M. Holler: Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma

Titel
Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941–1944). Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma


Autor(en)
Holler, Martin
Anzahl Seiten
142 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Opfermann, Aktives Museum Südwestfalen, Siegen

Im Forschungsdiskurs wie in der erinnerungs- und opferpolitischen Diskussion zur Verfolgungsgeschichte der europäischen Roma im Nationalsozialismus gibt es die Kontroverse, ob sich wie im Falle der jüdischen Minderheit von einem Genozid sprechen lasse. Die Diskussionsbeiträge reichen von strikter Ablehnung (Yehuda Bauer, Guenter Lewy) über eingeschränkte Zustimmung (Michael Zimmermann) bis hin zu entschiedener Unterstützung (Wolfgang Wippermann).1 Den sowjetischen Roma kommt dabei besondere Bedeutung zu. Die nationalsozialistische Rassenpolitik trat mit dem Krieg gegen die Sowjetunion in die Phase ihrer äußersten Radikalisierung ein, der ein bislang nicht annähernd schätzbarer, sicher aber erheblicher Anteil der sowjetischen Minderheit in den besetzten Gebieten zum Opfer fiel, worauf wichtige Vorbehalte gegenüber der Genozid-These sich beziehen. Die Anordnungen seien widersprüchlich gewesen, der Hauptgrund für die Verfolgung und Vernichtung sei Spionagefurcht gegenüber schwer kontrollierbaren, da „wandernden“ und normativ und sozial nicht erreichbaren „Zigeunern“ gewesen. Rassismus habe eine nur „untergeordnete Rolle“ gespielt. Die Verfolgungspraxis sei nicht durch die Vorstellung einer unerwünschten „rassischen“ Zugehörigkeit, sondern durch eine unerwünschte „asoziale“ Lebensweise motiviert gewesen. Sesshaftigkeit und soziale Anpassung hätten vor Verfolgung und Vernichtung geschützt.2

Eine wesentliche Schwäche bei der Zustimmung oder der Ablehnung zu diesen Auffassungen liegt in mangelnder Empirie. Die schriftlichen Quellen sind nur insoweit erschlossen, als es sich um deutsche Überrestquellen in deutschen Archiven handelt. Sowjetische Beutequellen deutscher Provenienz und Quellen sowjetischer Provenienz wurden kaum ausgewertet. Die ältere sowjetische und die gegenwärtige Literatur zur Geschichte der Roma wurden in der deutschen Forschung bislang kaum rezipiert.3

Martin Holler legt nun eine erste Untersuchung vor, die eben darin ihre hauptsächliche Basis hat. Er recherchierte in der umfangreichen Überlieferung der bereits 1942 eingerichteten „Außerordentlichen Staatskommission“ zur Ermittlung der während der Okkupation begangenen Verbrechen und ergänzte dies um „Stichproben“ aus weiteren Beständen des Moskauer Archivs der Russischen Föderation sowie aus zehn ostukrainischen und Krim-Archiven. Er konsultierte zudem die sowjetische und postsowjetische Literatur umfassend und sprach außerdem mit Angehörigen der Erlebnisgeneration. Als Bearbeitungsraum wählte er die militärisch verwalteten Gebiete, da über sie bisher die geringsten Kenntnisse vorliegen würden.

Holler betrachtet die Ebene der Normsetzung und gleicht sie „mit der praktischen Realität vor Ort“ ab (S. 42). Sein Anspruch ist, „ein erstes verbindliches Urteil über Verlauf, Ausmaß und Systematik der nationalsozialistischen Roma-Vernichtung in den Kerngebieten der deutsch besetzten Sowjetunion zu fällen“ (S. 27). Methodisch setzt er vor allem an den Teilregionen an, in denen Roma oft bereits seit der Zarenzeit ortsfest lebten. Die ältere Vorgeschichte sei laut Holler einzubeziehen, um der Gefahr zu entgehen, „ideologisch geprägte ‚Zigeunerbilder‘ unreflektiert zu übernehmen“ (S. 20). Damit spricht er den in der Literatur nach wie vor gegenwärtigen Mythos vom kollektiven ewigen „Nomaden“ an.4 Dem setzt er die Geschichte der Sesshaftigkeit von Roma und den Tatbestand entgegen, dass angebliche Nomaden häufig und nicht anders als ebenfalls dem Anschein nach „vagabundierende“ Juden Kriegsflüchtlinge waren.

