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Titel
Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert


Autor(en)
Stuchtey, Benedikt
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 24
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
470 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Hübner, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Zunächst erwecken Titel und Inhaltsverzeichnis der Konstanzer Habilitationsschrift von Benedikt Stuchtey den Eindruck einer ,großen Erzählung‘ zur Kolonialismuskritik vom Zeitalter der Aufklärung bis zum Ende der Epoche des Hochimperialismus. Seine Studie über die „Bestände kolonialkritischen Denkens in Westeuropa und in den USA vom 18. bis in das 20. Jahrhundert“ distanziert sich jedoch deutlich von ideengeschichtlichen Narrativen, die dem Antikolonialismus eine ebenso lineare wie zwangsläufige, von der „Geschichte des okzidentalen Freiheitsstrebens“ vorangetriebene Entwicklungslogik unterstellen (S. 31, 22). Inspiriert von der angelsächsischen Tradition der ,Intellectual History‘ (Stefan Collini) und der ,Cambridge School‘ (Quentin Skinner) führt Stuchteys Analyse der „metropolitanen Diskurse über den Imperialismus“ weg vom anachronistischen „Ideenhimmel“, zurück auf den „geschichtlichen Boden“ der publizistischen und parlamentarischen Positionskämpfe zwischen Kolonialbefürwortern und -gegnern (S. 23, 32). Letztere konzeptualisiert er in seinen Fallstudien als „public moralists […], deren Ideen so dem Wandel unterworfen waren wie ihre politischen und gesellschaftlichen Profile vom Wandel der Zeiten geprägt wurden“ (S. 37).

Obwohl Stuchtey auch diachronische Tiefenbestimmungen vornimmt, die nicht zuletzt den stets selektiven und situationsbedingten Rückgriff auf frühneuzeitliche Traditionsbestände der Kolonialismuskritik thematisieren, geht es ihm dennoch vorrangig um synchronische Querschnittsbestimmungen, um die Darstellung der „Kritik im Neben- und Miteinander, gleichsam in einer geschichtlichen Eigenzeit“ (S. 25). Indem er den jeweiligen ,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungshorizont‘ (Reinhart Koselleck) der Kolonialtheoretiker ermittelt und danach fragt, was für sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sprachlich ,sagbar‘, was politisch ,machbar‘ (Willibald Steinmetz) war, gelingt es Stuchtey nicht nur, den strategischen Verwendungszusammenhang ihrer Argumente und die historische Wirksamkeit ihrer Ideen herauszuarbeiten. Vielmehr zeigt er auch die Pluralität und Diskontinuität kolonialkritischen Denkens eindrucksvoll auf.

Mit dieser Betonung historischer Brüchigkeit korrespondiert eine scharfe Fokussierung des Verhältnisses von (Kolonial-)Kritik und (Kolonial-)Krise, das für die gesamte Untersuchung wichtige erkenntnisleitende Impulse liefert. Ausgehend von ihrer Epochen strukturierenden und Prozesse beschleunigenden Qualität erblickt Stuchtey in Kolonialkrisen, -kriegen und -skandalen „Spiegelbilder der kolonialen Expansion selber mitsamt ihren Spannungen und weiterdrängenden Energien“, denen er als „Interpretament der politischen Geschichte“ erhebliches Erklärungspotential zuspricht (S. 375, 220). Der heuristische Mehrwert dieser Überlegungen zum Krisenbegriff erweist sich in der empirischen Ergebnisdarstellung, die gleichwohl einem chronologischen Ordnungsschema verpflichtet bleibt und in drei Teilen Formen und Motive der Kolonialismuskritik im Zeitalter der Aufklärung, des Viktorianismus und des Fin de Siècle abhandelt.

Die sieben Fallstudien des ersten Teils (S. 39-122) widmen sich den Kritikern der kolonialen Expansion im Zeitalter der Aufklärung, das hier allerdings zum einen durch den Rekurs auf den iberischen Humanismus des 16. Jahrhunderts, zum anderen durch die Orientierung an europäischen und globalen Sattelzeit-Konzepten mit einem Schwerpunkt auf den Jahren von 1760 bis 1830 eine enorme Ausdehnung erfährt. Stuchteys innovativer Ansatz vermag in diesem Teil noch nicht sein ganzes Potential zu entfalten, da seine Darstellung weitgehend den autoritativen Diskursmustern der klassischen Ideengeschichte folgt. Somit werden die „geistigen Traditionsbestände antikoloniale[r] Argumente“ (S. 116) letztlich in einem Durchgang durch die einschlägigen Hauptwerke von Bartolomé de las Casas, Immanuel Kant, Adam Smith, Guillaume-Thomas Raynal, Jeremy Bentham, Johann Gottfried Herder und Edmund Burke präsentiert.

