R. Bohn (Hrsg.): Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen

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Titel
Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945


Herausgeber
Bohn, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Nicht erst seit Sandra Kalnietes Rede auf der Leipziger Buchmesse vom März 2004 ist offenbar geworden, dass das Projekt einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur, dessen Ausgangspunkt sich auf das „Stockholm International Forum on the Holocaust“ vom Januar 2000 und die Ausrufung eines europaweiten „Holocaust Memorial Day“ datieren lässt, mittlerweile in schweres Fahrwasser geraten ist. So sind es nicht nur die Divergenzen zwischen einer vorwiegend in Westeuropa verwurzelten Holocaust-Erinnerung und der in Ostmitteleuropa vorherrschenden Konzentrierung auf stalinistische Verbrechen, die einzelne Kritiker bereits von einer tiefgreifenden Krise transnationaler europäischer Erinnerung sprechen lässt.1 Vielmehr wurden auch grundlegende Zweifel daran laut, ob die Vielfalt an Gedächtniskonstruktionen, die sich sowohl auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene als auch in unterschiedlichen Räumen des Vorpolitischen und Privaten herausgebildet haben, überhaupt in eine übergreifende Matrix eingepasst werden kann. Vereinfacht gesagt, hat die zeithistorische Forschung, die von den erinnerungskulturellen Turbulenzen nicht unberührt blieb, in zweifacher Weise auf jene Herausforderungen reagiert: Zum einen bemühen sich die Historiker schon seit längerem darum, den verstärkt seit Mitte der 1970er-Jahre einsetzenden „Memory boom“ (Jay Winter) zu historisieren. Zum anderen traten, in Auseinandersetzung mit Pierre Noras Konzept nationaler Erinnerungsorte, transnationale Verflechtungsprozesse und Vergleichsperspektiven vermehrt in den Fokus des historiographischen Interesses.

In diesen Kontext lässt sich auch der von Robert Bohn, Christoph Cornelißen und Karl Christian Lammers herausgegebene Sammelband einordnen. Hervorgegangen aus einer 2007 in Kiel veranstalteten Tagung, widmen sich die Autoren der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die – so der Befund des Herausgeberteams in der Einleitung – nicht zuletzt aufgrund der relativ schnell wiederaufgenommenen politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den skandinavischen Ländern weniger Gegenstand gemeinsamer Aufarbeitung als ein „Produkt des Verdrängens, Vergessens und der historischen Unkenntnis“ gewesen sei (S. 8). Die Blindstelle, die der deutsche Angriff auf Dänemark und Norwegen und die nachfolgende Errichtung von Kollaborations- und Besatzungsregimes für mehrere Jahrzehnte verkörperte – aus deutscher Perspektive trifft dies in gewisser Weise bis heute zu – entspricht jedoch nicht der skandinavischen Wahrnehmung des Geschehens. Vielmehr bildeten sich dort unmittelbar nach Kriegsende stabile nationale Meistererzählungen heraus, die einerseits durch dichotomische Gegenüberstellungen von „guten“ Widerstandskämpfern und „bösen“ Kollaborateuren, andererseits durch das „Phänomen einer sektoralen Amnesie“ (S. 9) geprägt gewesen seien. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren habe sich dieses Schwarz-Weiß-Schema allmählich aufgelockert. Zumindest in Norwegen, Schweden und Dänemark hätten sich im Zuge einer kritischeren Geschichtsbetrachtung vermehrt revisionistische Tendenzen bemerkbar gemacht, während lediglich Finnland am moralisch konnotierten Selbstbild eines um nationale Selbstbehauptung ringenden Kleinstaates festgehalten habe.

Mit Ausnahme des Schlussbeitrags von Lammers, der in einer synthetischen Zusammenschau die Entwicklung der deutsch-skandinavischen Beziehungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt, folgen alle Autoren einer Systematik, die sich an den etablierten Konzepten und Methoden einer kulturgeschichtlich informierten Erinnerungsgeschichte orientiert. Neben der Vergangenheits- und Geschichtspolitik werden sowohl der Einfluss historiographischer Deutungsmuster als auch die Bedeutung von Gedenkstätten und Widerstandsmuseen in ihren jeweiligen nationalen Kontexten herausgearbeitet. In einem weiteren Abschnitt geht es zudem um die medialen Repräsentationen des Zweiten Weltkriegs, wobei der Schwerpunkt auf der Literatur und Filmproduktion liegt. In Robert Bohns Aufsatz zu den bundesdeutsch-dänisch-norwegischen Diplomatiebeziehungen tritt der Stellenwert handels- und sicherheitspolitischer Fragen für die fortschreitende zwischenstaatliche Normalisierung hervor. Dies hing zum einen mit der anhaltend großen Bedeutung der Bundesrepublik als Handelspartner und der sich daraus ergebenden raschen Wiederaufnahme geregelter Wirtschaftsbeziehungen zusammen, hatte aber zum anderen auch damit zu tun, dass sich die bundesdeutsche Außenpolitik frühzeitig darum bemühte, den ehemals besetzten Ländern die Vorzüge einer westdeutschen NATO-Mitgliedschaft schmackhaft zu machen. Vor diesem Hintergrund hatten beide Seiten ein starkes Interesse daran, vergangenheitspolitische Probleme – zu nennen sind hier insbesondere die Feindvermögensbestimmung und die Entschädigung ehemaliger KZ- und Polizeihäftlinge – zügig und im gegenseitigen Einvernehmen zu regeln. Bohn hebt in seinem Fazit hervor, dass viele informelle Bereiche des deutsch-skandinavischen Beziehungsgefüges historiographisch noch nicht hinreichend ausgeleuchtet seien und nennt in diesem Zusammenhang die Kontakte zwischen sozialdemokratischen Politikern. Ergänzend hinzuzufügen wäre, dass sicher auch die Rolle einzelner Diplomaten einer genaueren Betrachtung wert wäre – zu erwähnen ist hier vor allem der in Yad Vashem geehrte Georg Ferdinand Duckwitz, der im neuen Auswärtigen Amt zunächst eine Außenseiterposition einnahm, in seiner Funktion als deutscher Botschafter in Kopenhagen aber viel zur Aussöhnung zwischen Dänen und Deutschen beitragen konnte.

