Titel
Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Schildt, Axel; Siegfried, Detlef
Erschienen
München 2009: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
696 S., s/w-Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Endlich eine neue Kulturgeschichte der Bundesrepublik! Axel Schildt und Detlef Siegfried haben bereits in einer Vielzahl wichtiger Studien zur Sozial- und Bewusstseinsgeschichte Westdeutschlands während der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte gezeigt, wie Entwicklungen der Alltags-, Freizeit- und Populärkultur zu integrieren sind; nun liegt aus ihrer Feder eine Gesamtdarstellung „von 1945 bis zur Gegenwart" vor (und die Gegenwart reicht wirklich bis ins Jahr 2009!). Die chronologische Gliederung folgt insgesamt eingeführten zeitgeschichtlichen Periodisierungen und macht die Akzente der Autoren deutlich: „Nach dem Krieg: Zäsuren, Aufbrüche und Kontinuitäten 1945-1949"; „Kultur im Wiederaufbau – die Gründerjahre der Bundesrepublik 1949/50-1957"; „Kultur in dynamischen Zeiten 1957/58-1965"; „Kultur in der Transformationsgesellschaft 1966-1973"; „Kultur in der Zivilgesellschaft 1974-1982"; „Kultur der Selbstanerkennung 1983-1990"; „Kultur zwischen deutscher Einheit und Globalisierung 1990 bis zur Gegenwart".

Die Autoren sind vor allem interessiert daran, was traditionelle und populäre Künste zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beitrugen und wie Veränderungen alltäglicher Lebensführung an sozialem Wandel beteiligt waren. Dabei schreiben sie keine Erfolgsstory, sondern eher eine Geschichte anhaltender Auseinandersetzung um gesellschaftliche und politische Richtungsentscheidungen und um die praktische wie mentale Bewältigung der Herausforderungen, die Schlagworte wie Konsum- und Freizeitgesellschaft, Wissensgesellschaft, Medialisierung, Individualisierung und Teilhabeanspruch, Ökonomisierung und Globalisierung andeuten. Besonderes Augenmerk widmen sie der Ausbildung und Bewährung demokratischer Einstellungen und Problembearbeitungsmuster in der bundesdeutschen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der ausgesprochen kräftig gezeichneten nationalsozialistisch-autoritären Erblasten des westdeutschen Gemeinwesens ergibt sich dann, dass das Land eine recht ordentliche Fähigkeit zur „Akzeptanz von Differenz und Konflikt" gezeigt habe: kein „Wunder", kein „Modell", aber doch eine Gesellschaft, deren politischer Kultur die Autoren zutrauen, auch künftig „die Auseinandersetzung über die Zulässigkeit des Andersseins" (S. 555) offen zu führen.

Jeder historische Abschnitt hat drei Teile. Unter dem Stichwort Alltag werden Grundstrukturen der Lebensweise (überwiegend anhand statistischer, sozialwissenschaftlicher und demoskopischer Daten) nachgezeichnet: Beschäftigung, Konsum, Freizeit, Familien- und Geschlechterverhältnisse, Jugend- und Subkulturen, Massenmedien und Populärkultur, Migration. Abschnitte zur „Kultur des Politischen" stellen wesentliche gesellschaftliche Debatten dar und verfolgen an den Auseinandersetzungen, wie sich die bundesdeutsche Selbstverständigung entfaltete. Die Unterkapitel zu den Künsten schließlich skizzieren Entwicklungen vor allem in Literatur und Bildender Kunst, Film und Museen, Architektur und Design.

Wie positioniert sich nun die neue Kulturgeschichte neben den vorliegenden Überblicksdarstellungen von Hermand und Glaser?1 Sie teilt das Engagement für Künste und Intellektuelle, die sich einmischen, und die aufklärerisch-kritische Grundhaltung gegenüber politischen und ökonomischen Verhältnissen, in denen es die Räume für eine vielstimmige, nicht marktgängige und herausfordernde Kultur immer wieder zu sichern gelte. In der Einbeziehung grundlegender gesellschaftspolitischer Haltungen und Debatten der Bürgerschaft steht sie durchaus nahe bei Glaser, ebenso in der Berücksichtigung deutsch-deutscher Kulturbeziehungen bei allenfalls punktuellem Eingehen auf spezifische DDR-Entwicklungen. Selbstbewusst und souverän kartieren Schildt und Siegfried die Kulturlandschaft nach der Vereinigung; hier bieten sie deutlich mehr als Glaser. Entgegen der starken These von Ost und West als „getrennten Teilkulturen", die unter dem „gemeinsamen Medienhimmel [...] nur begrenzt Schnittflächen aufwiesen" (S. 474), werden allerdings weithin übergreifende Trends skizziert, in denen die hypostasierte Nach-DDR-Kultur kein Profil gewinnt.

