K. Garber, H. Wismann (Hgg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition

Titel
Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung


Herausgeber
Garber, Klaus; Wismann, Heinz
Reihe
Frühe Neuzeit 6/27
Erschienen
Tübingen 1996: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
1840 S.
Preis
€ 359,00
Martin Mulsow

Diese beiden gewichtigen Baende machen zusammen eine ganze Forschungsbibliothek aus: 71 Aufsaetze, entstanden zum grossen Teil anlaesslich eines Kongresses in Paris im Herbst 1989, just in den Tagen des Falls der Berliner Mauer. Die Grundidee, die Sozietaeten der fruehen Neuzeit in europaeischer Perspektive und zudem im Zusammenhang mit der demokratischen Entwicklung zu sehen, erlaeutert Klaus Garber im einleitenden Beitrag "Sozietaet und Geistes-Adel: Von Dante zum Jakobiner-Club". Die 'nobilitas', so Garber, musste im fruehen Humanismus als kulturpolitisches Programm neu definiert werden. Weder adelige Herkunft noch Beharrung im Ideal der lateinischen Sprache koennen Privilegien begruenden, sondern allein Tugend und Geistesadel. Der wahre Adel, sagt Dante im Traktat vom wahren Adel im vierten Buch des Convivio, zeigt sich im intellektuell-moralischen Kern einer Person, nicht in ihrer sozialen Deszendenz.

Garber betrachtet diesen Traktat als "ideelle Gruendungsurkunde der europaeischen Sozietaetsbewegung [...], die in ihren Satzungen wie in ihren symbolischen Interaktionsformen und aesthetischen Entwuerfen als den eigentlichen Dokumenten ihres geheimen Selbstverstaendnisses von der Philosophie des wahren Adels bis ins 18. Jahrhundert hinein zehren wird" (11). Allerdings ist Dante noch eine andere Gruenderfigur zur Seite zu stellen, die Aehnliches fuer den Bereich der geistlichen und spirituellen Sozietaeten erreicht hat. Garber sieht hier den kalabresischen Abt Joachim von Fiore mit seiner Lehre vom dritten Reich einer ecclesia spiritualis in der entsprechenden Position. Die politisch-organisatorischen Konsequenzen seien in eine aehnliche Richtung gegangen wie im weltlichen Falle des vera nobilitas-Ideals.

Vor dem Hintergrund dieses historischen Anfangsszenarios stellt Garber acht Thesen auf, von denen einige hier einzeln aufzufuehren lohnt, da sie weitreichende Aussagen ueber die Verflechtungen von Geist und Politik, Ideal und organisatorischer Wirklichkeit machen: 1. Die Sozietaet ist ein privatrechtliches Institut, das seine staatlich und politisch nicht sanktionierte Stellung zum Entwurf, zur Erprobung und zur Diskussion einer alternativen gesellschaftlichen Organisationsform samt der ihr zugrundeliegenden letztlich vernunftrechtlichen Begruendungen nutzt. 2. Vornehmster Grundsatz der Sozietaet ist der der Egalitaet. 4. Es bedarf einer Begruendung fuer das zu beobachtende Zusammengehen von gelehrten Humanisten und regierendem Fuerstentum. 5. Eine auf Leistung, auf Kompetenz, auf disziplinaeren Sachverstand rekurrierende Sozietaets-Programmatik und -Praxis traf sich mit dem Modernisierungsanspruch des modernen Fuerstenstaats. 6. Sozietaeten haben Kritik an der Formierung der Konfessionen geuebt. 8. Die Konfliktzonen bleiben gleichwohl bestehen: Repriviligierung des Adels oder Rekonfessionalisierung seit Mitte des 17. Jahrhunderts stossen in den Sozietaeten auf Kritik.

