J. Leonhard u.a.: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert

Titel
Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert.


Autor(en)
Leonhard, Jörn; von Hirschhausen, Ulrike
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Die Forschung zum 19. Jahrhundert stand bis in die jüngste Zeit hinein im Zeichen des Aufstiegs von Nationalstaaten. Themen wie der Liberalismus, das Bürgertum oder die Arbeiterbewegung bezogen sich auf einen nationalgesellschaftlichen Rahmen. Seit kurzem häufen sich die Anfragen an diesen Analyserahmen. Die transnationale Geschichte richtet ihre Aufmerksamkeit auf eine durchgängig vorhandene Handlungs- und Deutungsebene, die quer zu den Nationalstaaten verlief. Globalisierung - so die These des Historikers Sebastian Conrad - war kein Phänomen des ausgehenden 20., sondern bereits des 19. Jahrhunderts. Eine andere Rückfrage zielt auf die europäischen und außereuropäischen Reiche, die ein gegenüber den Nationalstaaten ganz anderes Ordnungsmodell darstellten. Reiche prägten das 19. Jahrhundert mehr als es die historiographische Tradition der Nationalgeschichten bisher wahr haben wollte. Sie stellten nicht ein Überbleibsel aus einer anderen vergangenen systemischen Ordnung dar, sondern eine durchgängige Alternative politischer Selbstorganisation zu den Nationalstaaten. Das 19. Jahrhundert war weitaus mehr durch Reiche geprägt als es die Historiographie bisher angenommen hat. Für diese Anfrage an das nationalgeschichtliche Paradigma steht das Projekt von Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen zu Chancen und Krisen multiethnischer Reiche im 19. und frühen 20. Jahrhundert am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) der Universität Freiburg im Breisgau. Diesem Gegenstandsbereich galt bisher mehr die Aufmerksamkeit der britischen imperial history, weniger dagegen der kontinentalen oder der nordamerikanischen Geschichtsschreibung.

Nun liegen in einem schmalen Band eine Projektskizze und erste Ausgangsbeobachtungen vor. Programmatisch ist bereits der einleitende Satz gemeint. “Europäische Geschichte ist mehr als die Summe der europäischen Nationalgeschichten.” (S. 9) Zu ihr gehören auch die historischen Erfahrungen von Reichsstrukturen. Der Vorteil dieses Ansatzes wird deutlich. Das Projekt bricht mit jeder Form der modernisierungsgeschichtlichen Teleologie auf die nationale Existenzform als Norm und Ideal moderner Gesellschaften hin. Nicht mehr die Begriffe Aufstieg und Niedergang sollen die Empireforschung dominieren, sondern die Frage nach den Potenzialen und Grenzen der Empires. Das Projekt beschäftigt sich mit vier Reichsstrukturen: mit dem britischen Empire und dem habsburgischen, dem russischen und dem osmanischen Reich. Reiche sind für die Autoren gekennzeichnet durch Heterogenität, genauer “durch räumliche Größe, ethnische und religiöse Vielfalt, supranationale Herrschaft, eine Vielzahl heterogener Gebiete mit unterschiedlichem Rechtsstatus als Folge historischer Expansion und Anlagerung, durch unterschiedliche Abhängigkeitsverhältnisse dieser Gebiete zwischen Zentrum und Peripherie sowie schließlich durch weiche Grenzen und fluktuierende Grenzräume” (S. 10).

