I. Sooman u.a. (Hrsg.): „Baltic Frontier“ Revisited

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Titel
The „Baltic Frontier“ Revisited. Power Structures and Cross-Cultural Interactions in the Baltic Sea Region


Herausgeber
Sooman, Imbi; Donecker, Stefan
Erschienen
Wien 2009: Selbstverlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Kaun, Media and Communication Studies, Baltic and East European Graduate School (BEEGS), Södertörns Högskola, Schweden

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Imbi Sooman und Stefan Donecker, fasst die Erkenntnisse eines zweitägigen Symposiums an der European University in Florenz zu Themen das Baltikum als Grenzregion (frontier) zusammen. Bo Stråth, Vorsitzender für nordische, europäische und Weltgeschichte der Finnischen Akademie, stellt in seiner Einleitung übergreifende, vergangene und gegenwärtige Problemstellungen vor, die das Baltikum betreffen. Er wirft dabei unter anderem die Frage auf, inwieweit man überhaupt von einer Region Baltikum sprechen könne, da diese zumindest auf Ebene der Selbstidentifikation der Bevölkerung vor Ort inexistent sei. Bo Stråth fragt dennoch nach einigenden Momenten auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene.

Eben die Regionsproblematik „Baltikum“ ist Gegenstand des Symposiums, dessen Beiträge in diesem Band vorliegen. Dabei wählen die Organisatoren als einigendes Moment und theoretische Grundlage das Grenzlandparadigma (frontier paradigm) von Fredrick Jackson Turner, das dieser 1893 während seines Vortrags ‚Die Signifikanz eines Amerikanischen Grenzlandes in der amerikanischen Geschichte‘ (Significance of the Frontier in American History) während der Weltausstellung in Chicago zum ersten Mal vorstellte. Turner betrachtet das Grenzland (frontier) dabei im Sinne der Expansion gen Westen auf dem nordamerikanischen Kontinent: Pioniere, die der Natur ausgeliefert waren und dennoch immer weiter im Grenzland zwischen Zivilisation und Wildnis vorwärts strebten. Grenzland bedeutet dabei eben auch das Gebiet der rapidesten und effektivsten Amerikanisierung. Dort im Grenzland sieht Turner die andauernde Wiedergeburt amerikanischen Lebens.

Das Konzept Grenzland oder vielmehr der Grenzlanderfahrung erfreute und erfreut sich umfassender Diskussion. Befürworter beschwören die Anwendbarkeit für ähnliche historische Erfahrungen, wie beispielsweise die Expansion ostwärts im Europa des Mittelalters durch deutsche Siedler. In den 1980er-Jahren setzte sich der Begriff des Baltischen Grenzlandes (Baltic frontier) mehr und mehr durch, um eine Vielzahl von Transformationsprozessen im Baltikum insbesondere während des Mittelalters greifbar zu machen. Kritiker des Konzepts thematisieren vor allem den inhärenten unkritischen Imperialismus und betonen, dass sich das Konzept selbst überlebt hat.

Das Symposium nun setzt sich zum Ziel, das Konzept des Baltischen Grenzlandes mit einer erweiterten Perspektive neu zu thematisieren. Dabei betonen die Herausgeber und Organisatoren, dass sie wissenschaftliche Werkzeuge und Paradigmen, wie das Turnersche Grenzlandkonzept, als Resultat wissenschaftlicher Diskurse verstehen, die in ihrem jeweiligen politischen und sozialen Kontext gesehen und verstanden werden müssen. In diesem Sinne soll das Symposium, den Herausgebern zufolge, durch Interdisziplinarität einerseits das Feld der Grenzstudien kritisch evaluieren und andererseits eine Neubewertung des Grenzlandparadigmas leisten.

Als besonders inspirierender Aspekt des Turnerschen Paradigmas wird dabei das konzeptinhärente Verständnis von Grenzland als Peripherie, das aktiv das Zentrum beeinflussen kann, identifiziert. Damit wird das Grenzland, die Peripherie, in seiner Bedeutung nicht mehr dem Zentrum untergeordnet, sondern vielmehr die Bedeutung desselbigen hervorgehoben.

Des Weiteren betonen die Herausgeber in ihrem Vorwort die diskursive Konstruktion des Grenzlandes durch Literatur, Kunst, Öffentlichkeit und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Sie sind also vorwiegend an der Narration des Grenzlandes interessiert. Dem Band liegt damit ein klares sozial-konstruktivistisches Verständnis zu Grunde: Ein Gebiet wird zum Grenzland, wenn es durch seine Bewohner oder Beschreiber als solches betrachtet und bezeichnet wird. Diese epistemologische Basis liegt allerdings nicht allen Beiträgen gleichermaßen zu Grunde.