Im Smolensker Gebiet lag eine Reihe „nationaler Zigeunerkolchosen“ mit teils ethnisch geschlossener Roma-Bauernbevölkerung, teils gemischter Bewohnerschaft. Die von Holler untersuchten sowjetischen Quellen belegen, dass Angehörige deutscher Militäreinheiten dort anhand von Einwohnerlisten und nach „rassischem“ Augenscheinurteil im Frühjahr 1942 systematisch die Roma-Bevölkerung erfassten, festnahmen und ermordeten. Die Opfer waren Kolchosbauern, Lehrerinnen, Erzieherinnen, Männer, Frauen und Kinder. Der Bericht für die Zentrale Staatskommission stellte später fest, „Juden und Zigeuner wurden vollständig und überall vernichtet“ (S. 59). Holler nennt zahlreiche Beispiele systematisch organisierter Mordaktionen gegen die Bewohner von dörflichen und städtischen Roma-Quartieren. Die Vernichtung sei mitunter nicht nur ebenso zielgerichtet wie bei Juden, sondern „in einem einheitlichen Schritt geplant und vorbereitet“ (S. 60) und schließlich umgesetzt worden. Die „Parallelität der Roma- und Judenvernichtung“ habe miteinschließen können, dass die deutschen Mordplaner wie bei der jüdischen Bevölkerung „Umsiedlungen“ vorgetäuscht hätten, um möglichst ausnahmslos vernichten zu können. Die Publikation enthält die Abbildung eines entsprechenden Plakats aus dem Gebiet Černigov vom Juni 1942. Dem Aufruf zu einer Meldung zur Umsiedlung folgte dort ein dreitägiges Massaker, dem mindestens 2.000 Roma zum Opfer fielen. Anschließend wurde systematisch nach den bis dahin verschont Gebliebenen in den ländlichen Regionen gefahndet. Ein großer Teil der assimilierten Roma arbeitete in ethnisch-gemischten Kolchosen, wo man versuchte, sie mit Hilfe von Kollaborateuren aufzuspüren.

Ausführlich wendet sich Holler der Krim und dem Nordkaukasus zu, dem Befehlsbereich von Otto Ohlendorf, dem Leiter der Einsatzgruppe D. Es ist in diesem Fall in der Literatur unumstritten, dass die Zigeunerverfolgung ebenso umfassend angelegt war wie die der Juden.5 Sie setzte früh – schon 1941 – ein und verlief synchron mit der Vernichtungsaktivität gegen Juden und Krimtschaken.6 Die Roma-Bevölkerung war ganz überwiegend lange sesshaft und „sehr stark tatarisch assimiliert“ (S. 83). Ohlendorfs Nürnberger Prozessaussagen legten dazu das rassistisch-antiziganistische Motiv frei, eine Deutung, die in diesem Punkt auch Lewy vertritt. Auch auf der Krim versuchten die Besatzer mit Vortäuschungen („Umsiedlung“, „Ausgabe von Brotrationen“) die völlige Vernichtung der Roma zu erreichen. Was nur bei etwa zwei Dritteln gelang, weil der hohe Grad an Assimilation und die Verflechtung mit der tatarischen Mehrheitsbevölkerung und deren solidarische Hilfe viele dieser moslemischen Roma vor der Entdeckung als „Zigeuner“ schützte. Zwei Drittel bedeutet andererseits, dass die Opferzahlen erheblich über den bislang angenommenen liegen.7