Eine ergänzende Perspektive bietet der Beitrag von Michael F. Scholz, der sich mit der ostdeutschen Auslandspropaganda in Nordeuropa vor der UNO-Aufnahme der DDR befasst. Aufgrund der bundesdeutschen Nichtanerkennungspolitik und wegen der besonderen Rahmenbedingungen der DDR-Außenpolitik konnte die DDR gegenüber den skandinavischen Staaten keine klassischen Instrumente der zwischenstaatlichen Diplomatie einsetzen. Nicht zuletzt die engen Beziehungen vieler ostdeutscher Kommunisten zu ihren früheren Exilländern waren dafür ausschlaggebend, dass man gegenüber Dänemark und Norwegen stattdessen eine Politik der offenen und informellen propagandistischen Beeinflussung betrieb, die stark mit Versatzstücken der antifaschistischen Geschichtsmythologie operierte. Scholz liefert nicht nur einen gut informierten Überblick zu den diversen Aktivitäten der DDR-Partei- und Geheimdienstorgane, sondern beschäftigt sich auch mit der – oftmals vernachlässigten – Frage, wie die Propagandainitiativen in den Zielstaaten aufgegriffen und verarbeitet wurden. Interessante Denkanstöße finden sich auch in dem Aufsatz des Erlanger Historikers Alexander Muschik, der sich mit dem schwedischen Selbstbild nach 1945 und den Hintergründen einer weithin ausgebliebenen Vergangenheitsaufarbeitung befasst. Wie Muschik hervorhebt, beruhte das Leitbild schwedischer Neutralität im Zweiten Weltkrieg auf einem parteienübergreifenden Konsens, dessen realgeschichtlicher Gehalt so lange nicht in Frage gestellt wurde, solange die meisten Schweden von den identitätsstiftenden Funktionen dieses Deutungsmusters überzeugt waren. Paradoxerweise bildete diese Sicht auf das deutsch-schwedische Verhältnis auch die Grundlage des im Nachkriegsschweden stark verankerten Sendungsbewusstseins, obschon doch realpolitische Bewertungsmaßstäbe bei dieser Interpretation eindeutig dominierten. Erst in den 1990er-Jahren wurden die moralischen Kosten der schwedischen Neutralitätspolitik verstärkt thematisiert, wobei die Initiative dazu nicht von den professionellen Historikern, sondern vorwiegend von Journalisten und Literaten ausging. Ursache dafür, so Muschik, seien allerdings weniger „hinderliche Aktensperrfristen“ als vielmehr das geschichtspolitische Engagement der schwedischen Regierung gewesen, die versucht habe, das Profil des Landes als „Vorreiter einer transnationalen holocaustbezogenen Erinnerungskultur“ zu stärken (S. 66).

Mit den Langzeitwirkungen idealisierender Selbstbilder und Mythen befasst sich auch der Beitrag von Rolf Hobson, der die Frage untersucht, warum die norwegische Geschichtsschreibung lange Zeit kaum Fortschritte bei der Erforschung einer differenzierten Okkupationsgeschichte erzielte. Dass statische Geschichtsbilder keine Besonderheit der von Deutschland besetzten Länder sind, macht hingegen der Aufsatz von Christoph Cornelißen deutlich. Seine Studie zur Behandlung der „Weserübung“ in der bundesdeutschen Historiographie bekräftigt die Befunde anderer Historiker, der zufolge die kriegskritische Stimmungslage in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit mit dazu beitrug, dass die Militärgeschichtsschreibung zunächst die Domäne einer amtlich kontrollierten Kriegsgeschichte bleiben konnte, die ihre Wurzeln zum Teil noch in der NS-Propaganda hatte.

Der letzte Teil zu den „medialen Repräsentationen“ bietet insofern ein etwas disparates Bild, als sich hier die Gelegenheit geboten hätte, transnationale Verflechtungs- und Anpassungsprozesse anhand praktischer Beispiele zu konkretisieren. Leider zeichnen sich die hier versammelten Beiträge aber überwiegend durch eine nationale Engführung aus. Dabei bleiben die Autoren teilweise hinter aktuellen Forschungsstandards zurück, so etwa Heiko Uecker, der sich eines weitgehend unreflektierten Trauma-Begriffs bedient. Trotz seiner empirischen Dichte – ausgebreitet wird eine große Fülle an Fallbeispielen aus der skandinavischen Filmproduktion – leidet auch der Aufsatz von Martin Moll an theoretisch-methodischen Defiziten. Mit seinen Betrachtungen zur Behandlung des Zweiten Weltkriegs im Spiel- und Dokumentarfilm praktiziert er jene „inhaltistische“ Herangehensweise, die den Eigenwert von Filmen als „Geschichts- und Mythomotoren“ (Thomas Lindenberger/Günter Riederer) vernachlässigt. Doch sollen diese Einwände, die zwar künftig verstärkt berücksichtigt werden sollten, dem ansonsten sehr lesenswerten Gesamtband keinen Abbruch tun.

Anmerkung:
1 Vgl. Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54,2 (2009), S. 81-93.

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