Cover
Titel
The Empire's New Clothes. A History of the Russian Fashion Industry, 1700-1917


Autor(en)
Ruane, Christine
Erschienen
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
$ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Emeliantseva, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich

Christine Ruanes Studie über Mode und Kleidung im Russländischen Imperium beweist, dass auch zu bereits relativ gut erforschten Epochen stets neue Erkenntnisse möglich sind. Ruane beschreibt in ihrem Buch in acht Kapiteln die Entwicklung der russländischen und sowjetischen Kleidungsindustrie von der Einführung eines westlichen Kleidungsstils durch Peter I. bis zum Bruch mit der „bürgerlichen“ Mode in der frühen Sowjetunion. Ruane erzählt die Geschichte der „Europäisierung“ und Selbstbehauptung Russlands in der Modewelt. Zugleich ist ihr Buch die Analyse der sozialen und kulturellen Implikationen von Kleidung und der russisch-sowjetischen Konsumkultur.

Eine spezifisch „russische Kleidung“, so hält Ruane in ihrer Einleitung fest, sei ein diskursives Konstrukt, das im Zeitalter des Nationalismus Möglichkeiten zur Identifikation bieten und gleichzeitig koloniale Macht demonstrieren konnte. Dies geschah etwa, als das „traditionelle russische Kostüm“ Elemente nicht-slawischer Kleidung aufnahm und diese für „russisch“ deklarierte. Die Monografie beginnt mit der Eingrenzung des Phänomens Mode durch die analytischen Kategorien Ethnizität, sozialer Status, Gender sowie den Bezügen zwischen Mode und dem Aufkommen des Kapitalismus.

Ruane beobachtet sozialen Wandel in der Gesellschaft des späten Zarenreichs am Übergang zur Konfektionskleidung aus industriell hergestellten Stoffen, die im Russland des späten 19. Jahrhunderts von breiteren Schichten getragen wurde und an westeuropäische Modeelemente angelehnt war. Diese „neue städtische Kleidung“, wie sie die Zeitgenossen nannten, konnte soziale Ambitionen und Abgrenzungen markieren sowie gleichzeitig soziale Unterschiede verschleiern und Hoffnungen auf ein besseres Leben wecken: Diese These entfaltet Ruane auf Grundlage der Archivalien zu Gewerkschaften des Staatlichen Archivs der Russländischen Föderation, der zeitgenössischen Presse sowie von Memoirenliteratur. Ruane illustriert ihre Analyse mit literarischen Werken wie etwa Gogols „Mantel” (S. 36) oder Krylows „Modeladen” (S. 133). Die Aussagekraft dieses Vorgehens jedoch ist fraglich, da das Spezifische literarischer Quellen unreflektiert bleibt.

Im ersten Kapitel geht Ruane den Anfängen der westlichen Kleidung in Russland nach: Hier sieht Ruane im Zusammenspiel von staatlichem Protektionismus und privater Initiative im Bereich der Mode und Kleidungsherstellung eines der raren Momente in der russischen Geschichte, wo Staat und Gesellschaft erfolgreich und längerfristig kooperierten (S. 41). Dieses Bild erscheint jedoch etwas zu harmonisch – die staatliche Zensur, auf die Ruane selbst zu sprechen kommt sowie bürokratische Trägheit behinderten die Arbeit der einzelnen Unternehmer erheblich. Der westliche Kleidungsstil wurde zudem nicht von allen gesellschaftlichen Gruppen begrüßt.

Das zweite Kapitel behandelt die Genderfrage sowie die zunehmende Feminisierung der Tätigkeit des Nähens in Russland. Ruane diskutiert an dieser Stelle die Probleme der Frauenbildung sowie die so genannte „Frauenfrage“ in Russland. Hier spielten Nähen und Schneidern eine zentrale Rolle: Selbst radikale Frauenrechtlerinnen wie Maria Wernadskaja rückten keinen Schritt von der Festlegung des Nähens als weibliche Domäne ab, ja sie schrieben diesen beiden Fertigkeiten sogar emanzipatorische Potentiale zu. Mit den Debatten um die „Frauenfrage“ und das Nähen wurden somit in Kreisen der progressiven Intelligenzija traditionelle Geschlechterrollen zementiert – so Ruanes These (S. 57).

Die aufkommende Massenproduktion von Kleidung von der Stange steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Hieran hatten zunächst ausländische Unternehmer den grösseren Anteil, wie die Autorin am Beispiel der österreichischen Firma Mandl’ & Mandl’ demonstriert. Mit der Massenproduktion von Kleidung entstand in Russland das Genre der Modezeitschriften und der Modepresse, deren Entwicklung von Ruane im vierten Kapitel ihrer Untersuchung dargestellt wird. Diese unterteilt sie in zwei Perioden: Von 1830 bis 1870 orientierten sich die Modemagazine an den Bedürfnissen der Elite, ab 1870 suchten die Verleger der Modepresse auch die Mittel- und gar die Unterschichten zu erreichen. Die Verfestigung von Geschlechterrollen führte dazu, dass diese Presse in erster Linie Frauen ansprach. Die ersten russländischen Modemagazine waren Nachahmungen der westeuropäischen und Eigenkreationen zugleich: Sie vermittelten den Frauen das Gefühl, Teil der kosmopolitischen und fortschrittlichen europäischen Kultur zu sein.