Die problemorientierte Synthese will eine vergleichende Empireforschung im deutschsprachigen Raum anstoßen. Dieses innovative Vorhaben wird auf mehreren Ebenen verdeutlicht. Die Autoren wählen den Vergleich entlang dreier Parameter, um mehr über die innere Dynamik der multiethnischen Reiche zu erfahren. Die Parameter des Vergleichs sind imperiale Inszenierungen und Repräsentationen, Verwaltung und die Statistik sowie Militär und Wehrpflicht. Die imperialen Repräsentationen konnten sich auf Dynastien wie in Großbritannien oder auf Herrscherpersönlichkeiten wie in Österreich-Ungarn beziehen. Die Hinkehr zur Person des immerwährenden Kaisers Franz Joseph als Integrationsfigur bezahlte das Habsburgerreich mit dem Zerfall dieser Legitimitätsressource nach seinem Tod 1916, ohne sie grundlegend erneuern zu können. Der Zensus war ein typisches Mittel rationaler (national-)staatlicher Politik. In Imperien dagegen schuf bereits die Frage Spannungspotenzial, was wo und bei wem gezählt werden sollte. In Habsburg sorgte gerade die neue statistische Zählkategorie Nation und Nationalität für Spannungen. Im indischen Fall zeigen die Autoren dagegen, anknüpfend an Susan Bayly, wie die Kolonisierten die Zählkategorie der Kaste als Merkmal der Selbstbeschreibung übernahmen.1 Die allgemeine Wehrpflicht, eigentlich eine typisch nationale Institution, wurde auch in Empires zur militärischen Innovation. Typischerweise setzte man die ethnisierten Verbände aber fern ihrer Heimat ein. Für das Potenzial der Stabilisierung blieb die Wehrpflicht insgesamt ambivalent. In Österreich-Ungarn wie im osmanischen Reich schuf sie mehr Probleme als Lösungen, was ihre flächendeckende Durchsetzung in sozialer Breite erheblich erschwerte. England gar führte sie erst im Ersten Weltkrieg ein. Im Ergebnis standen Empires von innen unter dem Druck der Nationalisierung, der im Ersten Weltkrieg schließlich systemsprengende Dimensionen erreichte.

Die untersuchten Parameter waren klassische Instrumente des Nationalstaats, was besonders für die Wehrpflicht und den Zensus galt. Rückt man Repräsentationen und Inszenierungen in die Nähe von Museen, landet man bei dem bekannten Kapitel 10 des Klassikers der Nationalismusforschung “Imagined Communities” von Benedict Anderson.2 Dass auf den drei Untersuchungsebenen der Trend zur Nationalisierung der Imperien also zu beobachten ist, ist schon methodisch zu erwarten. Die Dynamik von Reichen erfordert zumindest weitere Untersuchungsparameter. Für das Potenzial der Empires zu Stabilisierung und Integration vermisst man klassische imperiale Institutionen wie die Religion, die Krone, den Adel oder die Bürokratie. Einiges davon wird angedeutet bei der Inszenierung der Monarchien oder den Problemen der Verwaltungsreform. Empires stehen in diesem Band aber als Alternativen und nicht als Verlängerung der nationalstaatlichen Engführung des 19. Jahrhundert im Zentrum des Interesses. Religionen, Bürokratien und übernationaler Adel, ihre Flexibilität und ihr Wandel können Auskunft über Innovation oder Innovationsverweigerung geben. Welchen Beitrag leisteten universelle Religionen zur imperialen Integration? Wie veränderten sich die sozialen und kulturellen Rekrutierungsfelder der imperialen Bürokratien? Aber auch im Bereich der Politikgeschichte gab es imperiale Stabilisierungsversuche. Der Versuch eines föderalen Umbaus von Reichsstrukturen fand sich in Österreich-Ungarn nach 1861 und im britischen empire federalism. Zumindest zeitweise erschien er als ein erfolgversprechender Versuch der Stabilisierung.3

Damit stellen sich grundsätzliche Fragen zur vergleichenden Empireforschung. Leonhard und von Hirschhausen betonen zu Recht, dass die Empireforschung einen Erkenntnisvorteil gegenüber der national orientierten Historiographie des 19. Jahrhunderts bringen soll. Erweitern oder verändern sie lediglich den Gegenstand? Oder bringt die Beschäftigung mit den Empires eine neue analytische Perspektive mit sich, die nicht nationale, sondern übernationale Integration als Fluchtpunkt hat? Der programmatische Band läßt diese Frage letztlich offen. Er gibt wertvolle Hinweise, wie eine analytische Sicht auf die Empire-Potenziale aussehen könnte, benutzt aber nationalpolitische Institutionen, um übernationale Empires zu analysieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Susan Bayly, Caste, society and politics in India from the 18th to the modern age, Cambridge 1999; dies., Caste and Race in the Colonial Ethnography of India, in: Peter Robb, The Concept of Race in South Asia, Delhi 1995, S. 165-218.
2Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London Revised Edition 1991, S. 163-185.
3 Vgl. hierzu Michael Burgess, The British tradition of federalism, Madison 1995; Ged Martin, Empire Federalism and Imperial Parliamentary Union, 1820-1879, in: The Historical Journal 16. (1973) S. 65-92.