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Titel
Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950


Autor(en)
Schulz, Gerhard
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Gerhard Schulz gilt neben Karl Dietrich Bracher als einer der Begründer und führenden Vertreter der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte. Von 1962 bis 1990 hatte er den Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen inne. Von hier aus setzte er Maßstäbe bei der geistigen Durchdringung vornehmlich der Geschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Zu den Standardwerken, die aus seiner Feder stammen, zählen das dreibändige Werk „Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik“, das von 1963 an bis 1992 erschien, und nicht zuletzt das gemeinsam mit Bracher und Wolfgang Sauer auf den Weg gebrachte Werk „Die nationalsozialistische Machtergreifung“, das – 1960 veröffentlicht – mehrere Auflagen erlebte. Von Schulz, der überdies zu „Revolutionen und Friedensschlüssen 1917-1920“, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und zur Nachkriegsgeschichte nach 1945 publizierte, sind weiterhin zwei Monographien erwähnenswert, die unmittelbar vor und nach seinem Tod erschienen: „Europa und der Globus“ sowie „Geschichte im Zeitalter der Globalisierung“.

Der Weg, der den Historiker bis auf den Olymp der deutschen Zeitgeschichte führte, ist hingegen weniger bekannt. 1924 in der schlesischen Niederlausitz (heute Polen) geboren, erlebte er nach dem Besuch des Gymnasiums und der Wirtschaftsoberschule in Leipzig den Kriegsdienst, eine schwere Verwundung und die Vertreibung seiner Familie. Mit seinen Eltern lebte er seit 1945 in der kleinen Gemeinde Mahlis im Zentrum Sachsens, wo er 1946 zuerst als „Neulehrer“ arbeitete. Im Wintersemester desselben Jahres gelang es ihm, sich an der Pädagogischen Fakultät der TH Dresden einzuschreiben; 1947 konnte er endlich an die Universität Leipzig wechseln, an der er – einer immer stärkeren Neigung nachgebend – bald im Hauptfach Geschichte studierte. In Leipzig engagierte sich Schulz zudem an der Seite Wolfgang Natoneks für die LDP im Studentenrat und musste dadurch rasch Erfahrungen mit der neuen kommunistischen Diktaturdurchsetzung machen. 1950 flüchtete er in den Westteil Berlins und setzte dort sein Studium an der Freien Universität fort, das er 1952 mit der Promotion beendete.

Das Tagebuch, das die Jahre 1945 bis 1950 umschließt, lässt nicht nur ein spannendes Stück Zeitgeschichte lebendig werden, es verdeutlicht auch die ganz persönliche Erfahrung, die der junge Schulz mit der „Demokratie und Diktatur“, seinem späteren wissenschaftlichen Hauptarbeitsgebiet, in der SBZ erlebte. Die Veröffentlichung dieses Ego-Dokumentes hat verdienstvoller Weise einer von Schulz` Schülern, der heutige stellvertretende Direktor des Münchner IfZ, Udo Wengst, besorgt. Es ist gewiss nicht zu hoch gegriffen, dieses Tagebuch als eine kleine Sensation zu bezeichnen, erscheint es doch einem anderen Ego-Dokument, nämlich dem des Potsdamer LDP-Jugendpolitikers Wolfgang Schollwer1, in Punkto gedanklicher Reflexion, sprachlicher Brillanz und politischer Weitsichtigkeit mehr als nur ebenbürtig. Es zeigt am Beispiel eines jungen aufstrebenden Akademikers, wie schwer selbst für seinesgleichen die geistige Bewältigung des NS-Regimes eigentlich war, mit welch erstaunlicher Intensität neuere wie ältere geistige Strömungen reflektiert worden sind und wie perspektivlos sich letztlich der (jungliberale) politische Kampf gegen einen übermächtigen Gegner gestaltete.

Immer wieder begegnet dem Leser dabei Schulz als ein Suchender, der zwar schnell, Ende 1945, Anschluss an die Liberalen findet, aber mehrfach schwankt. So bedauert er recht früh, dass er sich nicht der CDU angeschlossen hat, die doch die „alten abendländischen kulturellen Welten“ verkörpere und die er als „das tätigste Zentrum gegen den Bolschewismus ansehen“ (S. 40) muss. Kurze Zeit später ist er vom charismatischen Nachkriegsvorsitzenden der (West-)SPD, Kurt Schumacher, angetan, dessen Aufsätze er in westlichen Zeitungen gelesen hat. Nach der Lektüre hat er den Eindruck, „den bemerkenswertesten deutschen Politiker der Gegenwart“ vor sich zu sehen, dessen „entschlossener Kampf gegen den Bolschewismus […] unbedingt Eindruck auf jeden deutschfühlenden Menschen“ mache (S. 50). Geistiger Dreh- und Angelpunkt ist für Schulz ein demokratischer Antikommunismus, der sich im täglichen „Kleinkrieg“ mit Funktionären der KPD/SED verfestigt. Unübersehbar ist aber auch, dass er längere Zeit braucht, um sich von plattem Patriotismus und nationalsozialistischem Gedankengut frei zu machen, dem er noch jahrelang „konstruktive Tendenzen“ (S. 170) abgewinnen kann.

