F. Becker: Bilder von Krieg und Nation

Titel
Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit 1864-1913


Autor(en)
Becker, Frank
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 7
Erschienen
München 2001: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
601 S.
Preis
€ 89.80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Der moderne Nationalstaat entstand nicht nur in Deutschland aus dem Krieg. Die Schlacht bei Sedan besaß Vorgänger und Nachfolger. „Britain was Trafalgar ... Russia was the triumph of 1812. Germany was Gravelotte and Sedan. Italy was Garibaldi and the Thousand.“[1] In der nationalen Erinnerung kam diesen Schlachten ein genauso prominenter Platz zu wie in den Stadtplänen der Hauptstädte. Für die Erinnerung an die kriegerische Gründungsgeschichte des deutschen Kaiserreiches standen in der Bismarckzeit die gut erforschten Sedanfeiern und eine ausgeprägte Kriegerdenkmalskultur.[2] Besonders aussagekräftig war die Erinnerungskultur zum Krieg von 1870/71 in den 1866 unterlegenen Bundesstaaten. Sachsen und Bayern gewannen 1870 ihren Militärstolz zurück, der den Regionalstolz als Teil des deutschen Nationalstolzes darstellbar machte. Bayern verbanden den Krieg gegen Frankreich mit der Schlacht bei Weißenburg, Württemberger mit den Kämpfen bei Wörth und Sachsen mit der Schlacht bei Gravelotte und St. Privat.

Frank Becker untersucht in seiner Münsteraner Habilitationsschrift detailliert die Deutung der drei deutschen Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit, also des Krieges gegen Dänemark 1863/64, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/71. Methodisch fragt Becker nach der bürgerlichen Deutungsgeschichte der Einigungskriege. Die Kriegsdeutungen in der bürgerlichen Öffentlichkeit geben Aufschluß über die politische Kultur des Kaiserreiches. Sie ermöglichen Einblicke nicht nur in aktuelle Einstellungen, sondern auch in die zugrunde liegenden Einstellungen, die die Wahrnehmung der Akteure prägen.[3] Ziel der Arbeit ist es, auf diesem Wege, die bürgerliche Nationsidee näher zu konturieren. Becker wertet zum ersten Mal systematisch und akribisch die riesige Fülle der Flugschriften, Zeitungen, Wochen- und Monatsschriften zu den Einigungskriegen zwischen 1863 und 1871 aus. Der methodische Clou dieser Arbeit ist jedoch die umfangreiche Auswertung von Bildquellen zu den Einigungskriegen, was in der Literatur immer wieder angemahnt, aber nie so systematisch wie hier durchgeführt wurde.

Der Autor zeichnet ein heterogenes Bild der Einigungskriege nach, das sich vor allem unter dem Einfluß des Krieges von 1870/71 homogenisierte. Die Wahrnehmung und die Deutung des Krieges von 1863/64 gegen Dänemark standen noch ganz in der Tradition des Volksmilizgedankens, der seit den Einigungskriegen von 1813 und der Revolution von 1848 die militärpolitische Diskussion beherrschte. Schon Immanuel Kant hatte in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“ gefordert: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören“.[4] Stehende Heere entzogen der Volkswirtschaft wichtige Kräfte, waren zumeist schlecht geführt und stellten ein verstärkten das Machtungleichgewicht zwischen Krone und Bürgertum. Bürgerliche Liberale forderten daher für die staatliche Ebene das Volksheer und ein Milizsystem. Als dezidiert bürgerliche Ordnungsformation besaß es im 19. Jahrhundert vor allem in den Kommunen einen starken Rückhalt.[5] Der Krieg - oder besser: die Polizeiaktion - gegen Dänemark 1863/64 brachte noch einmal den Gegensatz zwischen dem preußischen „Junkerheer“ und dem Volksheer zum Vorschein. Den militärischen Erfolg schrieben die bürgerlichen Autoren nicht der von Roon reformierten preußischen Armee zu. Sie hefteten sich den Sieg vielmehr an die eigenen Fahnen. Nicht Fragen der Heeresorganisation hatten aus bürgerlicher Sicht den Krieg entschieden, sondern das bürgerliche Zivilleben hatte die Voraussetzungen zum Sieg geliefert. Die Kommentatoren wiegten sich in der Illusion, die bürgerlich-zivilen Vorleistungen für den Militärapparat werde die Regierung zum Einlenken gegenüber den Liberalen im Verfassungskonflikt bewegen.

