G. Gersmann u.a. (Hgg.): Frankreich 1871 - 1914

Titel
Frankreich 1871-1914. Die Dritte Republik und die Französische Revolution


Herausgeber
Gersmann, Gudrun; Kohle, Hubertus;
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Dieser Band gehört als späte Frucht eigentlich noch in den Zusammenhang des 200. Jahrestages der Französischen Revolution. Die beiden Herausgeber, Historikerin der Kulturgeschichte des Ancien Régime die eine, Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts der andere, haben sich – ausgehend von Tagungen in der Werner-Reimers-Stiftung zwischen 1989 und 1997 – gemeinsam mit zahlreichen Beiträgern in vier Bänden auf die Suche nach Spuren der Revolutionsgeschichte in der Zeit zwischen napoleonischem Empire und der ersten Phase der Dritten Republik gemacht.

Betrachtet man das Gesamtvorhaben vom instabilen Erbe der nachthermidorianischen Konsolidierungsbemühungen über die Konfrontation mit der stecken gebliebenen bourbonischen Restauration und die heftigen Auseinandersetzungen um den Neojakobinismus während der 48er-Revolution bzw. den Bonapartismus des Zweiten Kaiserreichs bis hin zur Einführung von Nationalfeiertag und Nationalhymne nach der Republikgründung 1870, so zeichnet sich bei aller verbleibenden Strittigkeit der Revolutionsdeutung doch eine feste Verankerung der Erinnerung an den Bastillesturm, den Sturz der Monarchie und die Kultur- und Sozialpolitik der Revolution in dem Symbolvorrat der Franzosen ab.

Die tiefe Verwurzelung vieler Franzosen in jener Version der Geschichte von 1789 und 1793, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kanonisiert wurde, ist im öffentlichen Bewusstsein unseres Nachbarlandes in einem solchen Maße präsent, dass ein vergleichbarer Band dort kaum von Nutzen wäre. Eher wäre mit Gegenreaktionen zu rechnen, wie sie seinerzeit François Furet mit seinem Diktum von der Revolution als erkaltetem, totem Gegenstand furios in Szene setzte, weil er das heutige Frankreich gern aus dem Schlagschatten dieser langen Erinnerungswirkung heraustreten sehen würde. Hierzulande ist aber diese Geschichte der Nachwehen weniger geläufig, weshalb das Kompendium gerade im Studienbetrieb nützliche Dienste leistet, zumal die Herausgeber einschlägig ausgewiesene Autoren gewonnen haben.

Wer allerdings im Katalog seiner Bibliothek den etwas zu umfassend geratenen Haupttitel allein als Wegweiser nutzt, wird enttäuscht sein, denn eine Geschichte der drei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg bekommt er oder sie für immerhin 48 Euro nicht geboten. Vielmehr handelt es sich um eine problemorientierte Aufsatzsammlung zur Kulturgeschichte der Revolutionserinnerung, deren Beiträge auch nicht durch eine längere Einleitung zusammen gehalten werden, sondern ihre Kohärenz im Laufe der Lektüre entfalten sollen.

Wolfgang Schmale leitet mit einem Überblick zur Menschensrechtsdiskussion um 1889 ein und resümiert skeptisch, dass in der Beachtung jener 1789 deklarierten Menschen- und Bürgerrechte das Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts keinen Vorsprung gegenüber anderen europäischen Staaten erreichte, wohl aber durch die Intensität der Memorialkultur Maßstäbe setzte, die in Krisensituationen des darauf folgenden Jahrhunderts einer allzu raschen Aufgabe erreichter Standards einen Riegel vorgeschoben haben mag – Näheres bliebe im Detail zu untersuchen. Almut Franke-Postberg erweitert ihre 1998 verteidigte Dissertation über die Gewährung der so genannten Emigrantenmilliarde während der Restaurationszeit auf die noch immer die Gesellschaft spaltende Diskussion am Jahrhundertende über die Integration der Revolutionsflüchtlinge von Geblüt in die nachrevolutionäre Ordnung.

Die folgenden Beiträge deklinieren die Medien der kulturellen Verständigung durch: das gerade eingeführte Kino, das Theater und die Oper, die Museen und die Büsten im öffentlichen Raum, herausragende Architektur (wie der Eiffelturm) und ihre Rahmung durch die Malerei, die während der Weltausstellung von 1889 ausgestellt wurde. Dies geschieht durchweg quellengestützt und zeigt den bemerkenswerten Stand der deutschen kulturhistorischen Frankreichforschung an. Einziges Manko, das man vielleicht anmerken könnte, bleibt das Fehlen einer Konfrontation solcher exemplarischer Untersuchungen mit seriellen Auswertungen von Zeitungen und/oder Sammlungen von Stichen und Drucken. Auf diese Weise bleibt die Gesamtanlage des Buches auch problematisch pariszentriert bzw. indifferent gegenüber den unterschiedlichen Situierungen im französischen Raum, obwohl sich viele Hinweise zur Aufführungs- und Ausstellungspraxis an verschiedenen Orten in den Aufsätzen finden.

Die Sonden, die auf diese Weise in die kollektive Artikulation gesenkt werden, bringen ein Stimmungsbild zum Vorschein, bei dem die (gebrochen) positive Sicht der Republikaner auf die Revolution keineswegs dominant ist, sondern der royalistische Märtyrerkult seine Bastionen hielt, wenn nicht ausbaute. Von der Durchsetzung eines radikal-republikanischen Geschichtsbildes vor dem Ersten Weltkrieg kann also keine Rede sein.

Die Opfergeschichte der Verlierer von 1789/91 geriet allerdings in wachsenden Widerspruch zum Bedarf nach einer glänzenden nationalen Vergangenheit und einer universellen Mission im Zeitalter imperialistischer Konkurrenz. Die Aussöhnung einer tief gespalteten Nation mit der Revolution, die vielen etwas gegeben und ihre sozialen Folgen in einer Gesellschaft entfaltet hatte, in der nach der Beseitigung des Zensus (bäuerliche) Kleineigentümer die größte Wählergruppe bildeten, verdiente wohl auch genauere sozial- und politikhistorische Betrachtung.

Der vorliegende Band besitzt seine Stärken aber im zeitnahen Nachvollzug der kultur- und kunstgeschichtlichen „Wende“ der französischen Historiografie. Nicht immer gelang dies für den deutschsprachigen Markt mit solcher Geschwindigkeit und Qualität. So kann man die von Gudrun Gersmann und Hubertus Kohle sorgfältig redigierten Bände auch all jenen entgegenhalten, die anhand von Übersetzungen oder von Anmerkungsapparaten populärer Handbücher einen noch immer nicht überwundenen Riss zwischen der französischen und der deutschen humanwissenschaftlichen Forschungslandschaft konstatieren.

Am Ende des vierten Bandes findet sich nicht nur eine Übersicht zu den Inhalten der vorangegangenen Bücher, sondern auch ein kumuliertes Personenregister für alle vier Bände – eine zusätzliche Motivation für den komplettierenden Erwerb, wenn es denn einer solchen bedarf.

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