Titel
Darfur. Der "uneindeutige" Genozid


Autor(en)
Prunier, Gérard
Erschienen
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Janine Kläge, Research Academy Leipzig

Obgleich der nunmehr seit zwei Jahrzehnten anhaltende Konflikt in der westsudanesischen Region Darfur eine Vielzahl an Opfern forderte und fordert, wurde er lange Zeit von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der im Mai 2004 vereinbarte Waffenstillstand zwischen der Regierung in der Hauptstadt Khartum und den beiden Rebellentruppen SLA und JEM wurde von keiner der beiden Konfliktparteien eingehalten. Die Regierung bombardierte weiterhin zivile Ziele in Darfur, und die Rebellen führten weiterhin einen bewaffneten Kampf gegen das islamistische Khartum durch. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen halten bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt an. Der französische Historiker und Ostafrikaspezialist Gérard Prunier analysiert in seinem 2005 veröffentlichten Buch Le Dafour: Un génocide ambigu (dt. Ausgabe: Darfur. Der "uneindeutige"“ Genozid. 2006) den anhaltenden Darfur-Konflikt und verweist auf historische, politische und ethnische Interdependenzen, die sich mit Erklärungsansätzen wie "afrikanische Stammesfehden" oder "Religionskonflikte" nur ungenügend erfassen lassen.

Im ersten Teil des Buches gibt Prunier einen kurzen Überblick über die Region und unterstreicht die Komplexität der Sultanatsstaaten und die Mannigfaltigkeit ethnischer Gemeinschaften, die aufgrund von verschiedenen Lebensweisen (Nomadentum vs. Sesshaftigkeit) und Migration in einem fortwährenden Austauschprozess standen. Interessant ist die Einschätzung, dass Darfur bis zur kolonialen Besetzung mehr als eine Region des Sudans war. Interethnische und Stammeskonflikte um Macht und Ressourcen zeichneten das Bild einer "regionalen Einheit", die das unabhängige Darfur kennzeichneten. Mit dem Verlust der Unabhängigkeit und der Übernahme durch die koloniale Verwaltung wurde Darfur in die ökonomische wie politische Marginalisierung im sudanesischen Kontext gedrängt. Ab diesem Moment stellte die Region einen "Spielball" sowie ein "Spielfeld" für unterschiedliche politische Interessen dar. Dieser Status änderte sich auch nicht mit Wiedererlangung der Unabhängigkeit und mündete schließlich in einem „uneindeutigen Genozid“. Dessen Ursache sieht Prunier besonders in der systematischen Marginalisierung der Region im unabhängigen Sudan, einhergehend mit immer wiederkehrenden ökologischen Katastrophen.

Im Hauptteil zeichnet der Autor detailliert die Entwicklung zwischen dem Zentrum und der Peripherie in den Jahren 1985 und 2003 nach, und verweist immer wieder auf die wachsende Kluft zwischen dem islamistischen Militärregime und den sich herausbildenden politischen Gruppen im Darfur. So fanden die Bedürfnisse Darfurs auf der politischen Ebene kaum Beachtung. Ferner nutzte die sudanesische Regierung die Tatsache aus, dass die Region, besonders im Tschad-Libyen-Konflikt als ein wichtiges strategisches Grenzland galt. So nutze Libyen die Region im Krieg gegen den Tschad als Aufmarschgebiet, Kampfplatz und zweite Front, wofür sich die politische Elite in Khartum mit Waffen und pro-muslimischer politischer Unterstützung entlohnen ließ. Besonders diese Intervention Libyens im Darfur führte zu der starken Entzweiung der Region vom politischen und ökonomischen Zentrum Sudans. Mit Einzug der libyschen Kriegspolitik wurde die Situation in Darfur immer verworrener: Arabische Gruppen wurden mehr und mehr in den Grenzkrieg involviert. Diese wurden de facto von Tripolis gesteuert und erfuhren eine soziale Aufwertung, was hingegen eine Unterwerfung der schwarz-afrikanischen Stämme bedeutete. Hinzu kam die verworrene "demokratische" Politik aus der Hauptstadt Khartum, die sich durch Neubesetzung des Kabinetts, Parteienbrüche und unterschiedliche Abkommen auszeichnete, welche die Situation in Darfur immer fragiler und undurchsichtiger machte. Hier betont Gérard Prunier die aufkommende Angst der politischen Machtelite in Khartum, die Kontrolle über die Provinz zu verlieren. Mit der Ausweitung der Guerillakämpfe durch die Rebellengruppen entschloss sich Khartum zu einer „Guerillabekämpfung zum Billigtarif“, in der Reitermilizen und militärische Offensive eingesetzt wurden. Das von Prunier vermittelte Bild einer eingeschüchterten und verzweifelten Regierung gibt Aufschlüsse über die diffuse Situation in der Region. Allerdings ist dies kein ausreichender Erklärungsansatz für die „genozidale Politik“ der Regierung.

