G. Dinhobl: Bahnbrechend zum „Culturpflug unserer Zeit“

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Titel
Bahnbrechend zum „Culturpflug“ unserer Zeit. Kulturwissenschaftliche Zugänge zur Eisenbahngeschichte


Autor(en)
Dinhobl, Günter
Reihe
Innovationsmuster in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte Bd. 4
Erschienen
Innsbruck 2009: StudienVerlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 24,90-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Graz

Günter Dinhobl hat für das vorliegende Werk seine Dissertation an der Universität Wien mit der Absicht, eine kulturwissenschaftliche Zugangsweise zu einem technischen Thema in den herrschenden wissenschaftlichen Diskurs einzubringen, zum Ausgangspunkt genommen. Für diese Vorgangsweise erscheint die Persönlichkeit des Autors überaus geeignet, ist er als Physiker doch dafür prädestiniert, die naturwissenschaftlichen Fakten und empirischen Vorgangsweisen mit jenen der Kulturwissenschaft und Geisteswissenschaft, über die er als Historiker gleichfalls verfügt, zu vereinen. Nicht zuletzt trägt er seinen persönlichen Standpunkt zum wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der nationalen wie internationalen Scientific Community auf zwei Ebenen bei – nämlich durch sein Wirken als Wissenschaftler, sowie durch seine berufliche Praxis bei den Österreichischen Bundesbahnen.

Die traditionellen Publikationen zur Thematik Eisenbahnwesen und Schienenverkehr sind in der Tat zahlreich, doch zählen viele weniger zum wissenschaftlichen Sektor als zur Information interessierter Laien. Bei den wissenschaftlich orientierten Veröffentlichungen zum Thema Eisenbahn dominieren wirtschaftshistorische und technikgeschichtliche Zugänge, auch die Biographie ist nicht selten vorzufinden. Eine Fundquelle für Historiker/innen ist in mancherlei Hinsicht allerdings nach wie vor die mehrbändige „Geschichte der Eisenbahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“, in welcher sich umfangreiche Beiträge zur Entwicklung des Eisenbahnwesens in Österreich finden.1 Von den traditionellen technisch-historischen Publikationen der jüngeren Zeit besonders hervorgehoben zu werden verdienen die Monographien von Adolph Giesl-Gieslingen, der als Lokomotivkonstrukteur wie als Wissenschaftler Funktion und Konstruktion des Eisenbahnwesens, sowie in erster Linie des nationalen und internationalen Lokomotivbaues, in sehr diffiziler Art zu vermitteln versteht.2 Werden dem lesenden Publikum wie den wissenschaftlich Interessierten Fakten wie Planung, Entstehungsgeschichte, Baugeschichte und Entwicklung der Eisenbahnfahrzeuge durch diese herkömmliche Art der Geschichtsschreibung als Sozial-, Wirtschafts- oder Technikgeschichte näher gebracht, finden sich die Bereiche Eisenbahn und Schienenverkehr erst relativ spät als Themen der Kulturgeschichte. Es mag den zeitgenössischen Historikerinnen und Historikern durchaus verwunderlich erscheinen, dass selbst ein so komplexes und länderübergreifendes System wie jenes der Eisenbahnen, das sozusagen vollkommen der Aufklärung verpflichtet scheint, unter den Prämissen der politischen Romantik in nationalen Kategorien behandelt wurde. So befremdet es, dass man spezifische Details, etwa die Ausbildung des Oberbaues oder technische Details der Lokomotiven, in der Literatur mit nationalstaatlichem Vokabular verband – änderten diese marginalen Besonderheiten doch in keiner Weise auch nur eine Kleinigkeit zum Beispiel etwas an der Wirkungsweise einer Dampfmaschine oder dem Heizwert der Steinkohle. Man sprach vor dem Hintergrund nationaler Differenzierung beispielsweise vom „belgischen Oberbau“ oder der „französischen Lokomotive“. Auch das Interesse der Historiker erscheint hier die längste Zeit mit nationalstaatlichen Kriterien verknüpft, es wurden etwa im Rahmen vergleichender Untersuchungen im Bereich der Verkehrsgeschichte primär die nationalen Unterschiede herangezogen, die übernationalen und systemübergreifenden Prämissen, von denen das internationale Eisenbahnsystem in seiner Funktionsweise ja zur Gänze abhängig ist, jedoch unberücksichtigt gelassen (siehe S. 27).

Günter Dinhobels Intention ist es, in wissenschaftlicher Hinsicht Technikgeschichte als Kulturgeschichte zu betreiben. Der naturwissenschaftliche Ansatz setzt demnach Technik mit einem rationalen Wissen um (Herstellungs-)Möglichkeiten von Artefakten gleich. Damit stellt er die Verbindungen von Natur, Naturerkenntnis und Menschen ins Zentrum des Interesses. Diesen Ansatz verbindet der Autor mit einem sozialwissenschaftlichen. Dieser sieht Technik als materielles Mittel an, mit dem besonders die sozioökonomischen und gesellschaftlichen Funktionen der Technik zur Analyse gebracht werden können. Beide Ansätze werden durch einen humanwissenschaftlichen verbunden, in dem Technik als menschliche Tätigkeit betrachtet wird, die sich nicht selten in polaren Spannungsfeldern abspielt – etwa zwischen subjektiv und objektiv, rational und irrational oder zwischen (kultur-)kritisch und fortschrittsgläubig (S. 33).

