J. Rydström u.a. (Hrsg.): Criminally Queer

Titel
Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999


Herausgeber
Jens, Rydström; Mustola, Kati
Erschienen
Amsterdam 2007: Aksant
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ann-Judith Rabenschlag, Baltic and East European Graduate School, Södertörns Högskola

In ihrem Essay „Critically Queer“, das 1993 in der Zeitschrift „GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies“ erschien, bezeichnete Judith Butler Gender und Sexualität als Produkte performativer Sprechakte.1 Nicht nur im Titel von „Criminally Queer. Homosexuality and Criminal Law in Scandinavia 1842-1999“ nehmen Jens Rydstöm, Kati Mustola, Wilhelm von Rosen, Martin Skaug Halsos und Thorgerdur Thorvaldsdóttir, die fünf AutorInnen der Aufsatzsammlung, bewusst Bezug auf diesen Text. Auch die zentrale These ihrer spannenden Veröffentlichung stützt sich auf Butlers theoretisches Gerüst: Die Figur des modernen Homosexuellen, so formuliert es Jens Rydström in seiner Einleitung, sei nicht in einer ontologisch unveränderlichen sexuellen Orientierung begründet, sondern durch die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen erst geschaffen worden. Performative Handlungen, die im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrhunderte in Skandinavien gleichgeschlechtliche Beziehungen als kriminell, pathologisch oder unmoralisch auswiesen, konnten nur im Rahmen eines Diskurses stattfinden, der die Benennung, Diskriminierung und Kriminalisierung eines „Anderen“ erlaubte und für normal befand. In einem dialektischen Verhältnis trugen so, nach Einschätzung der Autoren, performative Sprechakte, welche „den Homosexuellen“ krimineller Taten bezichtigten, zur Stabilisierung dieses „Differenzdiskurses“ (Ruth Wodak) bei. „Criminally Queer“ kann daher nicht nur als ein Ergebnis der skandinavischen Genderforschung gesehen werden, sondern auch als ein Beitrag zum derzeit vor allem im skandinavischen und angelsächsischen Raum beliebten Forschungsfeld des „Othering“.

Ein Leser, der das Inhaltsverzeichnis von „Criminally Queer“ aufschlägt, mag sich zunächst darüber wundern, in einem Buch über Skandinavien neben Beiträgen über Homosexualität in Dänemark, Norwegen und Schweden, auch solche zu Finnland, Island, Grönland und den Färöer-Inseln zu finden. „Homosexuality and Criminal Law in the Nordic Countries“ wäre als Untertitel daher sicherlich passender gewesen. Die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungszeitraums wird von Jens Rydström dagegen plausibler begründet. Ausgehend von der erstmaligen Aufhebung der Todesstrafe für „Sodomie“ in einem skandinavischen Staat 2 (Norwegen) im Jahr 1842 bis hin zur Angleichung des Mindestalters für homosexuelle und heterosexuelle Beziehungen in allen skandinavischen Staaten, zeichnet die Aufsatzsammlung den Prozess der sich über anderthalb Jahrhunderte erstreckenden Entkriminalisierung von Homosexualität in Skandinavien nach. Jedem nordischen Staat ist dabei ein eigenes Kapitel gewidmet.

