T. Kuehne, B. Ziemann (Hgg.): Was ist Militärgeschichte?

Titel
Was ist Militärgeschichte?.


Herausgeber
Kühne, Thomas; Ziemann, Benjamin
Reihe
Krieg in der Geschichte 6
Erschienen
Paderborn 2000: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Hohrath, Institut für Geschichte, Universität Trier

Militärgeschichte war und ist ein seltsam Ding in Deutschland. Wer in den Achtziger Jahren studierte und gegenüber Kommilitonen oder Hochschullehrern freiherzig Interesse an der Geschichte von Militär und Krieg äußerte, sah sich meistens konfrontiert mit einer Mischung aus Peinlichkeit, Mißtrauen und Neugier. Dies um so mehr, wenn allfällige Schubladen ("Sie sind wohl Offizier?") nicht paßten. "Macht man das jetzt wieder?" lautete eine oft gehörte Frage, und manchem Gesprächspartner fiel dann noch zur Beruhigung ein, daß es in Freiburg so ein "Bundeswehr-Amt" gebe, wo die Angelegenheit doch gut aufgehoben sei. Wer sich dem Thema weiter widmen wollte, tat gut daran, deutlich zu machen, daß es nur darum gehe, im Rahmen von Politik- oder Sozialgeschichte einen wenn auch nicht zentralen, so doch nicht ganz unwesentlichen Faktor mitzuberücksichtigen. Damit sei auf keinen Fall beabsichtigt, sich als "Militärhistoriker" zu betätigen. Seit wenigen Jahren ist alles ganz anders. Jetzt plötzlich ist Militärgeschichte "chic". Mit dem Attribut "modern" versehen, scheint sich der eben noch Rück- und Randständigkeit signalisierende Begriff zu einem prestigeträchtigen und werbewirksamen Label zu verwandeln, das sogar auf Studien geklebt wird, deren Inhalt bisher niemanden auf den Verdacht gebracht hätte, es könne sich um eine militärhistorische Arbeit handeln.

Ein Sammelband, der die Frage stellt, was Militärgeschichte denn eigentlich sei oder sein solle, kann daher nur begrüßt werden. Die meisten seiner Beiträge gehen zurück auf eine gleichnamige Tagung im Herbst 1998 in Bochum. Veranstalter war der auf dem Historikertag in Leipzig 1994 noch zaghaft vorgeschlagene, 1995 in Freiburg gegründete und rasant auf über 300 Mitglieder angewachsene "Arbeitskreis Militärgeschichte e.V.". Die 18 Beiträge des Bandes umkreisen die Frage nach dem Standort der Militärgeschichte von unterschiedlichen Positionen; von den älteren und jüngeren Autorinnen und Autoren sind viele bereits durch eigene Arbeiten zur Militärgeschichte ausgewiesen, einige bemühen sich erst um die Konstruktion einer theoretisch-methodischen Brücke dorthin. Besonders gelobt werden darf vorab, daß die meisten Beiträge tatsächlich nicht nur auf die gemeinsame Frage, sondern auch dialogisch aufeinander bezogen sind, was angesichts der häufigen Buchbindersynthesen für einen Sammelband nicht gerade selbstverständlich ist. Obwohl die Herausgeber mit den Überschriften "I. Instrumentalisierungen, II. Ansätze und Themenfelder, III. Perspektiven, IV. Bilanz" eine Ordnung vorgeben, erlaubt sich der Rezensent, die Aufsätze nach einigen ihm besonders wesentlich erscheinenden Aspekten zu gruppieren.

Worüber sich alle einig sind, ist nicht überraschend:

Erstens, daß Militär und Krieg in der Geschichte allgegenwärtig und von einer weit höheren Bedeutung waren, als dies in den vergangenen Jahrzehnten von den führenden Zweigen der Geschichtswissenschaft wahrgenommen wurde.

