M. Triendl-Zadoff: Nächstes Jahr in Marienbad

Titel
Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne


Autor(en)
Triendl-Zadoff, Mirjam
Reihe
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 6
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bajohr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)

Seit dem 19. Jahrhundert setzte sich im Bürgertum die jährliche Reise ins Kurbad als eine spezifische Form touristischer Praxis durch, die zugleich eng mit der Pflege und Wiederherstellung von „Gesundheit“ verknüpft war. Das Kurbad fungierte einerseits als Gegenwelt zur modernen Großstadtkultur und bot seinen Gästen mit seinem standardisierten, an medizinischen Bedürfnissen orientierten Tagesablauf jene Sicherheit und Struktur, die das gestresste Bürgertum in einer sich stetig verändernden Moderne vermisste. Anderseits war das Kurbad mit der modernen Großstadtkultur untrennbar verknüpft, spiegelten sich doch hier zahlreiche Facetten großstädtischen Lebens en miniature wider, worauf nicht zuletzt die urbane Ästhetik der Kurorte hindeutete.

Jüdische Kurgäste machten vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen signifikanten Teil des Besucherpublikums aus. Schon vor Jahren hat deshalb der Münchner Historiker Michael Brenner vom Kurort als „Jewish Space“ gesprochen. Die Verfasserin greift diesen Ansatz am Beispiel der böhmischen Bäder Karlsbad, Marienbad und Franzensbad auf, die bis zur Annexion des Sudetenlandes 1938 als „magnetische Orte für jüdische Kulturen“ galten.

Der Plural „jüdische Kulturen“, der auch im Titel des Buches auftaucht, ist alles andere als zufällig gewählt, denn die Gruppe der jüdischen Gäste – wenn man diesen Begriff überhaupt verwenden will – setzte sich aus höchst unterschiedlichen jüdischen Kulturen zusammen, die einander nicht zuletzt different wahrnahmen: assimilierte Juden aus dem deutschen und westeuropäischen Bürgertum, bürgerliche Juden aus Osteuropa, aber auch arme, chassidische Juden waren in den Straßen der böhmischen Kurorte anzutreffen. Über weite Strecken des hier betrachteten Zeitraums bildeten Juden nicht nur eine Gruppe für sich, sondern vor allem eine Gruppe an sich, die sich nicht zuletzt durch die abgrenzende Fremddefinition nichtjüdischer Gäste konstituierte. Anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen – darunter Tagebücher, Briefe, Memoiren, Romane etc. –, die Mirjam Triendl-Zadoff geschickt zu einem dichten impressionistischen Gesamtbild verwebt, wird mehr als deutlich, wie fluid und polyvalent die „jüdischen Orte“ in den böhmischen Bädern waren. Während im Sommer zahlreiche jüdische Gäste in die Bäder strömten und das Ortsbild wie die Atmosphäre sichtbar (mit)prägten, waren die wenigen ortsansässigen Juden im Winter auf sich selbst zurückgeworfen und einem rabiaten „Winter-Antisemitismus“ ausgesetzt. Je nach Jahreszeit dominierte entweder ein „radikaler deutschnationaler Antisemitismus“ oder eine „heuchlerisch entpolitisierte Fremdenfreundlichkeit“, wie die Verfasserin treffend bemerkt.

Da man Juden im deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt zwar ein Loyalitätsbekenntnis abverlangte, sie aber im Gegenzug gesellschaftlich nicht akzeptierte, gewannen zionistische Ideen vor allem unter jüngeren Juden an Boden. Während sich jüdische Gäste zu alten k.u.k.-Zeiten vorwiegend als Teil eines bürgerlichen Kur-Publikums definierten, traten nach 1918 mehr und mehr zionistisch gesinnte, dezidiert jüdische Touristen an ihre Stelle. Es war kein Zufall, dass nach dem Ersten Weltkrieg gleich zwei zionistische Weltkongresse in Karlsbad abgehalten wurden.

Überzeugend arbeitet die Verfasserin heraus, wie sich der „jüdische Raum“ in den böhmischen Kurbädern im Wechselspiel von Selbst- und Fremddefinitionen, im Wandel der politischen und wirtschaftlichen Zeitläufte höchst dynamisch veränderte. Dabei bleibt jedoch offen, worauf die bemerkenswerte Affinität vieler Juden gegenüber der Kur- und Badereise eigentlich zurückzuführen war. Hing dies vor allem mit der starken Verbürgerlichung der jüdischen Minderheit in vielen europäischen Ländern zusammen? Konstituierte sich deshalb der „jüdische Ort“ in erster Linie durch die Adaption einer letztlich bürgerlichen touristischen Praxis? Oder trugen spezifisch „jüdische“ Elemente zu dieser Entwicklung bei? Die Verfasserin bleibt hier etwas unbestimmt und liefert für beide Sichtweisen stichhaltige Argumente. Dabei verweist sie unter anderem auf die frühe Hinwendung vieler jüdischer Ärzte zur Balneologie, die deshalb in vielen Kurbädern auch das Gros der „Badeärzte“ stellten und somit zur Ausbildung einer „jüdischen“ Infrastruktur beitrugen. Dabei spielten auch materielle Gründe eine Rolle, weil jüdische Mediziner bei der Berufung auf Universitätslehrstühle oft diskriminiert wurden und auf eine lukrative Einnahmequelle angewiesen waren, um ihre unbezahlte Privatdozentur aufrecht erhalten zu können.

Insgesamt besticht die vorliegende, sehr gut geschriebene Dissertation vor allem durch die höchst anregende, souveräne Verknüpfung unterschiedlichster Themen und historiographischer Ansätze. Die thematische Bandbreite reicht vom Alltag der Badekur über die vielfältigen jüdischen Teilkulturen in den westböhmischen Bädern bis hin zur Geschichte des Antisemitismus und der Nationalitätenkonflikte im böhmischen Raum. Kultur-, Politik-, Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte werden auf diese Weise überzeugend miteinander verknüpft. Dabei fügt Mirjam Triendl-Zadoff nicht nur der jüdischen Geschichte eine wichtige Facette hinzu, sondern liefert auch der allgemeinen Tourismusgeschichte wichtige Impulse, die sich durch diese Arbeit angeregt fühlen sollte, die Polyvalenz und Fluidität vieler touristischer Orte genauer in den Blick zu nehmen.

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