Trotz individueller Unterschiede stellt sich die Entwicklung hin zu einer Entkriminalisierung und gesellschaftlichen Normalisierung homosexueller Beziehungen in den untersuchten Ländern recht ähnlich dar. Die Verfasser interpretieren diese Entwicklung als – wenn auch nicht notwendigerweise gewolltes – Produkt des skandinavischen Modernisierungsprozesses. Ein sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildendes, und vor allem zu Beginn des skandinavischen Wohlfahrtsstaates einflussreiches, medizinisches Expertentum sprach sich rasch für eine Pathologisierung von Sexualität zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern aus. Dies brachte den Gesetzgeber in Zugzwang: Wenn Homosexualität als Krankheit angesehen werden musste, waren die von ihr Befallenen nicht Herr ihrer Sinne und konnten, als unzurechnungsfähig geltend, nicht bestraft werden. Eine Internierung in psychiatrischen Anstalten versprach ebenfalls keine dauerhafte Lösung; denn zum einen waren „die Kranken“ einfach zu zahlreich und zum anderen sah sich die moderne Medizin außer Stande eine wirksame Therapie zu entwickeln. Während Norwegen bereits im Jahr 1905 von einer Bestrafung homosexueller Beziehungen absah, sofern „das öffentliche Interesse“ dadurch keinen Schaden nahm, zogen Dänemark und Schweden in den 1930er- bzw. 1940er-Jahren nach. Im gesamteuropäischen Vergleich lagen die nordischen Staaten damit im Prozess der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften weit vorne. Doch auch hier blieb es zunächst bei einer entscheidenden Einschränkung: Beide Sexualpartner mussten ein höheres Alter haben als dies bei heterosexuellen Beziehungen der Fall war. Eine Angleichung erfolgte erst in den 1970er- und 1980er-Jahren, im Nachzüglerland Finnland sogar erst im Jahr 1999. Interessanter Weise erfolgte weder in Dänemark noch in Norwegen während der Zeit der Okkupation durch die Nationalsozialisten eine Verschärfung dieser Regelungen. Da es leider sowohl Wilhelm von Rosen als auch Martin Skaug Halsos in ihren Beiträgen zu Dänemark und Norwegen versäumen, dieses Phänomen näher zu untersuchen, kann man als Leser über eventuelle Erklärungen bloß spekulieren; als mögliche Antwort käme zum Beispiel in Frage, dass auch einige befehlshabende Mitglieder der deutschen Besatzungsmacht der gleichgeschlechtlichen Liebe nicht ganz abgeneigt waren.

Neben der Nachzeichnung des Entkriminalisierungsprozesses homosexueller Beziehungen in den nordeuropäischen Staaten haben sich die Verfasser von „Criminally Queer“ zum Ziel gesetzt, weibliche Homosexualität stärker in den Fokus der Forschung zu rücken. Dieses Anliegen ist ehrenwert. Sie sehen sich dabei jedoch mit einem Problem konfrontiert, das sich insbesondere Wissenschaftlern aus dem Bereich der Postcolonial Studies immer wieder stellt. Eine subalterne Gruppe, welcher der zeitgenössische Diskurs keine Beachtung schenkte, findet sich auch nur selten in den Quellen wieder. Auszuwertende Belege sind also rar. So ließen sich für alle nordischen Staaten während des gesamten Untersuchungszeitraums der Studie von gut 150 Jahren nur 85 Fälle finden, in denen die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Frauen vom Rechtssystem überhaupt erfasst und letztlich auch geahndet wurde. Verglichen mit der Anzahl strafrechtlicher Verfolgungen homosexueller Männer gleichen diese Verfahren – wie Kati Mustola und Jens Rydström feststellen – dem berühmtem Tropfen auf dem heißen Stein. Dennoch widmen Mustola und Rydström der strafrechtlichen Verfolgung weiblicher Homosexualität im Norden anhand dieser Quellenbasis ein eigenes Kapitel und kommen zu einem interessanten Ergebnis: Im Zuge der politischen und sozialen Gleichberechtigung der Frau geriet auch die weibliche Homosexualität zunehmend in das Blickfeld staatlicher Behörden. Ab den 1930er-Jahren schlossen daher Sanktionen gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe in den nordischen Staaten weibliche Homosexualität mit ein. Langfristig gesehen trug der egalitäre Ansatz des nordeuropäischen Wohlfahrtstaates entscheidend zur Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Präferenzen und Orientierungen bei. Lesbische Frauen bekamen jedoch zunächst die disziplinierende Seite des nordischen Volksheims zu spüren.

Anmerkungen:
1 Judith Butler, Critically Queer, in: GLQ - A Journal of Lesbian and Gay Studies 1, 1993, H. 1, S. 17-32.
2 Der Einfachheit halber verwende ich den Begriff „Skandinavien“ im Sinne der Autoren. Island, Finnland, Grönland und die Färöer-Inseln sind also im Begriff mit eingeschlossen.

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