Cover
Titel
Kreiskys Außenpolitik. Zwischen österreichischer Identität und internationalem Programm


Autor(en)
Röhrlich, Elisabeth
Reihe
Zeitgeschichte im Kontext 2
Erschienen
Göttingen 2009: V&R unipress
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 57,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter J. Bischof, Department of History, University of New Orleans

In seinem faszinierenden Buch „In Command of History“ beschreibt der Cambridge-Historiker David Reynolds wie Winston Churchill beim Schreiben seiner sechsbändigen Zweiten Weltkriegs-Memoiren sein eigenes Bild für die Nachwelt entworfen hat. Über Kontroversen während des Krieges angesprochen, meinte Churchill einmal: „I shall leave it to history, but remember that I shall be one of the historians”.1 Der Stab von Churchills Memoiren-Mitarbeitern wurde das “Syndikat” genannt, darunter auch Churchills begabter historischer Hauptberater, der junge Oxford-Historiker Bill Deakin.

Bruno Kreisky war ein äußerst umsichtiger Geschichtspolitiker – „ein Meister der Selbstdarstellung“ (S. 344). Das kommt besonders im letzten Kapitel von Elisabeth Röhrlichs Buch klar zum Ausdruck. Er ging wie Churchill vor, um der Nachwelt seine Vorstellungen über seinen Platz in der Geschichte zu diktieren. Auch Kreisky hatte sein eigenes „Syndikat“ eines Mitarbeiterstabes (S. 376), angeführt vom begabten jungen Historiker Oliver Rathkolb, der inzwischen als Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität Wien tätig ist und in dessen neuer Reihe dieser Band auch erschienen ist. Kreisky war bereits am Anfang seiner Kanzlerschaft in den frühen 1970er-Jahren, als die ersten Biographien über ihn erschienen sind, darauf erpicht, die Inhalte seiner Biographien durch gezieltes Zuspielen von ausgewählten Informationen über seinen Lebensweg zu beeinflussen (S. 374). In diesem Fall waren es Journalisten wie etwa Paul Lendvai, Victor Reimann und Karl-Heinz Ritschel, die solche lancierten biographischen Informationshäppchen bereitwillig und unkritisch verarbeiteten. Später übernahmen dann Kreiskys Mitarbeiter und Bewunderer die Mythen der journalistischen Schnellschreiber und verbreiteten sie als scheinbar gesicherte historische Erkenntnisse weiter.

In den 1960er-Jahren spielten Kreisky und Christian Broda führende Rollen beim Zustandekommen der Buchreihe „Das Einsame Gewissen“, die den österreichischen Widerstand und das Exil im Zweiten Weltkrieg paradigmatisch in den Vordergrund stellte (S. 175ff). Damit sollte die so genannte „Opferdoktrin“ der Gründerväter der Zweiten Republik – Österreich als erstes Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik - nun auch wissenschaftlich begründet werden.

Das Kreisky-Archiv und seine zweibändigen Memoiren (ein zusätzlicher Band erschien posthum) sind ein Glücksfall für die österreichische Zeitgeschichteschreibung, das soll hier klar gesagt werden. Keine andere politische Führungsgestalt hat den Historikern so reichhaltig biographisches Material („Ego-Dokumente“ in der Diktion dieser Arbeit) geliefert wie Kreisky. Mit Recht widmet die Autorin dem Zustandekommen der Kreisky-Memoiren ein separates Unterkapitel. Für Kreiskys Jahrhundert-Memoirenwerk schuldet ihm die Zunft Dank!2