Die Deutung des Krieges von 1866 ging noch einen Schritt weiter. Auch 1871 wurde der liberale Volksschullehrer ins Feld geführt, als es darum ging, die Ursachen für den deutschen Sieg zu benennen. Die Bürgerlichkeit war jetzt indessen in die preußische Armee selbst eingewandert. Dafür standen die Verwissenschaftlichung der Kriegsführung, der gestiegene Einfluß der Militärtechnik und hier besonders der Eisenbahnen. Überhaupt überwog das gebildete Element in der Armee, verkörpert vom Wissenschaftler-General Helmuth von Moltke. Bürgerliche Tugenden wie Einsatzfreude, Motivation und ein hoher Ausbildungsstand, nicht aber militärischer Drill garantierten den Erfolg der preußischen Militärmaschine. Auch hierfür wollte das Bürgertum entschädigt sein durch ein Entgegenkommen Bismarcks im Verfassungskonflikt. Nur so könne die preußische Armee zu einem „gemeinsamen Projekt von Krone und Volk, Adel und Bürgertum“ werden (489). Noch die Kommentatoren in den unterlegenen süddeutschen Staaten kamen zu einem ähnlichen Schluß: Ihre Niederlage gegen Preußen habe unwiderleglich bewiesen, daß Fürstenheere der Vergangenheit angehörten. Nur der Volkswehrgedanke würde die Garantie für die Mobilisierung der Gesellschaft und die Ausnutzung aller Ressourcen bieten.

Der Krieg von 1870/71 schließlich war endgültig der Krieg des deutschen Bürgertums. Er brachte die vollständige Akzeptanz der preußischen Heeresverfassung in der bürgerlichen veröffentlichten Meinung. Die Identifikation mit der preußischen Armee wurde durch die verschiedenen Heeresverfassungen des Gegners begünstigt: Zuerst kämpften die deutschen Truppen gegen das Konskriptionssystem der napoleonischen Armee, das auf deutscher Seite umstandslos mit den älteren stehenden Berufsarmeen gleichgesetzt wurde. Die Milizarmee oder das Volksheer schied nach dem Umsturz des 4. September 1870 in Paris als positiv besetzte Alternative aus. Als Waffe in der Hand des Gegners war sie innenpolitisch unbrauchbar geworden. In dieser zweiten Phase des Krieges entwickelten sich nationale deutsche Stereotypen zu voller Blüte. Alle hatten einen antifranzösischen Sinn und verdankten sich der Kriegssituation. Vor dem Ende Napoleons III. hatten bürgerliche Kommentatoren den Idealismus der deutschen Soldaten gegen die französische Söldnertruppe gestellt. Nach Sedan änderten sich die Vorzeichen. Jetzt kämpfte die gut ausgebildete deutsche Armee mit geübter Professionalität gegen die rasch mobilisierten republikanischen Armeen in einem Freischärlerkrieg. Die deutsche Seite erhielt den Anstrich der Humanität gegen den ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf Seiten der Franzosen. Das jedenfalls sollten die Rührstücke von einquartierten deutschen Soldaten verdeutlichen, die mit den Kindern ihrer „Gastgeber“ spielten. Das Bild vom deutschen Soldaten am Klavier „im Etappenquartier vor Paris 1870" (Anton von Werner) wirkte in die gleiche Richtung. Auch das demokratische Vorzeichen der Kriegsführung verkehrte sich in ein hierarchisches. Gegen die kaiserliche Armee Napoleons hatten bürgerliche Blätter darauf bestanden, daß das deutsche Heer von unten, von den Kräften der Nation getragen wurde. Im Krieg gegen die Republik galt es dagegen als typisch deutsch, daß die eigenen Streitkräfte von oben umsichtig geführt und durchorganisiert waren.