Die frühneuzeitliche Kolonialismuskritik war keineswegs gleichbedeutend mit einem bedingungslosen Antikolonialismus, sondern richtete sich vorrangig gegen „die Mißstände, die Skandale und die Krisen, die der Kolonialismus für die europäische und die nationale Identität der Kolonialmächte mit sich brachte“ (S. 119). Dies verdeutlichen am besten die erste und letzte Fallstudie: Am Beispiel der Disputation von Valladolid zwischen Bartolomé de las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda (1550/51) sowie des Impeachment gegen Warren Hastings unter dem Vorsitz von Edmund Burke (1786-1788/1795) gelingt Stuchtey überzeugend die Rückbindung kolonialkritischen Denkens an die politische und gesellschaftliche Ereignisgeschichte. Doch während die spanische Diskussion über indigene Rechte im 16. Jahrhundert auf lange Sicht ihren Alleinstellungscharakter behielt, verdichteten sich in der Kolonialismustheorie von Edmund Burke antiimperiale Positionen der Aufklärung, die weit über die Jahrhundertwende hinaus traditionsbildend wirkten. So stand Burkes Kolonialkritik zum einen unter der aufklärerischen Leitvorstellung eines „Sense of Place“, der die historische Eigenentwicklung eines kulturell fest umrissenen Raumes als Teil der „organischen Entfaltung der gesamten Humanität“ erfasste und deshalb allenfalls einen graduellen, aber keinen prinzipiellen Unterschied zwischen ,zivilisierten‘ und ,unzivilisierten‘ Völkern machte (S. 99, 117). Zum anderen gründete sich seine Kritik am britischen Imperialismus auf die Verortung der Nation in einem destruktiven Spannungsverhältnis zwischen Revolution und Expansion, in denen Burke als „Jacobinism“ und „Indianism“ vergleichbare Gefährdungen der nationalen politischen Kultur erkannte (S. 92).

Das Verhältnis von Nation und Expansion steht im Fokus des zweiten Teils (S. 123-218), der die ökonomischen, politischen, moralisch-humanitären und pazifistischen Leitideen der Kolonialismuskritik in England zwischen 1815 und 1882 in den Blick nimmt. Die geographische Engführung der Untersuchung begründet Stuchtey mit dem konkurrenzlosen Imperialismus Großbritanniens vom 18. Jahrhundert bis in die 1880er-Jahre, der das Land mehr als jedes andere zu einer „imperiale[n] Nation sui generis“ (S. 175) machte, in der sich ,nation-building‘ und ,empire-building‘ auf weltgeschichtlich einzigartige Weise wechselseitig bedingten. Diese Interdependenz zwischen Expansions- und Nationalgeschichte illustriert Stuchtey in seinen zwölf Einzelstudien multiperspektivisch durch das „Lob nicht der bekannten Hauptwerke, sondern der zahlreichen viktorianischen Autoren“ (S. 123).

Aus diesem souverän gestalteten Intellektuellen-Panorama ragen die Historiker John Robert Seeley und (der von der Forschung bisher vernachlässigte) Goldwin Smith als geradezu idealtypische Antipoden ihres Zeitalters heraus. Seeley gelang als Regius Professor of Modern History in Cambridge in seinem Standardwerk „The Expansion of England“ (1883) die „Zuspitzung der viktorianischen Leitideen der britischen kolonialen Expansion“, indem er das whiggistische Fortschrittsdenken (,Liberty‘) zugunsten der Vorstellung von der patriotischen Expansion eines „Greater Britain“ (,Empire‘) verabschiedete, die sich in vermeintlicher Selbstverständlichkeit hinter dem Rücken der Nation (,Absentmindedness‘) vollzog (S. 123f.). Smith hingegen vertrat als Regius Professor of History in Oxford maßgeblich den Antiimperialismus der „Little Englanders“ (S. 167), die sich zwar gegen den Kolonialenthusiasmus ihrer Zeit wandten, jedoch zugleich im whiggistischen Sendungsbewusstsein die Ausbreitung angelsächsischer Werte wie Freihandel, Protestantismus und englische Verfassung in Übersee propagierten.

Dass die viktorianische Kolonialkritik nicht nur auf intellektuellen Grundüberzeugungen fußte, sondern ihren Ausgang vielmehr von konkreten Krisenschauplätzen nahm, illustriert Stuchtey eindringlich am Beispiel des Indischen Aufstands (1857/1858), der Gouverneur Eyre-Affäre auf Jamaika (1865) und der Besetzung Ägyptens (1882): Wie Richard Cobden die Niederschlagung der „Great Mutiny“ dazu veranlasst hatte, ein whiggistisches Plädoyer für die Reform des Kolonialwesens einzulegen, so reagierte wenige Jahre später John Stuart Mill auf die Exzesse der englischen Kolonialbürokratie mit seinem Engagement im „Jamaica Committee“. Er forcierte damit seine Gegnerschaft zu Thomas Carlyle, dem wortführenden Exponenten des „Eyre Defence and Aid Committee“. Die Besetzung Ägyptens rief mit dem Schriftsteller Wilfried Scawen Blunt einen „der kompromißlosesten Kolonialkritiker seiner Zeit“ (S. 211) auf den Plan, dem es zunächst sogar gelang, Gladstone von einer friedlichen Beilegung des Konflikts zu überzeugen. Diese und viele weitere ,Splitter‘ aus dem von Stuchtey entworfenen Kaleidoskop der Kontroversen fügen sich schließlich zum historischen Gesamtbild einer zunehmenden Spaltung der Nation in Pro- und Antiimperialisten, wie sie bereits 1847 in Disrealis Diktum der „Two Englands“ (S. 178) angeklungen war.