In den methodisch interessanten Anfangs- und Schlußkapiteln erhebt diese Arbeit den Anspruch, implizit noch mehr zu sein, nämlich der Beginn einer Auseinandersetzung mit Kreiskys persönlicher Geschichtspolitik, die sich eben auch auf das Schreiben seiner Biographie erstreckt – also Kreisky in command of his history. Gerade hier hätte die Arbeit kritischer vorgehen können, macht sie doch klar, dass Kreisky tief im Fahrwasser der offiziellen Opferdoktrin steckte, mit seinem „Selbstbild der Opfer- und Widerstandsnation“ Österreich (S. 123ff., S. 393f.). Als Diplomat, Staatssekretär, Außenminister und schließlich als Bundeskanzler, der die Außenpolitik wie kein anderer dominierte, musste Kreisky den Mythos von „Österreich als Hitlers erstem Opfer“ nach außen hin vertreten, wollte er in der stillschweigend akzeptierten Konsensvergangenheitspolitik der Gründervätereliten der Zweiten Republik politische Karriere machen. Es ist verständlich, dass er als vom Austrofaschismus Verfolgter und dann als Exilant Österreichs Widerstand hervorstreichen wollte. Seine aktive Rolle in der Publikation der Reihe „Das Einsame Gewissen“ zeigt, dass er die Opfer- und Widerstandsdoktrin noch tiefer in der österreichischen Identität verankert sehen wollte – dies zu einem Zeitpunkt, als die junge „1968er“ Generation (inklusive seinem Sohn Peter) zaghaft begann, diesen Konsens in Frage zu stellen. Teil dieser Geschichtspolitik war es auch, die österreichische Tätergeschichte nicht aktiv zu erforschen bzw. zu unterdrücken.

Zur Geschichtspolitik der SPÖ – allen voran Kreiskys – gehörte es weiterhin, den Austrofaschismus als das größere Übel als den Nazismus darzustellen (S. 99), ein Geschichtsbild, das bei vielen Sozialisten bis zum heutigen Tage noch aktiv ist. Diese Arbeit deutet einige dieser Blindseiten Kreiskys an, sie geht aber nicht so weit, dessen Stillschweigen über weite Teile der österreichischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges und die fehlende Erinnerung daran kritisch zu hinterfragen. Die österreichische Zeitgeschichtsforschung hat die österreichische Tätergeschichte seit dem Rückzug Kreiskys aus der aktiven Politik und der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten zu einem zentralen Thema gemacht. Diese fehlende Auseinandersetzung mit der österreichischen Tätergeschichte mag auf Kreiskys persönliche Biographie zurückzuführen sein, so Röhrlich. Sie hat aber auch mit seiner Geschichtspolitik und der seiner Partei zu tun, bzw. dem Konsensparadigma der großkoalitionären Geschichtsschreibung. Kreiskys Auseinandersetzung mit Wiesenthal stellt nur die Spitze des Eisbergs einer tiefschürfenden österreichischen Tätergeschichte dar, die Wiesenthal ein Leben lang hartnäckig verfolgte und die den Opfermythos, vom dem kurioserweise auch Kreisky nie loslassen konnte, grundsätzlich in Frage stellte. Das analytische Gerüst von Röhrlichs Arbeit bewegt sich also in den pragmatischen Bahnen, die Kreisky mit seinem autobiographischen Werk vorgibt; Kreiskys blinde und beschwiegene Seiten werden nicht ausreichend exploriert.

Vielleicht wäre auch eine solche kritische Auseinandersetzung mit Kreiskys Geschichtspolitik zuviel verlangt, beschäftigt sich die Arbeit doch explizit mit Kreiskys außenpolitischen Leistungen.3 Röhrlich fasst die wichtigsten biographischen Stationen in Kreiskys Leben als Außenpolitiker kompetent zusammen. Sie widmet ein ausgiebiges Kapitel Kreiskys schwedischem Exil während des Zweiten Weltkrieges, wohl die beste Zusammenfassung dieses Lebensabschnittes in der biographischen Literatur zu Kreisky. Schweden als seine „Schule des Lebens“ ist eine überzeugende These von Röhrlich. Röhrlichs Arbeit ist dort ausgiebig, wo die bisherige Kreisky-Forschung Akzente gesetzt hat (der „Sozialistenprozess“), und dort dünn, wo die bisherige Kreiskyforschung nicht präsent ist (etwa die intellektuellen Prägungen an der Universität Wien, sein kurzes „Gastspiel“ in der Präsidentschaftskanzlei Körner, seine Zeit in der Opposition 1966-1970).