Zweitens, daß Militärgeschichte nur als integrierter Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft praktiziert werden kann. Diese Aussagen finden sich praktisch in jedem Aufsatz. So ist es auch das Hauptanliegen einiger Beiträge, die Behandlung von Militär und Krieg für ihre Disziplin (zurück-) zu gewinnen. Wie militärische Fragen mit dem Erkenntnisinteresse und dem neuesten methodischen Werkzeug der etablierten Fachgebiete in neuer Intensität behandelt werden sollten, wird von mehreren Autoren erörtert. Wo Jost Dülffer für die politische Geschichte (127-139) allerdings noch recht problemlose Anschlußstellen ausmacht, müssen Marcus Funck für die Sozialgeschichte (157-174) und Stefanie van de Kerkhof für die Wirtschaftsgeschichte (175-194) feststellen, daß "Militär und Krieg zu den eindeutig vernachlässigten Themenfeldern"(Funck, 157) zu zählen seien. Beiden gelingt es jedoch, entsprechende Neuansätze zu skizzieren und mit einem reichhaltigen Blick auf die doch nicht ganz schmale neuere und neueste Forschung zu unterfüttern. Auch für sich gerade neu etablierende Forschungsrichtungen wird die zentrale Bedeutung des Themas hervorgehoben: Daß die vermeintlich reine Männersache Militär zu den großen Herausforderungen der sich als Speerspitze einer fundamentalen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft verstehenden Geschlechtergeschichte zählt, verdeutlicht Christa Hämmerle in ihrem Beitrag (229-262), der zugleich die Konjunktur dieses Ansatzes mit einer ganzen Masse von Veröffentlichungen der allerletzten Jahre nachweist.

In einem der anregendsten Beiträge des Bandes macht der Techniksoziologe Stefan Kaufmann deutlich, welch völlig unzureichende Aufmerksamkeit bisher dem Problemkomplex des Verhältnisses von Militär und Technik gewidmet wurde(195-209). Dies betrifft die traditionell vor naturwissenschaftlichen Problemen und technischen Artefakten zurückschaudernde Geschichtswissenschaft, aber auch eine Technikgeschichte, die Kriegstechnik ignoriert, und Militärgeschichte, die Technik nur als Mittel betrachtet. So sollten die von ihm abgesteckten Wege zu einer "technikzentrierten Militär- und Kriegsgeschichte", die dem "symbiotischen Verhältnis" von Technik und Militär gerecht wird, Aufmerksamkeit finden. Sehr lesenswert sind auch die Überlegungen von Thomas Mergel zu einem erweiterten Politikbegriff für die Militärgeschichte (141-156), der Politik als "etwas kommunikativ Hergestelltes" begreift und damit das beliebte Konstrukt einer militärischen Irrationalität im Gegensatz zu einem politisch-rationalen Denken auflöst: "Zivilistenmoral hilft nicht weiter, kriegerische Rationalität zu verstehen" (156). Gemeinsam ist den genannten Abhandlungen mit der teilweisen Ausnahme der konstruktiven Beiträge von Kaufmann und Mergel, daß es ihnen mehr um die ohne Zweifel überfällige Integration "militärgeschichtlicher" Themen in vorhandene Forschungszusammenhänge geht als um die Frage nach einer Definition dessen, was die spezifischen Aufgaben der Militärgeschichte als einer eigenständigen Teildisziplin sein könnten.