Gezielt ist also auf ein spannungsvolles Miteinander von Sozietaeten und Fuerstenstaat. Garber kann sich fuer das 18. Jahrhunderts auf Reinhart Kosellecks bekannte These vom Politischwerden der Sozietaeten gerade durch Ausgrenzung eines gesellschaftlichen Innenraumes stuetzen. Er moechte diese These aber offensichtlich weiter zurueck in die fruehe Neuzeit verlaengern und mit den Idealen des Fruehhumanismus verkoppeln. Dass Akademiegruendungen dabei als Produkt einer "Bewegung" verstanden werden, stellt sie in ihrer aktiven Komponente heraus, Ideale zu verwirklichen, und postuliert zugleich die (europaweite) Konnexion der partikularen Bemuehungen. Garber wehrt sich gegen die uebliche Kritik - etwa: Bukolik sei nicht als Utopie misszuverstehen, oder: die Praxis der Sozietaeten sei keineswegs egalitaer gewesen - mit einem enschiedenen Plaedoyer fuer die Relevanz und historische Signifikanz von Programmatiken.

Das ist auch noetig, denn nur mit dieser Praemisse kann es Garber - und dem ganzen Band - gelingen, den ambitionierten Bogen von Dantes vera nobilitas-Konzeption bis hin zu den Jakobinerklubs des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu schlagen. Wenn die These richtig ist, dass demokratisches Potential im doppelten Beginn bei Dante und Joachim angelegt ist (und wenn man dies trotz aller Pervertierungen vor allem des Joachitismus bis hin zu Hitlers tausendjaehrigem Reich aufrecht erhalten will), dann gilt es, Spuren zu sichern und in den jeweiligen Ausformungen der "Sozietaetenbewegung" nach ihren demokratischen, egalitaeren und utopischen Momenten zu suchen. Das ist die gestellte Aufgabe fuer die Beitraege. "Der Kongress stellt seinem Anspruch nach nicht weniger und nichts anderes als den Versuch dar, unter gebuehrender Beruecksichtigung der antiken Grundlagen diesen in der Fruehrenaissance anhebenden Prozess der weltlichen wie geistlichen Sozietaetsbildung nach Massgabe des Moeglichen in seiner gesamteuropaeischen Dimension einschliesslich ausgewaehlter aussereuropaeischer Derivate und im gesamten Zeitraum der Fruehen Neuzeit bis an die Schwelle der buergerlichen Revolutionen des spaeten 18. Jahrhunderts gleichermassen auf der ideellen und proklamatorischen wie der faktischen und organisatorischen Ebene zu verfolgen" (16). Angestrebt ist also auf 1800 Seiten eine in Fallstudien durchgefuehrte histoire totale der europaeischen Sozietaetsbewegung.

Es folgen zehn Sektionen, die geographisch nach nationalen Traditionen gegliedert sind. Hervorzuheben ist, dass 'Europa' hier einmal nicht mit Frankreich, Deutschland, Italien und England gleichgesetzt ist, sondern dass - neben Skandinavien und Spanien - ausfuehrlich auch die ostmittel- und osteuropaeischen Nationen vertreten sind. Das ist keineswegs selbstverstaendlich, kennzeichnet aber die Ausrichtung von Garbers Osnabruecker Forschungsstelle zur Literatur der Fruehen Neuzeit. Nach einer "Vergewisserung" der Traditionen von Sozietaeten in Antike und Mittelalter (I, 43-170) folgt die Aufarbeitung des Ursprungs der Akademiebewegung in Italien (II, 171-286). Dieser Ursprung spielt fuer die Konzeption des Bandes eine grosse Rolle und wird etwa von Manfred Lenzen fuer die gewichtige Accademia Platonica in Florenz und von Bodo Guthmueller fuer eine eher provinzielle Region wie Vicenza dargestellt.

Frankreich als "nationales Paradigma" folgt in einem umfangreichen Abschnitt (III, 287-512). Unter den Bedingungen des machtvoll formierten Nationalstaates sind die Sozietaeten in ganz neue Positionen gerueckt - viel naeher an die politische Fuehrung im Grossen. Hartmut Stenzel beschreibt in diesem Sinne die Anfaenge der Academie francaise, und Wolfgang Asholt konfrontiert sie mit der oekonomisch-gesellschaftlichen Realitaet.

Der iberoromanische Bereich, bis hin zu einem Blick auf Mexiko, erhaelt eine eigene Sektion (IV, 513-668). Auch in diesem Bereich zeigt sich die Vielfalt der Sozietaeten von gelehrten Akademien ueber oekonomische Gesellschaften bis zu literarischen Insitutionen und Salons. Um dies alles mit der Vokabel 'Sozietaetenbewegung' zu umgreifen, bedarf es in der Tat der grossen historiographischen Geste und des Optimismus, der Konnex mit den Gruendungsurkunden und ihren Idealen lasse sich immer wieder aufweisen.