Im fünften Kapitel untersucht Ruane das Konsumverhalten im imperialen Russland und geht dabei dessen Funktion für nationale, soziale und lokale Zugehörigkeitsgefühle sowie Geschlechterrollen nach. Die Einführung „westlicher“ Läden und Kaufhäuser etwa führte in der Modepresse zu Debatten über „westliche“ und „russische“ beziehungsweise „asiatische“ Kauf- und Verkaufsstile. Auch im Bereich der Mode gab es somit also optimistische und pessimistische Befürworter sowie Kritiker der Modernisierung Russlands, die hier nun mit der Verbreitung westeuropäischer Kleidungs- und Konsumstile argumentierten. Bei der Analyse dieser Debatten weist die Autorin, leider nur in knappen Worten, darauf hin, dass die stereotypen Vorstellungen, die den Diskurs über die Europäisierung Russlands durch die westeuropäische Mode dominierten, die komplexe alltägliche Praxis stark verkürzt darstellten.

Ruane betont zu Recht, dass die Demokratisierung der Luxusgüter im ausgehenden Zarenreich keineswegs mit Demokratie zu verwechseln ist, sondern neue Hierarchisierungen mit sich brachte (S. 127). Die Unterschichten konnten vornehmlich indirekt – etwa beim Betrachten der Schaufenster von Modegeschäften – an den neuen Konsummöglichkeiten teilhaben. In der Tatsache, dass die Unterschichten traditionelle Kleidung aufgaben und sich einen westeuropäischen Kleidungsstil aneigneten, sieht Ruane aber dennoch eine „generelle Demokratisierung der Kultur“ (S. 132). Wie sich der Grad der Demokratisierung der spätzarischen Gesellschaft nun aber bemessen lässt, bleibt weiterhin offen, denn der Kleidungsstil der Unterschichten war klar erkennbar, und dies nicht nur in der Qualität der Kleidungsstücke. Kopftücher bei den Frauen, traditionelle Hemden, Stiefel und Schirmmützen bei den Männern markierten deutlich die Zugehörigkeit zur Welt der Bauern und Arbeiter. Nach Ruane boten folglich Bestellkataloge für moderne Kleidung demokratische Potentiale (S. 138). Angesichts der Unvereinbarkeit moderner Versandhäuser mit den Lebenswelten analphabetischer Bauern erscheint ein solcher Optimismus allerdings mehr als fraglich.

Das sechste Kapitel geht auf die Bedeutung der Kleidung für die Erfindung nationaler Identitäten ein. Die neue städtische Kleidung konnte sich trotz allem immer mehr verbreiten und verdrängte die selbstgewebten Kleider der Bauern. Dies löste bei den nationalistisch gesinnten Eliten Ängste vor einem Verlust nationaler Eigenart aus. Das “russische Kostüm“ gewann hierdurch eine neue Qualität und markierte ideologische Positionen. Wenn man nun, wie der Publizist Wladimir Stasow, im traditionellen russischen Hemd zu gesellschaftlichen Anlässen erschien, so war dies ein politisches Bekenntnis. Für nationalistisch gesinnte Kreise hatte Kleidung ein mobilisierendes Potential, wie Ruane anhand der neuen Militäruniform von 1881, der neuen russischen Oper sowie den Kostümbällen am Zarenhof aufzeigen kann.

Am Beispiel eines jüdischen Arbeiters, der zum russisch-orthodoxen Glauben übertrat, um Propaganda unter nicht-jüdischen Arbeitern zu führen, und sich selbst als „russischer Arbeiter“ ansah, gelingt es Ruane in ihrem siebten Kapitel, die Verflechtungen zwischen der jüdischen und russischen Arbeiterbewegung aufzuzeigen und diese Kategorisierungen zugleich in Frage zu stellen.

Nach der Revolution von 1905 erfassten die Auseinandersetzungen zwischen Nationalisten und Modernisten in Sachen Mode und Kleidung breitere Kreise. Insbesondere die linke Intelligenzija forderte die Annäherung von Mode an den Kleidungsstil der unterprivilegierten Schichten. Eine besondere Rolle spielten dabei die feministischen Kreise mit ihrer Forderung nach „hygienischer“ Kleidung ohne Korsette und nach mehr Selbstbestimmung der Frauen auch im Bereich der Kleidung. Zum anderen behandelt Ruane die direkten ökonomischen Folgen des Krieges für die Modebranche. Insbesondere die Einbußen im wirtschaftlichen Austausch mit Deutschland und Österreich waren hier empfindlich.

Einige Kleinigkeiten, wie etwa ein Übersetzungsfehler bei der Bildunterschrift auf S. 203 (Abb. 126) mindern den Wert des Buches nicht: Es ist eine flüssig geschriebene und reichlich bebilderte Kulturgeschichte der Mode und des Konsums im Russländischen Reich. Insbesondere die Analyse des Freizeit- und Konsumverhaltens der unteren städtischen und bäuerlichen Schichten bietet neue Beobachtungen für die Diskussion um die Modernisierung und „Europäisierung“ der spätzarischen Gesellschaft, konzentrierte sich die Forschung in diesem Bereich bisher doch vor allem auf die bürgerlichen Schichten.1

Anmerkung:
1 Vgl. Louise McReynolds, Russia at Play. Leisure Activities at the End of the Tsarist Era, Ithaca and London 2003.