Eine solche "neue Militärgeschichte" auf dem Markt zu etablieren ist freilich das legitime Ziel des Unternehmens, wie Dieter Langewiesche in seinem geistvollen Kommentar "Kampf um Marktmacht und Gebetsmühlen der Theorie" am Schluß des Bandes anmerkt (323-327); und so wird in der Mehrzahl der Beiträge um die Selbstdefinition dieses Faches gerungen. Dabei spielt "Wissenschaftsgeschichte mit Ausblick in die Zukunft" (323) eine Hauptrolle. Gewiß gehört es zum Gründungsmythos jeder sich als "neu" oder wenigstens erneuert verstehenden Disziplin, die Versäumnisse ihrer Vorgänger zu betonen, doch erscheinen die Probleme der modernen deutschen Militärgeschichtler mit der Vergangenheit ihres Faches schon merkwürdig unverdaut. Wie schon einleitend bemerkt, war die Beschäftigung mit Militärgeschichte in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit schlecht angesehen, was zeithistorisch verständlich ist, und dennoch heute kritisiert und auch bedauert werden darf. Allerdings frappiert das geringe Interesse, diesem simplen Negativbild durch eine differenzierte Sichtweise zu begegnen. Insgesamt muß gesagt werden, daß die Passagen zur Geschichte der Militärgeschichtsschreibung im Verhältnis zu dem sonst beeindruckenden Reflexionsniveau der meisten Beiträge ziemlich leichtgewichtig daherkommen. Allzu holzschnittartig wird die ältere Geschichte des Faches auf die sehr vereinfacht dargestellte anwendungsorientierte ("applikatorische") Kriegsgeschichtsschreibung durch dazu beauftragte Offiziere reduziert. Einzig der Stern Hans Delbrücks, der sich als Zivilist und methodisch innovativer Historiker der Kriegsgeschichte widmete, ja eigentlich schon beinahe Militärgeschichte im modernen Sinn geschrieben habe, leuchtet hier durch die Nacht. Auch die in der NS-Zeit propagierte "Wehrgeschichte" wird zwar mit dem allfälligen Ausdruck des Abscheus mehrfach kurz erwähnt, ohne aber eingehender nach ihrer tatsächlichen Verbreitung, ihren Methoden und Ergebnissen oder ihrer Wirksamkeit über 1945 hinaus zu fragen.

Ausgehend von der bekannten Tatsache, daß Militär- und Kriegsgeschichte schon aufgrund ihres Gegenstands seit jeher im Spannungsfeld politischer Einflüsse und militärischer Prestigewahrung standen, beschreibt Wolfram Wette vor allem die schwierige Entwicklung des Faches in der Bundesrepublik (49-71) mit besonderer kritischer Konzentration auf das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr, dem er selbst 24 Jahre angehörte. Die Konstruktion des MGFA im Spannungsfeld zwischen Forschungsfreiheit und Einbindung als militärische Dienststelle erklärt er letztlich für gescheitert. Jürgen Angelow ergänzt dies durch einen sehr interessanten Blick auf die gleichzeitige Lage des Faches in der DDR (73-89). Hier stand auf jeden Fall das Militärgeschichtliche Institut (MGI) der NVA im Zentrum, das er mit dem Bild von einer "Forschung in ungelüfteten Räumen" kennzeichnet. Betrachtet man den wirklich existentiellen Druck, der hier auf den Forschern lag, relativiert sich die Dramatik des von Wette gezeichneten Bildes ein wenig. Daß das MGFA nach der Wiedervereinigung gegen den Willen der meisten Mitarbeiter nach Potsdam verlegt wurde, während man das MGI restlos abwickelte, ist freilich auch ein Aspekt des Umgangs mit der Geschichte eines Fachgebiets. Letztlich positiver beurteilt Wilhelm Deist die jüngere "Entwicklung der Militärgeschichte in Deutschland" (315-322), wobei er wie Wette große Hoffnungen auf eine neue Generation von Militärhistorikern und -historikerinnen setzt, die nunmehr endlich an Universitäten forschen könnten.

Wesentlich entspannter als bei zeitgeschichtlichen Forschungen, um die es in den meisten Beiträgen geht, konnte es stets bei der Militärgeschichte der Frühen Neuzeit zugehen, wo politischer Druck und öffentliche Erregung allenfalls gering sind, freilich auch die Zahl der einschlägigen Forscher; so kann Bernhard R. Kroener einen recht erfreulichen Forschungsbericht (283-299) bieten, wobei er das Schwergewicht auf neueste sozialhistorische Studien zum Heerwesen vor 1800 legt.

