Ganz symptomatisch ist es, wenn noch 1989 – als ein (scheinbar) gesellschaftspolitisches Defizit! – „auf die Bedeutungslosigkeit philosophiegeschichtlicher Arbeit für das Bedenken von Alternativen gesellschaftlicher Entwicklung in der DDR verwiesen wird.“ (S. 308) Gerade dieser ‚polit-pathogene‘ Verblendungszusammenhang, das heißt die Vermutung, dass eben alle Philosophische Arbeit politisch sein müsse, stiftete eine denkerische Eindimensionalität, die aber in der vorliegenden Geschichtsbetrachtung kaum thematisiert wird. Die Ausnahme ist der Beitrag „Nietzsche stand wieder zur Diskussion“ (S. 203-244), in dem die radikale Ideologie- bzw. Einbildungs- und Ressentimentkritik in Nietzsches Diktum von den felsenfesten Überzeugungen, die allesamt in’s Irrenhaus gehörten, gipfelte. Hier wird ganz klar die prinzipielle Ablehnung der DDR-Ideologen verständlich, Nietzsche irgendwie doch in die philosophische Erbschaft aufzunehmen (anders wie andere, auch ‚problematische‘ Figuren, die man nolens volens in der DDR publizierte). Aber auch die gähnende Gleichgültigkeit der meisten DDR-Philosophen Nietzsche gegenüber ist hochsymptomatisch. Denn der Philosoph gibt seiner Zunft zu bedenken: „Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes Aberglauben […] und nicht der Wahrheit“ und so zieht ihr „als Esel – des Volkes Karren!“3 Diese gepflegte Symbiose von Philosophie und Politik unterscheidet die DDR-Philosophen (auch ihre großen Dissidenten, wie Peter Ruben, Rudolf Bahro, Helmut Seidel, Wolfgang Heise, Lothar Kühne) von ihren Kollegen in den anderen sogenannten sozialistischen Staaten. Dort hat man sich, namentlich in Warschau, Prag, Zagreb, seit 1956, spätesten seit 1968, von allem sogenannten „politisch-eingreifenden Denken“ abgewandt, um den Perspektivreichtum in der Philosophie und ihrer Interpretationen wiederzuentdecken.

Wer bei diesem Geschäft der Philosophie mit Marx im Bunde zu stehen vorgibt, hätte zumindest, unabhängig von ideologischer Aktualität, – wie in der oben zitierten Schrift zu lesen ist – sein ganzes Interesse auf „die wirkliche, profane Geschichte der Menschen [zu] erforschen“4 richten müssen (nicht nur auf ein Erbekonstrukt!). Zweifellos waren die Philosophen in der DDR aber auch fleißige, gebildete, manchmal pfiffige Leute. Sie waren durchweg offen gegenüber der modernen Wissenschaft, der Logik und der neueren europäischen Geistesgeschichte. Darüber geben Kollegen wie Reinhard Mocek, Dieter Wittich, Hans-Ulrich Wöhler, Klaus-Dieter Eichler, Reinhardt Pester oder Karl-Friedrich Wessel in ihren Beiträgen interessante Auskünfte; auch die vielen bibliographischen Hinweise auf philosophische Editions- und Veranstaltungsreihen verschiedener Verlage und Institute (so S. 59-63, 121-159, 171-174, 184-190, 260-281, 443-459, 665-667, 676-681) dokumentieren den Ernst, aber auch manche publizistische Donquixotterie im Alltag der DDR-Philosophen (das dabei gelegentlich auch wichtiges übersehen worden ist, etwa S. 262, übergehen wir mit Nachsicht).

Gibt es nun etwas, das man die kritische Kraft der DDR-Philosophen nennen könnte? Etwas, das für eine aufklärerische Kultur nützlich zu machen wäre? Dass es solche nachhaltigen Kritiken gegeben hat, macht der vorliegende Band deutlich. Allem voran wird für die Periode dieses dritten Bandes die philosophische Kritik von Peter Ruben am DDR-offiziellen Marxismus-Leninismus (den man ‚M.-L.-Religion‘ nennen kann) aus der Zeit 1980/81 vorgestellt (S. 560-600) sowie, im Jahr 1979, der Parteiausschluss des Berliner Philosophen Dr. Walter Hofmann (S. 542-559).

In beiden Fällen wird die Modernität eines methodenbewussten Marxismus eingefordert, die sehr wohl ausdrücklich dieses Denken auf Wissenschaft verpflichtet. Aber dabei sollte in keinem Falle etwa das theoretische Paradigma des Marxismus (das ist seine Herkunft aus der englischen klassischen Ökonomie, der französischen Politik und der klassischen deutschen Philosophie) überschritten werden. Der Marxismus selber – als historische Erscheinung – stand niemals zur Disposition.

So finden wir dann als Alltagformen der Kritik allerorts die Kritik an maßgeblichen (dogmatisch konfirmierten) Amtspersonen des Philosophiebetriebs, namentlich Manfred Buhr ist hier – keineswegs unbegründet – das Objekt der kritischen Begierde („Außer mir hat keiner Buhr direkt kritisiert“, annotiert eine Leipziger Philosophin, S. 92).

Es gibt aber auch Wissensfiktionen, die die DDR-Philosophie hinterlassen hat, – über den Menschen, die Reichweite der Vernunft, die Freiheit des Denkens, des Privaten als Öffentlichen, die Revolte, die Massen, etc., die ins Unterbewusste sedimentiert, aber deshalb eben nicht absentiert sind (und in überraschenden Dysfunktionen in der heutigen Gesellschaft wieder auftauchen).

Anmerkungen:
1 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. MEW, Bd. 4, S. 135.
2 Vgl.:<http://www.kondiaf.de/ags/politik/arbeitspapier/Zusammenbruch_der_DDR.pdf> (31.08.2011)
3 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. KSA, Bd. 4, S. 132f.
4 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. MEW, Bd. 4, S. 135.

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