In den Kapiteln, in denen Prunier die Ausschreitungen, Attacken, Abkommensversuchen und Massaker beschreibt, bekommt der Leser zahlreiche Hinweise über die Hintergründe des Konflikts. Prunier versucht nicht die Frage zu klären, ob es in diesem Konflikt alleinig um ökonomische Ressourcen, aufgeheizte ethnische Auseinandersetzungen oder um den Wettstreit um Macht und Machterhalt geht. Vielmehr arbeitet er die Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren heraus und gibt somit einen umfassenden Erklärungsansatz für die komplexe Substanz der Darfur-Krise.

Pruniers Position gegenüber der Verwendung des Begriffs Genozid bleibt hingegen unklar. Der Autor diskutiert unterschiedliche Definitionen, berechnet Opferzahlen, jongliert mit Statistiken und plädiert schließlich für einen „uneindeutigen Genozid“, der nicht per Definition auf die totale und systematische Auslöschung einer ethnischen Gruppe zielt, sondern vielmehr auf die absolute politische Kontrolle über diese Region. Interessant ist in dieser Diskussion die Perspektive der politischen Weltmächte. Prunier zeigt, wie strategisch Friedensabkommen sein können und wie humanitärer Aktionismus der Weltgemeinschaft auf der “Fahne des Wahlkampfes“ hängen bleibt. So gab es während des U.S.-amerikanischen Wahlkampfjahres 2004 viele Versprechen, einige unverbindliche Zusagen an verschiedene Interessensgruppen, eine beachtliche Summe zur „Bewältigung der humanitären Notlage“ in Darfur und betrübte Gesichter von Regierungsangestellten im Fernsehen, ohne eine konkrete Position gegenüber Khartum zu beziehen oder gar eine konsequente politische Intervention zu verfolgen. Demnach überraschte es nicht, dass Darfur nach der Wiederwahl von George W. Bush in den Hintergrund politischer Diskussionen geriet.
Diese Kritik an der Weltpolitik und der Weltgemeinschaft führt der Autor in seinem letzten Teil des Buches aus und schließt mit der Anklage eines ignoranten und unsolidarischen Verhaltens, welches nicht zu guter Letzt aus einer gewissen „Realitätsflucht“ resultiere. Zu schnell gab sich die internationale Gemeinschaft mit falschen Aussagen aus Khartum bezüglich der Friedensentwicklung zufrieden und glaubte an den Beteuerungen einer stabilen "demokratischen" Politik in Darfur. Pruniers vertritt die Meinung, dass die Weltgemeinschaft ähnlich wie in Ruanda im Darfur-Konflikt versagt. Das Engagement der internationalen Gemeinschaft gehe über eine „politisch korrekte Rhetorik“ nicht hinaus: „Sich um die blutigen Babys zu kümmern, dass überließen sie der UNO, der AU und den Hilfsorganisationen.“
Die Aussichten für einen langfristigen und nachhaltigen Frieden in Darfur schätzt Gérard Prunier als unrealistisch ein. Friedensabkommen, Verhandlungen und Waffenstillstandsabkommen betrachtet er als kaum mehr als ein „papierenes Bollwerk gegen die harte Wirklichkeit“ auf der großen Bühne der politischen Inszenierungen, als alleinige Bestrebungen für den totalen Machtausbau und Machterhalt. So würden das Morden und die unzähligen Gräueltaten weitergehen und auch künftig das Bild von Darfur bestimmen.
Gérard Prunier zeigt auf beeindruckende Weise, welche Prozesse die Region Darfur im Sudan durchlaufen hat und wie sich die bis dato anhaltende Krise entwickelte. Der Autor zeigt auf, dass die Krise in Darfur weit mehr ist als eine „typische afrikanische Krise“. Sie ist nicht ausschließlich religiösen oder ethnischen Ursachen zuzuschreiben, sondern vielmehr den verworrenen Konstrukten einer gesamtsudanesischen Politik, ebenso wie der Intervenierung externer Akteure im Darfur.
Mit gut aufgearbeiteten Informationen klagt Prunier Akteure und Täter an. Das Buch ist letztlich eine „kleine Geschichte der Darfur-Krise“, die stets den schleichenden Prozess zum „uneindeutigen Genozid“ betont. So uneindeutig der Genozid in Darfur für Prunier ist, umso eindeutiger sind für ihn das Fehlverhalten und die Fehlentscheidungen der einheimischen Politik und der internationalen Gemeinschaft.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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