Seine intellektuelle Beweglichkeit und Offenheit zeigt sich immer wieder anhand der Tatsache, dass er Bücher und Zeitschriften aus nahezu allen vier Besatzungszonen geistig ventiliert. Er liest den Ost-Berliner „Aufbau“, die Freiburger „Gegenwart“, die „Göttinger Universitätszeitung“ und die „Amerikanische Rundschau“, darüber hinaus Schriften von Sören Kierkegaard, Gustave Le Bon, Karl Jaspers und Lorenz von Stein, aber auch von Karl Marx und Franz Mehring. Ungeachtet seines Engagements für die LDP im Leipziger Studentenrat bekennt er Mitte 1948, nach der Lektüre von Richard Löwenthals „wertvollem“ Buch „Jenseits des Kapitalismus“, es habe ihm zu „entscheidenden Einsichten verholfen“ mit dem Ergebnis eines „klaren Bekenntnis[ses] zum Sozialismus“ (S. 171f.). Da er jedoch die (demokratisch-)sozialistische mit der liberalen Idee zu verbinden sucht, vermag er die „drohende Gefahr“ zu erkennen, die sich in der SBZ ausbreitete. Das hiesige „sozialistische Experiment“ werde – so Schulz – die „Ansätze zur Ausbildung einer Demokratie […] wieder vernichten“ (S. 172f.). Der „extrem radikale Sozialismus“ der KPD/SED führe zu einer proletarischen Diktatur, in der die „unterste Schicht der bisher als unbefähigt Geltenden“ (S. 199) dominiere.

Doch die unüberwindliche Kluft zwischen Sozialismus-Ideal und diktatorischer Praxis war für Schulz nur das eine, nicht einmal vorrangige Motiv, Leipzig im Frühjahr 1950 in Richtung West-Berlin zu verlassen. Wesentlich waren vielmehr die eigene Gefährdung aufgrund seines liberaldemokratisch-studentischen Engagements und seine Perspektivlosigkeit. Einen Tag nach der Verhaftung des Studentenratsvorsitzenden Natonek am 12. November 1948 erfuhr Schulz, dass sein Stipendium „vollkommen gestrichen“ (S. 187) worden sei; eine Woche darauf wurde er durch eine Wandzeitung der SED persönlich denunziert, und Anfang Dezember 1948 „beantragte“ die neue Staatspartei seine Exmatrikulation (S. 192). Dennoch wagte er nicht sofort den „Sprung durch das Fenster“, wie er die immer wieder erwogene und sprachlich verschleierte Flucht in den Westen umschrieb. Erst nach weiterer systematischer Ausschaltung der beiden bürgerlichen Parteien und dem vermutlich hilfreich gemeinten Hinweis von Professor Walter Markov (KPD/SED), dass ein wissenschaftlicher „Weg weiter hinaus für mich nur außerhalb der Ostzone möglich sei“ (S. 210), entschloss er sich zu fliehen.

Wer wissen will, wie sich die kommunistische Diktaturdurchsetzung in der SBZ vollzogen hat, wer überdies erfahren möchte, wie der Universitätsbetrieb im „Osten“ funktionierte und wie junge, kritische Menschen nach dem Untergang des Dritten Reiches schmerzhaft genug versuchten, auf neues geistiges Terrain vorzudringen, sollte zu diesem einmaligen individuellen Zeugnis greifen. Erleichtert wird die Lektüre dabei durch eine Kommentierung, die „bewusst knapp gehalten“ worden ist (S. 19), aber Namen, Ereignisse und Zusammenhänge kurz erläutert. Dennoch enthält dieselbe manche Unschärfen und Fehler, die bei einer Neuauflage getilgt werden sollten. So vereinigten sich SPD und KPD der SBZ [!] am 21./22. April 1946 in Berlin (S. 36); so war Wilhelm v. Stoltzenberg LDP-Kreisvorsitzender von Leipzig, nicht LDP-Bezirksvorsitzender „in Sachsen“ (S. 196); so stellten die „Frankfurter Hefte“ 1984 nicht „ihr Erscheinen ein“ (S. 236), sondern gingen 1984/85 in der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ auf; so handelte es sich bei dem erwähnten „K.“, der nun (Mai 1950) Landtagsabgeordneter geworden sei (S. 260), keinesfalls um den sächsischen LDP-Chef Hermann Kastner, sondern um den jungen Günter Kröber, den Schulz aus Leipzig kannte. Kastner war bereits seit 1946 [!] Mitglied des Landtags, hatte sich aber ab 1948 längst nach Ost-Berlin orientiert.

Anmerkung:
1 Wolfgang Schollwer, Potsdamer Tagebuch 1948-1950. Liberale Politik unter sowjetischer Besatzung, München 1988.

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