Zum Operationsgebiet der Einsatzgruppe D gehörte der 1942 für nur etwa ein halbes Jahr besetzte Nordkaukasus, ein Gebiet mit größerer und weitgehend sesshafter Roma-Bevölkerung. Auch wenn Holler der Zugang zu einem Teil der Archivbestände dort verwehrt wurde, sei dennoch festzustellen gewesen, dass die kurze Zeit der Besetzung trotz des bald einsetzenden Drucks durch die Rote Armee von den Deutschen für das Aufspüren und Sammeln mittels „Zigeunerlisten“ und durch das Vorspiegeln einer „Aussiedlung“ genutzt wurde. Die frühe Befreiung rettete einen großen Teil der Bedrohten.

Holler zitiert immer wieder aus Berichten von Tatzeugen. Es fällt die exzessive, ungewöhnlich brutale Mordpraxis von SS-, Polizei-, Wehrmachts- und Hilfsverbandsangehörigen gegenüber unterschiedslos allen als „Zigeuner“ Gewerteten auf, wie sie sich in gleicher Weise gegen die jüdische Minderheit vorfindet. Hollers Fazit lautet, dass für den von ihm untersuchten Raum „das bislang vorherrschende Forschungsbild [...] grundlegend zu revidieren“ sei (S. 108). Der Vernichtungsfeldzug gegen die sowjetischen „Zigeuner“ in den militärisch verwalteten Gebieten habe einen „systematischen und intentionalen Charakter“ gehabt. Er sei grundlegend rasseideologisch motiviert, gegen Roma als Gesamtheit gerichtet gewesen und auch methodisch vergleichbar der Vernichtung der jüdischen Minderheit ins Werk gesetzt worden.

Bereits Hollers bei aller Ausführlichkeit doch stichprobenhafte Recherche kann die Dichotomie zwischen grundsätzlich von Vernichtung bedrohten „Wanderzigeunern“ und geschützter ortsfester Wohnbevölkerung auflösen, die eine starke Stütze des Konstrukts von der Unvergleichlichkeit des Genozids an der jüdischen Minderheit ist. Es deutet sich an, dass die Gegenthese bei weiterer Erschließung der Bestände der postsowjetischen Archive sich empirisch verifizieren lässt. Holler hat eine Türe geöffnet. Weitere Recherchen in den Archiven vom Baltikum bis zur Krim müssen folgen.

Anmerkungen:
1 Yehuda Bauer, Zigeuner, in: Yisrael Gutman (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. III, Berlin 1993, S. 1630-1634, hier S. 1634; Guenter Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München 2001, S. 216f.; Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996; Michael Zimmermann, „Rückkehr nicht erwünscht“. Guenter Lewys Gesamtdarstellung der Zigeunerverfolgung im Dritten Reich, in: Newsletter – Informationen des Fritz Bauer Instituts, Herbst 2001, Nr. 21, S. 50-53, online verfügbar unter <http://www.fritz-bauer-institut.de/rezensionen/nl21/zimmermann.htm> (02.12.2009); Wolfgang Wippermann, „Auserwählte Opfer“? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin 2005.
2 Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, S. 216f.
3 Christan Gerlach konsultierte Beutequellen in russischen und weißrussischen Archiven. Zu neuen Ergebnissen kam er in seinem kurzen Abschnitt über die Verfolgung der Roma nicht: ders., Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 1063-1067.
4 Siehe z.B. Lewys Vorstellung kollektiv gegebener Eigenschaften, darunter „ihre nomadische Lebensweise.“ Darin seien „die Wurzeln der Ablehnung“ aufzufinden: Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, S. 27ff.
5 Siehe z.B. Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“, S. 206.
6 Tatarisch assimilierte Juden sephardischer Herkunft.
7 Vgl. Zimmermann, Rassenutopie, S. 263.

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