Den Übergang zur Gruppe jener Beiträge, die den Blick nach vorne lenken, um den Ort und die Aufgaben der "neuen" Militärgeschichte zu diskutieren, markiert Gerd Krumeich (91-102). Auch wenn er dem problematischen Mythos über die Geschichte des Faches weitgehend folgt, ja ihm leider hinsichtlich der Geschichte der applikatorischen Methode weitere Unschärfen hinzufügt, sind doch seine Forderungen hinsichtlich eines produktiven Umgangs mit den Ergebnissen der älteren Kriegs- und Militärgeschichtsschreibung hervorzuheben. Eine heutige, bewußt zivile militärgeschichtliche Forschung kann sich nicht mehr auf die kritische "Hinterfragung" von Standortgebundenheit, politischer und militärfachlicher Zielsetzung und Apologetik ihrer Vorgänger zurückziehen, um sich von diesen abzusetzen und die besonders diskreditierten Forschungsfelder ganz zu meiden. Am Beispiel der offiziellen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg wie am Streit über die Wehrmachtsausstellung zeigt Krumeich die Gefahren der "Vernebelung der historischen Kritik durch politisches Engagement"(102). Um sich endlich den Weg in die Kernbereiche der obsoleten fachmilitärischen Kriegsgeschichtsschreibung zu bahnen, müsse sich eine "zivilistische", wissenschaftliche Militärgeschichte auch an eine "nicht-applikatorische, aber sachliche informierte Operationsgeschichte" (101) wagen.

Die mehrfach erhobene Forderung danach, dem Kriegsgeschehen und einzelnen militärischen Aktionen wieder den gebührenden Platz einzuräumen, ist der vielleicht wichtigste Befund des Bandes. Von "Kriegsgeschichte" soll aber nicht mehr die Rede sein. Die Frage nach den militärischen Ereignissen und Abläufen im Krieg ist ja bisher als erledigter Fall angesehen worden, als überlebte Tradition der alten Kriegsgeschichtsschreibung, von der sich die Militärgeschichte der letzten Jahrzehnte am liebsten fernhielt. Daß eine entscheidende Dimension der Geschichte verloren geht, wenn so getan wird, als hätten militärische Siege und Niederlagen letztlich keine Bedeutung für den Fortgang des Weltgeschehens und nicht zuletzt für das Schicksal von ungezählten Menschen, scheint geradezu eine Neuentdeckung zu sein. Am lautesten ruft Bernd Wegner nach einer "neuen Operationsgeschichte" (105-113), nicht ohne freilich deren methodische Problematik zu verdeutlichen. Daß sie mit einer historisch-kritischen Perspektive arbeiten und sich ganz bewußt von unhistorischen, professionell militärischen Denkstrukturen entfernen muß, scheint selbstverständlich. Ob freilich die Idealforderung einer "methodischen und methodologischen Neuorientierung", für die bisher leider "alle Voraussetzungen" fehlten (113), in der Forschungspraxis mittelfristig weiterhilft, mag bezweifelt werden.

Hier macht eher der gelassene Pragmatismus des amerikanischen Militärhistorikers Dennis E. Showalter Mut (115-126), der von einer im angelsächsischen Raum florierenden "neuen new military history" berichtet, die etwa sozialhistorische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte ganz selbstverständlich mit einer historischen Analyse von Feldzügen, Schlachten und Belagerungen verbinde. Daß sie dabei auf methodologische Diskussionen gleich ganz verzichte (125), wie Showalter pointiert hervorhebt, ist gewiß nicht unproblematisch, obwohl eine gewisse Portion von praktischem Historismus in der Tat wesentlich ergiebiger scheint als das endlose Drehen an den "Gebetsmühlen der Theorie" (Langewiesche, 323).