Im konkreten Fall des Baltischen Grenzlandes identifiziert die Einleitung der Herausgeber mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, da das Konzept des Baltikums vorwiegend durch das Zentrum und niemals durch die betreffenden Länder selbst verwendet wurde. Hier entstehen erste Fragen, beispielsweise was im Falle des Baltischen Grenzlandes eigentlich das Zentrum in verschiedenen historischen Epochen darstellte? Und wie sich der vorher beschriebene Einfluss der Peripherie auf das Zentrum im konkreten Fall darstellt, da es sich doch um eine scheinbar unwillentliche, oktroyierte regionale Konstruktion handelt?

Die 14 Beiträge, vor allem der Disziplin Geschichte, aber auch aus Literaturwissenschaft, Russistik und Osteuropäistik und Skandinavistik , thematisieren mehr oder minder offensichtlich das Grenzlandparadigma. In chronologischer Reihenfolge präsentieren sich dem Leser vor allem empirische Annäherungen an das Konstrukt Baltikum vom Mittelalter bis heute. So beinhaltet der Band Präsentationen über mittelalterliche Konzeptualisierungen des Baltikums (Linda Kaljundi, Stefan Donecker); ethnische Abgrenzung in Gildebüchern (Holger Berg); das Baltikum in der Kartographie (René Tebel); Bildungspolitik im Baltikum des 19. Jahrhunderts (Vija Daukste); das polnische Baltikum-Institut in der Zwischenkriegszeit (Marta Grzechnik); Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung in der UDSSR unter Stalin (Maureen Perrie); das Baltikum im Kalten Krieg (Lars Fredrik Stöcker); die Konstruktion des sowjetischen Baltikums in russischen Historienpublikationen (Magnus Ilmjärv); die Perzeption des Holocaust als Indikator für demokratisches Potential (Oliver Rathkolb); die Sprachenpolitik im Baltikum und darüber hinaus (Roger Reidinger); Nationenbildung und ethnische Spannung im post-kommunistischen Baltikum (Katja Wezel), die Denkmalskrise in Tallinn (Imbi Sooman) und die Darstellung von Balten in schwedischer und dänischer Literatur (Sven Hakon Rossel).

Die Vielfalt der Beiträge kann dabei als Stärke, gleichzeitig aber auch als Schwäche wahrgenommen werden. Denn einerseits erhält man als Leser ein breitgefächertes Bild vom Diskurs über das Baltische Grenzland; andererseits fällt es schwer, den roten Faden der Publikation zu erkennen und ihm zu folgen. Dieses Problem ist natürlich vielen, wenn nicht allen Sammelpublikationen inhärent, meist aber lediglich für den Rezensenten problematisch, da wohl nur er oder sie alle Artikel auf einmal liest. Im Falle der hier besprochenen Publikation kommt jedoch hinzu, dass es sich um ein solch breites Spektrum an Beiträgen und disziplinären Diskursen handelt, dass es schwer fällt, dass vereinigende Element des Grenzdiskurses nach Turner, dessen Konzept ohnehin nur unzureichend entwickelt wird, überhaupt wieder zu finden. Die Beiträge scheinen nur eines gemein zu haben, sich nämlich in irgendeiner Art und Weise mit Ländern des Mittel- und Osteuropäischen Raumes zu beschäftigen. Eine Thematisierung der Konstruktion Baltikum oder gar des Grenzlandes Baltikum als solches findet nur in den wenigsten Fällen statt. Damit scheint die Einleitung der beiden Herausgeber mehr zu versprechen als dann in den Beiträgen tatsächlich gehalten wird. So wird die umfassende Infragestellung und Neukonzeptionierung des Grenzlandkonzepts sowie von Grenzstudien (frontier studies) versprochen. Was dann in den einzelnen Beiträgen folgt, ist der verständlich enge, disziplinäre Fokus auf Teilaspekte. Vielleicht hätte ein abschließendes, zusammenfassendes Kapitel die verschiedenen Spielarten und Verstehensweisen des Grenzlandkonzeptes, die in den Beiträgen indirekt präsentiert, diskutiert und empirisch exploriert wurden, wieder zusammen führen können.

Neben diesen inhaltlichen Aspekten erscheint mir das Format der Publikation als problematisch. Papers, die die Grundlagen für mündliche Präsentationen bilden, folgen anderen genre-spezifischen Anforderungen als Kapitel in einer Printpublikation. Leider erfolgte die Überarbeitung der Präsentationen zu lesbaren Artikeln eines Sammelbandes in manchen Fällen überhaupt nicht oder nur unzureichend, damit sind Lesefreude und Verständnis natürlich eingeschränkt. Außerdem kommt die im Wissenschaftsbetrieb bekannte Frage auf, an welche Leserschaft sich eine solche Sammelpublikation von (kaum bearbeiteten) Tagungsbeiträgen überhaupt richtet.

Alles in allem handelt es sich dennoch um eine recht interessante Lektüre, auch wenn für den (Fach-) Leser nicht alle Beiträge in gleichem Maße spannend sind.

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