Englands Rolle in der Sozietaetenbewegung wird als "insularer Sonderweg" begriffen (V, 669-836). Man kann hier an die Royal Society denken, die aus den international gepraegten Projekten der Buergerkriegszeit wie auch den Empfindlichkeiten der Restaurationsepoche hervorgegangen ist, aber auch an fruehe Formen von Frauengemeinschaften.

Der Fall der Vereinigten Niederlande bietet das Exemplum von Akademien in einer fruehneuzeitlichen Republik (VI, 837-928). Anders als in Frankreich oder Spanien gab es hier nicht die Moeglichkeit - und die Verfuehrung -, sich panegyrisch in den Dienst eines absoluten Monarchen zu stellen. So koennen Fallstudien wie die von Mieke Smits-Veldt privaten Akademien wie der von Samuel Coster nachgehen oder sozialgeschichtliche Untersuchungen wie die von Wijnand Mijnhardt die Herausbildung eines gebildeten Publikums studieren.

Skandinavien wurde oft vergessen in geistesgeschichtlichen Untersuchungen zur Fruehen Neuzeit, - hier nicht (VII, 929-950); und auch zu Ungarn und "der Welt der Slaven" gibt es eine Sektion, die nicht einmal klein ausgefallen ist (VIII, 951-1068). Dort geht es von der Rekonstruktion von Akademiebemuehungen im Ungarn der Renaissance bis zur Petersburger Akademie der Wissenschaften.

Schliesslich folgt der so heterogene deutsche Sprachraum (IX, 069-1698) - mit ueber sechshundert Seiten bei weitem der umfangreichste Teil. Der Bogen, der hier gespannt wird, reicht vom humanistischen Freundeskreis des Conrad Celtis bis zu Lessing und Wieland. Besonders hier wird deutlich, dass tatsaechlich der 'joachimitische' Anteil an der Sozietaetenbewegung nicht zu gering zu veranschlagen ist. So untersucht etwa Wilhelm Kuehlmann die Rosenkreuzerbewegung und kann in ihr die Ueberkreuzungen von Wissenschaft und reformerischer Utopie einer ecclesia spiritualis feststellen. Natuerlich darf die ´Fruchtbringende Gesellschaft´ nicht fehlen und auch nicht die Berliner Akademie der Wissenschaften, die von Conrad Grau, Barbara Bauer, Dominique Bourel und Heinz Dieter Kittsteiner aus je anderem Blickwinkel untersucht wird. So verschieden die Autoren (das gilt natuerlich fuer alle Beitraege), so verschieden das Interesse an Sozietaetenphaenomen, und so unterschiedlich die Ergebnisse. Doch diese Pluralitaet ist bei einem Band wie diesem, so praezise sein Programm ausgearbeitet und so energisch die Vernetzung der Beitraege angestrebt ist, nicht nur unvermeidlich, sondern auch zu begruessen.

Der Band schliesst mit einem der geographischen Gliederung entzogenen "Ausblick auf die Bildenden Kuenste" (X, 1699-1804). Man kann naemlich etwa architektonische Eigenheiten und Bedingungen akademischer Zusammenkuenfte zum Thema machen, oder die Rolle von Bildern und Statuen in diesen Akademien erwaegen. Das kann dann einige erhellende Fussnoten zum bisher Erreichten beisteuern.

Ob der Anspruch der Konzeption in jedem Beitrag eingeholt und verifiziert worden ist, muss hier nicht pauschal entschieden werden. Vielmehr sollte fuer den Band gelten, was Klaus Garber fuer die Einschaetzung der Sozietaeten selbst fordert: dass Anspruch und Ideal selbst signifikant sind, weil sie reale Konsequenzen nach sich ziehen. Das ist auch hier geschehen. Entstanden ist ein beeindruckendes, plurales Kompendium, wie es zu dieser Thematik kein zweites gibt, und das auf einem durchweg hohem wissenschaftlichen Niveau.

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