Zu einfach sollte man es sich allerdings auch nicht machen, droht doch gerade in der Militärgeschichte oft ein Zuviel an 'gesundem Menschenverstand'. Bei vergleichender Betrachtung längerer Zeiträume geraten auch Historiker in Gefahr, sich auf die Suche nach ewigen "Principles of War" zu machen, was für eine als anwendungsorientierte Kriegswissenschaft verstandene Geschichtsschreibung von konstitutiver Bedeutung war und demgemäß eine das Fach prägende Wirkung entfaltet hat, aber einer historischen Sichtweise widersprechen muß. Ein historisches Verstehen kriegerischer Vorgänge erfordert durchaus ein besonders hohes Maß an kritischer Reflexion über Quellen und Methoden.

Auch wenn die Frage nach einer neuen "Operationsgeschichte" im Band nur als Teilaspekt behandelt wird, liegt meines Erachtens hier ein entscheidender Punkt für die Selbstdefinition des Faches Militärgeschichte. Leider ist schon der Begriff der "Operationsgeschichte" nicht eben glücklich, zumal er eigentlich auf eine viel zu begrenzte Ebene von kriegerischen Handlungen verweist. Doch soll hier nicht die letztlich unfruchtbare Begriffsdiskussion fortgeführt werden. Jedenfalls handelt es sich bei der Operationsgeschichte als Geschichte der Kriegführung oder der kriegerischen Ereignisse und Aktionen schon deswegen um einen Dreh- und Angelpunkt für die Militärgeschichte, weil dieser Bereich von allen benachbarten Teildisziplinen, die sich mit dem Krieg oder dem Militär beschäftigen können, am weitesten entfernt liegt. Anders ausgedrückt, für ihre Probleme liegen dort keine passenden modernen Theorieangebote und methodischen Werkzeugkästen bereit, wie dies etwa für eine Sozialgeschichte des Militärs als gesellschaftlicher Gruppe und viele andere Bereiche gilt. Militärgeschichte als integrierte Teildisziplin wird sich also gerade da bewähren müssen, wo marschiert und desertiert, gelagert und gehungert, geplant und befohlen, getötet und gestorben wurde.

Die Problematik einer "gemeinsamen Basis" der modernen Militärgeschichte wird einmal mehr in dem lesenswerten Beitrag von Stig Förster deutlich (265-281). Försters wichtige Feststellung, Krieg sei "der unterschwellige Fixpunkt" für jedes Verständnis von Militärgeschichte, läßt ihn einen für manche überraschenden, aber gewiß bedenkenswerten Weg weisen, indem er zur Rückbesinnung auf Clausewitz aufruft. Nun standen praktische Fragen der Kriegführung bei Clausewitz durchaus im Zentrum, doch ging er in seinen historischen Analysen weit darüber hinaus, indem er den eminent politischen Charakter des Krieges konstatierte und theoretisch begründete. Bei dem preußischen Kriegstheoretiker findet Förster bereits die wesentlichen Prinzipien einer modernen Militärgeschichte, die sich stets auch als Teil einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte sehen müsse. Hier könnte auch der von Mergel (s.o.) vorgeschlagene Politikbegriff Anwendung finden. Letztlich weicht Förster freilich vor den praktischen Herausforderungen aus, die von einer neuen Kriegsgeschichte im postulierten Clausewitzschen Sinne ausgehen müssten. Niemand wird der Aussage widersprechen, daß "reine isolierte Militärgeschichtsschreibung zu einem Unding geworden" (280) ist; wenn man aber den Stellenwert der Operationsgeschichte neben der umfassenden Aufarbeitung "wirtschafts-, sozial- und politikhistorischer" Gesamtzusammenhänge wieder allzu weit schrumpfen läßt, gehen auch Erkenntnischancen verloren, die eine Spezialdisziplin bieten kann.