Das vielleicht spannendste Unterkapitel dieses Buches ist jenes zu „Westbindung trotz Neutralität“, das Kreiskys intellektuellen Prägungen gewidmet ist. Hier werden die Leitthemen des Tübinger „Amerikanisierungs- und Westernisierungsprojektes“ mit großem Gewinn auf Österreich zugeschnitten. Kreisky publizierte regelmäßig in der Zeitschrift FORVM, die von Friedrich Torberg herausgegeben und mit geheimen Mitteln der CIA über den „Kongress für Kulturelle Freiheit“ finanziert wurde (S. 133). Torberg schrieb auch regelmäßig vertrauliche Berichte über die politischen Entwicklungen in Österreich für die CIA (S. 136). Kreiskys intellektuelle Einbettung und Rolle im allsommerlichen „Europäischen Forum“ im Tiroler Bergdorf Alpbach kommt ausführlich zur Sprache (S. 139ff.). Besonders Kreiskys Rolle hinter der Bühne in der Organisation der Gegenpropaganda zum kommunistischen Weltjugendfestival 1959 in Wien bietet faszinierende Einsichten zu seinem rigidem Antikommunismus à la Torberg im Kalten Krieg. Kreisky arbeitete eng mit Eisenhowers „Propagandaminister“ C.D. Jackson zusammen, der für die westlichen Gegenpropaganda-Aktionen zum Weltjugendfestival auch CIA-Mittel lukrierte.4

In diesem Unterkapitel bietet Röhrlich das spannendste und innovativste Material für eine zukünftige intellektuelle Biographie Kreiskys. Röhrlichs Tübinger „Westernisierungs“-Ansatz bläst hier wie ein frischer Wind durch die staubige östereichische Zeitgeschichtsforschung, die biographische Zugänge schon seit langem sträflich vernachlässigt. Röhrlich bezeichnet dies zaghaft als das Fehlen „einer biographischen Tradition“ in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung (S. 21), bzw. nennt es nobel „biographische Zurückhaltung“ (S. 22).

Die „Themenschwerpunkte“ (Deutschland-, Nahost- und Nachbarschaftspolitik) von Kreiskys Außenpolitik folgen der traditionellen Kreisky-Biographik; am ehesten betreten die Ausführungen zu Kreiskys Entwicklungshilfepolitik Neuland. Kreiskys Rolle als Staatssekretär beim Zustandekommen des Staatsvertrages folgt dagegen traditionellen Erklärungen. Spannend hingegen ist der Hinweis im letzten Kapitel, wie Kreisky in seiner Biographie-schaffenden, „post-Bundeskanzler“-Altersphase eine immer größer werdende Bedeutung seines politischen Tuns für sich reklamiert (die restlichen Zeitzeugen waren schon längst aus dem Leben geschieden). Röhrlich vermerkt, wie Kreisky seine Rolle bei der Berliner Außenministerkonferenz 1954 oder beim Zustandekommen der Moskauer Neutralitätsformeln in der Schlussrunde der Staatsvertragsverhandlungen im Frühjahr 1955, betonte. Kreisky ist auch nie als Staatssekretär an der „Vorbereitung“ des Marshall-Plans in Österreich beteiligt gewesen, wie er später behauptete (S. 351). Die zahlreichen biographischen Hinweise auf die vielen „Überhöhungen“ im autobiographischen Schaffen Kreiskys stellen einen konkreten Beitrag dieser Arbeit zu einer kritischen Kreisky-Biographik dar.

Anmerkungen:
1 David Reynolds, In Command of History. Churchill Fighting and Writing the Second World War, New York 2005, S. 1.
2 Dies habe ich bereits in einer Besprechung der ersten beiden Bände der Kreisky-Memoiren betont, vgl. Günter J. Bischof, Review of 2 volumes of B. Kreisky's Memoirs, in: German Politics and Society 19,1 (1990), S. 94-102.
3 Zu Kreiskys Innenpolitik liegt jetzt eine umfangreiche Studie vor, vgl. Robert Kriechbaumer, Die Ära Kreisky. Österreich 1970-1983 in der historischen Analyse, im Urteil der politischen Kontrahenten und in Karikaturen von Ironimus, Wien 2004; vgl. auch Günter Bischof / Anton Pelinka (Hrsg.), The Kreisky Era in Austria, New Brunswick 1994.
4 Hugh Wilford, The Mighty Wurlitzer. How the CIA Played America, Cambridge, MA 2008.

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