Die besondere Leistung der neuen Darstellung geht jedoch über die Einbeziehung jüngster Entwicklungen wie des Lebens mit dem und im Internet und des mobilen Zugriffs auf dessen kulturelle Ressourcen und Kommunikationsformen weit hinaus. Sie liegt in der breiten, zutiefst soliden und sozialwissenschaftlich hoch kompetenten Entfaltung der Basisprozesse in Alltag und politischer Kultur. Hier verbinden sich souveräne Vermittlung von Fakten, synthetisierende Verknüpfung des Materials mit großen Linien des gesellschaftlichen Wandels sowie deutliche (wenngleich moderat vorgetragene) Bewertungen. Das liest sich absolut flüssig und funktioniert gleichermaßen als Nachschlagewerk wie als historische Darstellung, deren Akzente der zeitgeschichtlichen Forschung jede Menge Anregungen geben. Ob die These von der „Selbstanerkennung" als neuer Qualität des Verhältnisses der Westdeutschen zu ihrem Land in den 1980er-Jahren oder die Lesart, dass die in diesem Jahrzehnt breit wirksam werdenden erlebnis- und genussorientierten Subjektivitätsmuster wesentlich auf die Gegenkultur der späten 1960er-Jahre zurückgingen – hier findet sich viel Stoff für produktive Diskussionen.

Relativ nahe bei den vorliegenden Darstellungen liegt die neue Geschichte allerdings auch in ihren ästhetischen Maßstäben. Aus der Perspektive des Populärkulturhistorikers formuliert: Der Blick auf die von der Bevölkerung präferierten Bereiche der ästhetischen Erfahrung, auf Massenkünste, Unterhaltung und Vergnügung, ist bestimmt von recht konventionellen Erwartungen an „künstlerische Eigenständigkeit" bei der „realistischen und analytischen" Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen (S. 544-546). Marktgängigkeit scheint immer noch suspekt, und der Blick auf breitenwirksame Medien- und Unterhaltungsformate bleibt ausgesprochen selektiv und durchgängig ideologiekritisch; was die Populärkulturforschung an Praktiken, Kompetenzen und eigensinnigen Realitätsbezügen des Publikums herausgearbeitet hat, kommt kaum ins Bild. Dass eine „Flut von Heftchenromanen und Comics den Markt mit serialisierten Angeboten" überschwemmte (S. 114) – solche Aussagen sind weder sprachlich noch analytisch auf der Höhe der Zeit. Und dass die Heimatfilme der 1950er-Jahre „eine heile Welt" zeigten und „durchgängig konservative Wertvorstellungen transportierten" (S. 119) – diese Sicht hat die Forschung inzwischen erheblich relativiert und differenziert.2

Unbefriedigend ist auch der Umgang mit der (abstrakt durchaus herausgehobenen) kulturellen Globalisierung. So stellen die Autoren ironisch distanziert fest, rund 80 Prozent „des im Kino genossenen Kulturguts" seien in den 1990er-Jahren „aus Hollywood" gekommen (S. 544), gehen dann aber nur auf die einheimische Filmproduktion ein. Kann man heute mit einer solchen nationalen Einschränkung arbeiten? Deutsche Kulturgeschichte der jüngsten Zeit ohne die hiesige Beschäftigung mit „Sex and the City"?

Die Fragen ändern nichts daran, dass interessierte Laien wie Fachhistoriker die Darstellung von Schildt und Siegfried auf absehbare Zeit als Referenzwerk heranziehen werden. Sie setzt Standards insbesondere im Blick auf Basisprozesse in Alltag und Freizeit, Konsum und Mediennutzung, sie verfolgt konzentriert die zentralen gesellschaftspolitischen Debatten wie die dahinter liegenden weltanschaulichen Lager und Einstellung(swandlung)en. Schließlich liefert sie einen pointierten, aber nicht willkürlichen Überblick über die Entwicklung in wichtigen Feldern der etablierten Künste. Ein geographisches und ein Personenregister erschließen den Band, die verwendete Literatur muss man leider in den Anmerkungen suchen. Unvermeidliche kleinere Fehler („form follows function" wurde so von Louis Sullivan formuliert, nicht von Adolf Loos (S. 176); der deutsche Sprinter Armin Hary schrieb sich mit einem r (S. 204)) ändern nichts an der Verlässlichkeit des Werks. Die Schwarzweiß-Abbildungen sind insgesamt gut gewählt und kommentiert, vor allem visuell unverbraucht.

Nun liegt also eine kluge und anregende Kulturgeschichte der Bundesrepublik aus zeitgeschichtlicher Perspektive vor. Es wäre zu wünschen, dass die darin gezogenen Linien die Arbeit an komplementären Darstellungen der DDR- und der Populärkultur als Phänomenen eigener Logik und eigenen ästhetischen Rechts stimulieren.

Anmerkungen:
1 Jost Hermand, Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, München 1986; Ders.: Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965-1985, München 1986; Hermann Glaser, Deutsche Kultur 1945-2000, München 1997.
2 So argumentieren übrigens auch einige der von den Autoren selbst angeführten Studien. Vgl. zum aktuellen Forschungsstand Johannes von Moltke, No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema, Berkeley 2005.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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