So wirkt auch die These von Roger Chickering, Militärgeschichte müsse "im Zeitalter des totalen Krieges" zur "Totalgeschichte" werden (301-312), auf den ersten Blick überzeugend, wobei nur seine Beschränkung auf die Zeitgeschichte grundsätzlich nicht schlüssig ist. Allerdings steht auch hier die Militärgeschichte vor dem Dilemma, zwar einerseits die entscheidende Perspektive zu liefern, wie Chickering noch einmal betont: "Der Militärgeschichte geht es um Krieg" (311), andererseits aber in der Fülle der zu untersuchenden Phänomene unkenntlich zu werden. Dieses Dilemmas ist sich auch Anne Lipp bewußt, deren sehr gedankenreicher Beitrag "Militärgeschichte als Kulturgeschichte" thematisiert (211-227). Es erscheint unzweifelhaft, daß in der Öffnung zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen und der damit verbundenen Methodenvielfalt große Potentiale auch für das Verständnis des Militärs und seiner Akteure und ebenso des Krieges in seinen verschiedensten Erscheinungsformen liegen. Daß auch hier die Frage entsteht, ob und wo eine Militärgeschichte, die sich gerade erst wieder neu definieren will, Grenzen ziehen muß und wo ihr Kernbereich liegen soll, bedarf keiner weiteren Erörterung.

Der sehr dichte und zugleich umfangreiche Einleitungsaufsatz der Herausgeber Thomas Kühne und Benjamin Ziemann (9-46) versucht alle im Band vertretenen Aspekte zu umgreifen, was im Bekenntnis zur Vielfalt der Ansätze und Methoden zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig bemühen sich die Autoren in sehr reflektierter Weise um Standortbestimmung und theoretische Begründung einer künftigen Militärgeschichte. Ob und bis zu welchem Punkt allerdings die Befriedigung der "sprichwörtlichen Theoriebedürftigkeit" der Militärgeschichte das entscheidende Problem darstellt, und ob eine "historische Soziologie organisierter Gewaltverhältnisse"(43) die Lösung bieten kann, mag auch anders beantwortet werden; der Rezensent bleibt hier doch skeptisch.

Die von Kühne und Ziemann angefügte Auswahlbibliographie (331-356) erhöht den Wert des Bandes noch zusätzlich. Auch die formale Leistung von Herausgebern und Verlag verdient heutzutage extra gerühmt zu werden, wo redaktionelle Sorgfalt und stimmige Gestaltung immer seltener geworden sind. So ist das Gesamturteil über den vorliegenden Sammelband unbedingt positiv; er bietet eine Fülle von Ansätzen und bedenkenswerten Überlegungen, weit mehr als eine Rezension wiedergeben kann. Insofern beinhaltet er eine ganze Menge von Antworten auf die Frage, was Militärgeschichte ist; daß manche Aspekte sehr in den Vordergrund treten, andere dagegen unterbelichtet bleiben, mag unvermeidlich sein. So wirken die spezifischen Probleme aus der Erforschung der Weltkriege und Genozide als den zentralen Katastrophen des 20. Jahrhunderts durchaus erdrückend auf Fragestellungen, die jene Epoche überschreiten.

Dieser zeitgeschichtliche Schwerpunkt des Bandes reflektiert freilich auch, wo ein wichtiger Teil der Wurzeln für den neuen Boom der Militärgeschichte liegt, und daß er eine mehr denn je politische Dimension hat. Die Wehrmachtsausstellung wird nicht von ungefähr in mehreren Beiträgen erwähnt. Offenbar sitzt das Bedürfnis nach einer besonderen Legitimation für die Beschäftigung mit Militärgeschichte tief. Dies zeigt sich in dem bereits kritisierten Bild von der Geschichte des Faches, vor dem sich das Selbstkonstrukt einer jungen, methodisch wie moralisch geläuterten Militärgeschichtsforschung erhebt, was allemal mißtrauisch stimmen muß. Auch der von vielen der Autoren extra hervorgehobene Anspruch, mit den Ergebnissen ihrer historischen Forschungen unmittelbar friedensfördernd zu wirken, zeigt deutlich, daß Militärgeschichte in Deutschland sich immer noch sehr schwer tut, eine 'normale' Teildisziplin der Geschichtswissenschaft zu werden.

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