Der dritte Teil (S. 219-377) widmet sich in drei Einzelstudien den Antiimperialismen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens bzw. der USA im Zeitalter des Hochimperialismus. Das Signum dieser Epoche war die „krisenhafte Anfälligkeit der sociétés impériales“, die Stuchtey nicht allein als das Resultat der globalen Rivalität zwischen den Kolonialmächten auffasst, sondern darüber hinaus auf die generelle „Krisenhaftigkeit“ des ,Zeitalters der Nervosität‘ (Joachim Radkau) zurückführt (S. 219, 225). Stuchtey liefert in diesem Teil eine brillante Analyse der zahlreichen historischen Konstellationen von Kolonialkritik und Kolonialkrise, die hier jedoch angesichts der schieren Detailfülle nicht im Einzelnen erörtert werden kann. Das in vergleichender Perspektive vielleicht bestechendste Interpretament stellt Stuchteys Deutung der Grenze als „Vorratsraum imperialer Sinngebungen“ dar, „die über politische und ökonomische Kalküle hinausgingen und nicht berechnet werden konnten wie der Verkaufswert von Rohstoffen oder der Mehrwert von Kolonialwaren“ (S. 246). Auf die Regeneration der Nation an der „Frontier“ als „Ort der Bewährung und Verhärtung männlicher Tugenden“ (S. 298) richteten sich demnach die kollektiven Hoffnungen aller imperialen Gesellschaften, die dadurch einerseits politischen Größenwahn und rassistische Überlegenheitsgefühle mobilisierten, andererseits althistorisch informierte Dekadenzbefürchtungen und sozialdarwinistisch motivierte Degenerationsängste kompensierten.

Am Ende absorbierte die überwältigende Suggestionskraft kolonialer Ermächtigung das kritische Potential und damit die historische Wirksamkeit der Kolonialkrisen, die zwar vorgebliche Kontinuitäten imperialen Denkens und Handelns durchbrachen, es aber nicht vermochten, die indifferente bis positive Grundeinstellung der Bevölkerungsmehrheit zum Imperialismus ins Wanken zu bringen. So lautet eine zentrale Erkenntnis der Untersuchung von Benedikt Stuchtey, die sich zum Schluss nicht in einem konventionellen Resümee erschöpft, sondern ausgehend von der politischen Philosophie Hannah Arendts eine subtile ,Charakterstudie‘ der Kolonialkritiker entwickelt. Dass die Feinde der europäischen Expansion zuweilen vor moralischem Dünkel ebenso wenig gefeit waren wie vor antisemitischen und rassistischen Ressentiments, hat Stuchtey zuvor klar herausgestellt und kann sich daher eine gewisse intellektuelle Sympathie für die Kolonialkritiker vorbehalten. Diese befanden sich mit dem gedankenvollen Pessimismus ihrer ,vita contemplativa‘ in einem unentwegten „Rückzugsgefecht gegen den Zeitgeist“ (S. 380), dessen triumphaler Optimismus von der ,vita activa‘ welterobernder Kolonialenthusiasten verkörpert wurde.

Der „emotionale Faktor des Imperialismus“ blieb den Kolonialkritikern als „rationale[n] und mahnende[n] Zweifler[n]“ weitgehend fremd, weshalb sie in den Augen ihrer Zeitgenossen nicht selten realitätsfern und rückwärtsgewandt erschienen (S. 167, 381). Stuchtey begreift diese Distanz zur eigenen Epoche als einen grundlegenden, geradezu überzeitlichen Wesenszug der Kolonialismuskritik, die sich seit jeher durch ihr „Mißtrauen gegenüber der Definitionshoheit, der Absolutierung von angeblich ungeteilten Sinnzuschreibungen“ (S. 380) auszeichnete. Seine Entscheidung gegen eine ,große Erzählung‘ kolonialkritischen Denkens kann mithin auch als Ausdruck einer historiographischen Ethik gelesen werden, als Absage an das Ansinnen, die Geschichte unter einem Einheitsgesichtspunkt zu betrachten. Denn „Kolonialismuskritik […] zu studieren, bedeutet, die bruchlose Kontinuität imperialistischer Geschichtsphilosophien zu hinterfragen, ohne sie aber vollständig auflösen zu können“ (S. 376f.). Dies ist Stuchtey vorbildlich gelungen.