Nicht zuletzt war es die sozialwissenschaftliche Technikforschung, die in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Innovationen zur Technikgeschichte beigetragen hat (S. 33). So wurde die Ästhetisierung der technischen Artefakte in weiterer Folge dafür herangezogen, um die nicht selten einfach wirkenden technischen Erzeugnisse durch künstlerische Überformung in einen allgemeinen kulturellen Zusammenhang zu stellen, wie es etwa bei Bahnhofsgebäuden geschehen ist. Während sich seit den 1970er-Jahren Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft und Posthistorie der dichotomen Methode der Interpretation – Fortschrittsoptimismus versus Kulturpessimismus – zugewandt haben, sticht die Sparte der Technikgeschichte durch Bemühungen, die Technik zu kontextualisieren und Versuche Technik und Kultur in einem integrativen Ansatz darzustellen, hervor. Die Gefahr, dass die Technikgeschichte dennoch deterministisch orientiert bleibt, ist dann nach wie vor gegeben, wenn weiterhin die These kolportiert wird, dass sich die Technik wegen ihres rationalen und funktionalen Charakters durchsetzt – also das Hohelied der Modernisierung gesungen wird (S. 37).

Günter Dinhobl widmet auch den Technikerbiographien Raum und verweist auf den Umstand, dass die in jüngster Zeit entstandenen Publikationen dieses Genres weniger eine Neubelebung der Geschichte „großer Männer“ sind, sondern auf Basis biographischer Fragestellungen einen Diskurs über Modelle zur Erklärung technikgeschichtlicher Vorgänge im gesamtgesellschaftlichen Kontext darstellen sollen. Vor diesem Hintergrund und jenem des Technologietransfers beleuchtet Günter Dinhobl erhalten gebliebene Reiseberichte von Carl Ghega und Moritz Loehr und verweist auf die jeweiligen technologischen Grundsätze, die in England und den USA dominierten und später in den österreichischen Bahnbauten ihren Niederschlag fanden. Sie sind Beleg dafür, dass gerade in der frühen Phase des Eisenbahnbaues Studienreisen ein übliches Mittel für den Transfer der neuen Transporttechnologie gewesen sind. So verfestigten Reiseberichte und damit verbundene Publikationen das in Erfahrung Gebrachte jenseits von Glorifizierung und Erfolgsgeschichten (S. 53-113).

Auch dem Aspekt der Disziplinierungsmacht der Eisenbahn widmet sich Günter Dinhobl in seiner Arbeit. Nach Michel Foucault handelt es sich dabei um ein so genanntes Instrument der normierenden Sanktionen, dem Eisenbahnangehörige und Reisende gleichermaßen unterworfen waren – als schärfste Maßnahme galt für die Reisenden der Ausschluss von der Fahrt, für Eisenbahner jener von der Arbeit. Diese Macht der Disziplinierung besitzt auch die Funktion einer Normierung, die einerseits eine Homogenisierung von Funktionsgruppen bewirkt, sich andererseits aber gleichzeitig individualisierend innerhalb von Gruppen auswirkt – identitätsstiftend wirkt sie allerdings in beiden Fällen (S. 117f.).

Die Durchführung der Eisenbahnbauten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte nicht allein auf technischer oder verwaltungsmäßiger Ebene, sondern wurde von etlichen anderen Maßnahmen begleitet. So etwa auf immaterieller Ebene durch die verschiedenen Varianten der Propagierung des neuen Eisenbahnsystems, auf materieller Ebene beispielsweise durch die Namensgebung von Lokomotiven oder durch die Benennung von Eisenbahnstrecken durch Vertreter des Kaiserhauses, wodurch die imperiale Funktion der Eisenbahn hervorgehoben wurde. Anhand der in der Publikation dargelegten Beispiele können jene impliziten Dimensionen der Technikgeschichte erschlossen werden, in denen ihre kulturelle Verankerung greifbar wird. Aus nachvollziehbaren Gründen weist Günter Dinhobl darauf hin, dass weiterführende Untersuchungen sich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie des 20. Jahrhunderts annehmen könnten um darauf aufbauend zu einer Theorie der kulturellen Verankerung von Technik und Eisenbahn zu gelangen (S. 160).

Dinhobls Publikation ist ein engagiertes und überaus kompetentes Plädoyer dafür, am Beispiel der Entwicklung der österreichischen Eisenbahnen neue Wege und Methoden in kulturwissenschaftlicher Hinsicht zu suchen, das allzu sehr empirisch angelegte Feld zu verlassen und methodologisches Neuland zu betreten. Eine Intention, der viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folgen mögen.

Anmerkungen:
1 Geschichte der Eisenbahnen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 4 Bde. in 5 Büchern, Redaktion Hermann Strach, Wien 1898f.
2 Adolph Giesl-Gieslingen, Anatomie der Dampflokomotive international. Ihr Aufbau und ihre Technik in aller Welt von 1829 bis heute, 2. Aufl. Wien 1989; Adolph Giesl-Gieslingen, Die Ära nach Gölsdorf. Die letzten drei Jahrzehnte des österreichischen Dampflokomotivbaus, Wien 1981.

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