Insgesamt avancierte 1870/71 der Staat zum unumstrittenen Subjekt des militärischen Handelns und verdrängte damit auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit das Volk und das Parlament. Erst die „Steuerungskompetenz des Staates“ (491) garantierte Humanität und Effizienz im Krieg. Der Krieg gegen das republikanische Frankreich schärfte die staatsnationalen Züge in der deutschen Nationsidee. Jetzt galt die Verstaatlichung des Krieges als große Errungenschaft, erforderte sie doch nicht mehr den persönlichen Haß auf den Gegner, um erfolgreich zu mobilisieren. Man meint, Carl Schmitt im Kampf gegen die Pariser Kommune zu sehen. Die deutsche Humanität im Krieg sollte gerade darin bestehen, daß der inimicus zum hostis wurde.[6] Die bürgerliche Presse pries die deutsche Einhegung des Krieges vor dem Hintergrund der französischen Enthegung des Krieges. „Das ‚Volk in Waffen‘, das die deutschen Kommentatoren feierten, war nicht das ‚bewaffnete Volk‘, das von Gambetta in den Kampf geschickt wurde, sondern ein gemeinsames Unternehmen von Staat und Gesellschaft“ (491f.).

Die Studie trennt selten die analytische von der Quellenebene. Die bürgerliche Wahrnehmung der Einigungskriege gerät dem Autor zum glatten Gegenbild des jeweiligen Gegners, mit allen Verzerrungen und Entstellungen der kriegsbedingten Polemik. Der Krieg wird so selbst zum Bild der Nation. Es überrascht nicht wirklich, daß bildungsbürgerliche Autoren den Krieg gegen Frankreich von 1870/71 als Krieg der Gebildeten darstellten. Die Analyse der Kriegsdeutung in der bürgerlichen Öffentlichkeit wäre durch Kontrollgruppen, wie das katholische oder das jüdische Bürgertum, schärfer ausgefallen. So gerät sie in die Gefahr, letztlich ein historisches Selbstverständnis einfach abzubilden. Zudem kündigt der Autor im Titel einen langen Untersuchungszeitraum von 50 Jahren (1864 bis 1913) an. Um diesem zeitlichen Rahmen gerecht zu werden und Kontinuität und Wandel in der Kriegsdeutung besser zu gewichten, hätte sich der Autor stärker von den Kriegsereignissen zwischen 1863 und 1871 lösen müssen.

Die Studie verbindet die Nationalismusforschung mit der Bürgertumsforschung, genauer: der Bürgerlichkeitsforschung. Hier und in der umfangreichen Auswertung von Bildquellen liegen die Stärken der Arbeit. Die Einengung der Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung auf bürgerliche Stimmen hat freilich ihren Preis. Das liberale Bürgertum mußte nicht wirklich und nicht erst im Krieg zum kleindeutschen Reich von 1871 und zur kriegerischen Nationalstaatsgründung bekehrt werden. Die liberale Nationsidee hatte bereits lange vor der Reichsgründung Partizipation und Aggression miteinander verbunden.[7] Nur nachgeordnet und am Rande trägt der Autor der Spaltung der bürgerlichen Öffentlichkeit in konfessionelle und regionale Öffentlichkeiten Rechnung. Der Faktor Konfession wird besonders stark vernachlässigt. Die Zentralität des Krieges in dieser Studie verdeckt letztlich die Affinität zwischen kleindeutscher Nation das Protestantismus. Dessen Selbstverständnis wird damit vorschnell verallgemeinert. Der Widerstand gegen die preußisch-kleindeutsche Reichgründung war stärker, als es die Kriegsdeutung in der bürgerlich-protestantischen Öffentlichkeit vorspiegelte. Der römische Kardinalstaatssekretär Antonelli sprach 1866 nicht nur für die Ultramontanen, als er nach der Schlacht bei Königgrätz ausrief: „Casca il mondo!“ Die Welt bricht zusammen.

Anmerkungen:
1. Michael Howard, War and the nation State, in: ders., The causes of wars, and other essays, Cambridge Mass. ²1983, 26f., zit in: Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation, 31.
2. Die Literatur hierzu ist inzwischen Legion. Vgl. unter anderem: Ute Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert. Die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1806-1918, Essen 1995; Reinhard Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal - zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich, Berlin 1996.
3. Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politischen Kulturforschung, in: HZ 250, 1990, 321-46.
4. Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Erster Abschnitt, 3., in: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden Hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1983, 197.
5. Vgl. Ralf Pröve, Stadtgemeindlicher Republikanismus und die "Macht des Volkes": civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
6. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin ³1991, 29.
7. Vgl. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994.

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