T. Nutz: Die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit der Aufklärung

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Titel
"Varietäten des Menschengeschlechts". Die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit der Aufklärung


Autor(en)
Nutz, Thomas
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Herrnstadt, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main und Laurens Schlicht, Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung, Universtität Jena

Die Monographie von Thomas Nutz versteht sich als Beitrag zur Erforschung der Grundlagen der Humanwissenschaften im 18. Jahrhundert. Einen Zugang zu den einschlägigen Wissensfeldern will Nutz anhand der seiner Meinung nach noch weitgehend unbeachteten Diskurs-„Konstellationen“ erschließen, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts um die Frage nach der Verschiedenheit bzw. den Varietäten der menschlichen Gattung drehten. Sein Anspruch ist es, auf diesem Weg „das gesamte Feld der Diskurse über den Menschen im 18. Jahrhundert zu vermessen und zu versuchen, einzelne prägende diskursive Formationen auszumachen und ihre Grenze zu bestimmen“ (S. 38). Hierfür zeichnet er zunächst die verschiedenen konkurrierenden Wissensfelder diskursanalytisch nach, um dann in einem zweiten Schritt mithilfe der „Laborstudien“ Bruno Latours und Karin Knorr-Cetinas deren jeweilige materielle Praktiken der Wissensproduktion kenntlich zu machen.1

Dementsprechend werden zuerst die Diskursformationen untersucht, die sich zwischen den großen Disziplinen wie Medizin, Geschichte, Geographie und Naturgeschichte bildeten und den „ganzen Menschen“ thematisierten (I. Diskurskartographie). Sodann werden die Systematisierung und Erklärung dieser neuen deskriptiven Vielfalt am Beispiel der konkurrierenden Ordnungsmodelle beschrieben (II. Ordnungssysteme). Im dritten Schritt werden in umgekehrter Richtung die Praktiken der Produktion und Legitimation dieser Wissensordnungen im Einzelnen erörtert (III. Wissensproduktion).

Im ersten Teil werden kursorisch die verschiedenen Wissensfelder betrachtet, die sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der „menschlichen Gattung“ befassten. Nutz geht es darum, in den Zwischenräumen der den Diskurs beherrschenden Makrodisziplinen die Formierung neuer Diskurse über den „ganzen Menschen“ nachzuzeichnen. Auf diese Weise soll die Vorstellung der „Anthropologie“ als einheitliche und umfassende „Wissenschaft vom Menschen“, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts proklamiert wurde, problematisiert werden (S. 92). Nutz betrachtet die Kämpfe um eine einheitliche Definition der Anthropologie als eine Auseinandersetzung um die Verschiebung bestehender disziplinärer Grenzen. In der Formierung der ‚Naturgeschichte des Menschen’ wird eine exemplarische Entwicklung erkannt, die ein festes System physischer Differenzen im Transfer zoologischer und botanischer Klassifikationsmodelle auf den wissenschaftlichen Gegenstand Mensch etablierte (S. 110). Sie habe modellbildend auf die Entwicklung der humanwissenschaftlichen Disziplinen gewirkt. Demgegenüber habe die ‚Menschheitsgeschichte’ ihren zentralen Gegenstandsbereich anhand der Bedürfnisse und Subsistenzformen der verschiedenen Völker entfaltet. Ihr empirisches Datenmaterial wurde durch verschiedene, der Naturgeschichte entnommenen Entwicklungsmodelle geordnet (linearer Fortschritt, linearer Rückschritt, Zyklus), die Nutz kursorisch am Beispiel verschiedener Autoren (unter anderen Jean-Jacques Rousseau, August Ludwig Schlözer, Isaak Iselin, Cornelis de Pauw) illustriert.

Im zweiten Teil geht Nutz im Einzelnen sowohl auf die durch die Naturgeschichte (Carl von Linné, Georges Louis Leclerc de Buffon) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten natürlichen Differenzen innerhalb der menschlichen Gattung (genus) als auch auf die im gleichen Zeitraum von der Menschheitsgeschichte verzeichneten kulturellen Differenzen zwischen den Völkern ein. In naturgeschichtlicher Perspektive standen die physischen Differenzen von Mensch und Tier (Sprache, aufrechter Gang, Perfektibilität), die Dynamisierung des „Art“-Begriffs (species) als „Fortpflanzungsgemeinschaft“, die Interpretation der Unterschiede zwischen den Menschen als „Varietäten“ innerhalb ein und derselben Art sowie die Entwicklung des „Race“-Begriffs als erbliche Varietät im Vordergrund. In diesem Zusammenhang arbeitet Nutz vier Ordnungsmodelle heraus, mit denen menschliche Vielfalt systematisch erfasst wurde (Tableau, Kette, Baum, Karte). Neben diese ‚natürlichen’ Differenzen unter den Menschen trat die Systematisierung kultureller Differenz durch die Menschheitsgeschichte. Bei der Erklärung verschiedener kultureller Erscheinungsformen lösten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Unterschiede in der Subsistenzweise die klimatischen Bedingungen als „primäre Ursache der Differenz“ ab. Diese seien, so Nutz, zur Grundlage eines „totalen Systems der Beschreibung, Klassifizierung und Erklärung“ (S. 148) geworden. Dabei habe es die Einführung des Zeitindex ermöglicht, die Gesamtheit der verschiedenen Kulturformen als Stufen innerhalb einer historischen Zeit zu erkennen. Wie bei der Betrachtung der Naturgeschichte zeige sich hier, in welcher Weise die Verwendung „primitiver Kulturen als Ersatz für fehlende Quellen der Frühgeschichte der Menschheit“ (S. 180) eine sozio-historische Hierarchie eingesetzt habe, die als gleichursprünglich mit der Entstehung der Anthropologie selbst angesehen werden müsse.

Im dritten und längsten Teil steht das prekäre Verhältnis zwischen Beobachtung (Autopsie) und beglaubigtem Wissen im Vordergrund, das insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis des empirischen Materials der Reiseberichte (Mobilie-Texte) und „Humanpräparate“ (Mobilie-Objekte) zu den Genres ‚Menschheitsgeschichte’ und ‚Naturgeschichte des Menschen’ untersucht wird. Sowohl Bibliotheken als auch Sammlungen von Naturalien und ‚ethnologischen’ Artefakten werden von Nutz – auf die Forschungen von Latour und Knorr-Cetina referierend – als Laboratorien der Fabrikation von Wissen über menschliche Varietäten aufgefasst. Anhand jener beweglicher Datenträger, die von der Peripherie ins Zentrum transportiert wurden (Reisenotizen, Tagebücher, Artefakte etc.pp.), skizziert Nutz die Generierung anerkannten Wissens über die menschlichen Varietäten als das Produkt eines Prozesses der „Verdichtung“, „Autorisierung“ und „Beglaubigung“ des Beobachtungsmaterials. In Bezug auf die Texte bietet Nutz eine Typologie von sieben Vermittlungsstufen an, welche ein Text von der Feldnotiz bis in die Publikation über die „Varietäten des Menschengeschlechts“ hinein durchlaufe. Höhere Verdichtung der Information beruhe, so Nutz, auf einer fortschreitenden Abstraktion vom Augenzeugenbericht (Autopsie).

In einem zweiten Schritt wird die Funktion von Objekten für die Wissensproduktion betrachtet. Den „entscheidenden Paradigmenwechsel“ (S. 257) in Hinblick auf die Untersuchung der Varietäten des Menschengeschlechts sieht Nutz in der Schädelsammlung Johann Friedrich Blumenbachs, da sie den Transfer einer naturhistorischen Sammlungs- und Objektpraxis in den Gegenstandsbereich der physischen Differenzen unter den Menschen bedeutet habe. Was sich mit Blumenbach auf der Seite der Naturgeschichte des Menschen durchsetzte, versucht Nutz analog für den Bereich der Geschichte der Menschheit anhand der von Johann Reinhold Forster auf den Weltumsegelungen mit James Cook angesammelten Artefakte nachzuzeichnen. Die neue heuristische Bedeutung des natürlichen und kulturellen Wissensobjekts, die sich im „Akademischen Museum“ in Göttingen sowie im „Muséum d'histoire naturelle“ und „Muséum des Antiques“ in Paris institutionalisiert habe, sei zur Grundlage der Formierung der humanwissenschaftlichen Disziplinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geworden (S. 295).

Die Studie von Nutz zeichnet verschiedene Diskurse über den Menschen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und setzt sie zu einander in Beziehung. Dem an der Vorgeschichte der Anthropologie Interessierten kann sie daher ein hilfreicher Führer durch eine Vielzahl von Schriften der unterschiedlichen Genres sein. Für die Forschung scheint die Arbeit jedoch aufgrund einer Reihe von Schwachstellen nur eingeschränkt anschlussfähig. So untersucht Nutz in seiner Studie nahezu ausschließlich publizierte Schriften und bringt kein neues Korpus von Quellen ins Spiel. Er bezieht sich auf eine bestimmte Form einheitlicher Aufklärungsgeschichtsschreibung (Georges Gusdorf, Sergio Moravia), deren grundlegendes Thema die Überwindung der Leib-Seele Dichotomie darstellt, ohne auf den in den letzten Jahren durch verschiedene Autoren (unter anderen Jean-Luc Chappey, David Bindman, Jonathan Israel, J. G. A. Pocock) vertretenen Gedanken einer Pluralität von Aufklärungen einzugehen. Auffällig ist zudem, dass sowohl die heuristischen Instrumente der Diskursanalyse wie auch diejenigen der „Laborstudien“ als neutrale Forschungsdispositive auftreten, die es Nutz ermöglichen, einen quasi-objektiven Zugang zur Geschichte der Humanwissenschaften zu restituieren. Damit ist symptomatisch das grundlegende Missverhältnis von Material und Methode verbunden. An manchen Stellen der Arbeit drängt sich dem Leser die Frage auf, ob die verwendeten Methoden wirklich dazu dienen sollen, neue Fragen an und Perspektiven auf das Material zu ermöglichen, oder ob das Material bloß zur Illustration des Methodenapparats herangezogen wird.

Trotz dieser unreflektierten methodologischen Probleme kann Nutz' Arbeit in den Abschnitten, die sich intensiver mit der Ordnung seines Materials auseinandersetzen, überzeugen. Vor allem der von ihm herausgearbeitete dynamische Charakter der auf den Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts produzierten Texte und versammelten Artefakte sowie des Prozesses ihrer Verarbeitung und Verdichtung als Grundlage der Generierung anthropologischen und historischen Wissens bildet eine aussichtsreiche Perspektive für die Erforschung der Geschichte der Humanwissenschaften. Für die hierzu bislang ausstehenden wissenschafts- und wissenshistorischen Fallstudien kann vorliegende Studie nützliche Impulse geben.

Anmerkung:
1 Bruno Latour, Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979; ders., Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Milton Keynes 1987; Karin Knorr-Cetina, Laborstudien. Der kultursoziologische Ansatz der Wissenschaftsforschung, in: Renate Martinsen (Hrsg.), Das Auge der Wissenschaft. Zur Emergenz von Realität, Baden-Baden 1995, S. 101-135; dies., Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main 2002.

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