D. Brandes u.a. (Hrsg.): Lexikon der Vertreibungen

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Titel
Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Brandes, Detlef; Sundhaussen, Holm; Troebst, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
801 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Als vor zehn Jahren eine kontroverse Diskussion über das vom Bund der Vertriebenen (BdV) geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ begann, entstand auch die Idee zu dem vorliegenden Lexikon. Alternativ zu dem Projekt des BdV und namentlich seiner Vorsitzenden Erika Steinbach wandte sich seinerzeit eine Gruppe von Historikern, zu der auch die Herausgeber gehörten, gegen eine nationale Fixierung auf die Deutschen als Vertreibungsopfer und plädierte für eine europäische Beschäftigung mit dem Thema Zwangsmigration als übernationalem Phänomen des 20. Jahrhunderts. Holm Sundhaussen brachte damals ein Lexikon der Zwangsmigrationen als einen ersten Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerung ins Gespräch. Aufgegriffen und gefördert wurde das Projekt vom „Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität“, das 2005 noch von der rot-grünen Bundesregierung als Gegenmodell zu einem nationalen „Zentrum gegen Vertreibungen“ ins Leben gerufen worden war1, allerdings nur langsam in Gang kam und heute in einem etwas unklaren Verhältnis zu der mittlerweile gegründeten Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ steht.

Was die europäische Dimensionierung angeht, war der Gegensatz zur Zentrums-Konzeption allerdings nicht so groß wie ursprünglich angenommen. Zumindest sollte die Ausstellung „Erzwungene Wege“ 2006 diesen Eindruck erwecken, in der die Vertreibung der Deutschen in ein breites Panorama von Zwangsmigrationen eingebettet wurde.2 Einen ähnlichen Ansatz wie die damalige Ausstellung verfolgt das nun vorliegende „Lexikon der Vertreibungen“, das mit über 300 Artikeln von mehr als 120 Autorinnen und Autoren eine große herausgeberische Leistung darstellt. Ausgehend von der These, dass die moderne Geschichte Europas „zu wesentlichen Teilen eine Geschichte ethnopolitisch motivierter und zumeist staatlich induzierter Zwangsmigration“ sei, wollen die Herausgeber „Schneisen zur Analyse, Kategorisierung und Periodisierung schlagen“ (S. 7). Unabhängig davon, wie man zu der These von einem Jahrhundert der Vertreibungen steht, scheint ein alphabetisch organisiertes Lexikon allerdings wenig geeignet zu sein, eine strukturierte Zusammenschau „dieses gewaltige[n] Vertreibungsgeschehen[s]“ zu geben, die nicht nur „Akteure und Opfer, Verlaufsformen und Wirkungen“ (S. 7) auflisten, sondern auch Ursachen und historische Kontexte aufzeigen, Verbindungen und Zusammenhänge herstellen sowie das Verhältnis unterschiedlicher Phänomene von Zwangsmigration vergleichend bestimmen müsste. War ein Hauptvorwurf gegen die „Erzwungenen Wege“, dass die Ausstellungsästhetik eine gleichmachende Tendenz befördert habe, statt auf die Unterschiede hinzuweisen3, so gilt das erst recht für eine alphabetisch strukturierte Enzyklopädie, die per se eine egalisierende Tendenz besitzt, was jedoch dem ersten Grundsatz der Herausgeber wiederum entgegenkommt, „alle Zwangsmigrationen in Europa gleichgewichtig zu behandeln“ (S. 8f.). Dass den Deutschen dabei ein etwas stärkeres Gewicht eingeräumt wird – allein 20 Artikel lauten „Deutsche aus…“ –, ist im Hinblick auf die Interessen des Lesepublikums verständlich, sollte im Fall der anvisierten Übersetzungen in andere Sprachen jedoch noch einmal bedacht werden.

Neben den Deutschen ist allerdings auch so ziemlich jeder anderen ethnischen Gruppe in Europa, die im 20. Jahrhundert von Zwangsmigration betroffen oder auch nur bedroht war, ein Artikel gewidmet. Kaum ein Leser wird von all diesen Gruppen gewusst haben: den Camen, einer muslimisch-albanophonen Gruppe von etwa 25.000 Personen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges wegen Kollaboration mit der Besatzungsmacht aus Griechenland nach Albanien vertrieben wurde; den rund 7.500 Karpapaken, turkmenischen Muslimen, die 1944 in der Sowjetunion aus kriegstaktischen Erwägungen „präventiv“ aus dem Südwestkaukasus nach Zentralasien umgesiedelt wurden; oder den Gagausen, einem christlich-orthodoxen Turkvolk in Rumänien, für das es von türkischer Seite in den 1930er-/1940er-Jahren anscheinend Umsiedlungspläne gab, die aber nie verwirklicht wurden.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Religion bzw. Konfession als kollektive Zuordnungsgröße auch im 20. Jahrhundert oft ein entscheidendes Kriterium darstellte, welches die These vom ethnozentrischen Zeitalter zumindest relativiert. Die dem Lexikon zu Grunde liegende Annahme von der ethnischen Homogenisierung der Nationalstaaten führt leider dazu, dass zum einen erzwungene Migrationen aus politischen, sozialen oder ökonomischen Gründen außen vor bleiben und bewusst nicht thematisiert werden; zum anderen entfällt ein vergleichender Blick in frühere Jahrhunderte. Hätte man diesen Blick gewagt, dann wäre auch ein räumlicher Zugriff möglich gewesen, der dem gesamteuropäischen Anspruch des Lexikons tatsächlich gerecht geworden wäre und sich nicht auf Mittel- und Osteuropa beschränkt hätte. Für den Versuch einer europäischen Erzählung ist es ein auffälliges Manko, dass Nord-, Süd- und Westeuropa kaum vorkommen. Für Frankreich beispielsweise kann lediglich auf Migrationsprozesse im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Algeriens verwiesen werden, wobei die „Algerier“, die mit dem französischen Besatzungssystem kollaborierten und denen ein eigener Artikel gewidmet ist, eindeutig nicht aus ethnischen, sondern aus politischen Gründen verfolgt wurden und deshalb nach Frankreich flohen. Das gehört allerdings schon in eine breiter angelegte Migrationsgeschichte, die zudem über die Grenzen Europas hinausgeht und sich von der Fixierung auf eine ethnische Homogenisierung als Erklärungsmuster lösen müsste. Die in der Sowjetunion der 1930er- bis 1950er-Jahre Umgesiedelten beispielsweise waren, wie in dem entsprechenden Artikel nachzulesen ist, nicht einmal zu einem Drittel Opfer „ethnischer Deportationen“ geworden. Und sowohl für die breiten Raum einnehmenden stalinistischen als auch für die nationalsozialistischen Bevölkerungspolitiken bildeten irgendwelche Nationalstaatskonzepte wohl kaum noch die entscheidende Kategorie.

Ein weiterer Vorwurf gegen die Ausstellung „Erzwungene Wege“ (und auch gegen das vor kurzem vorgestellte Stiftungskonzept) war das Nebeneinanderstellen von Vertreibungen und Völkermorden. Im Lexikon wird nun zwar einerseits theoretisch der kategoriale Unterschied zwischen Zwangsmigration und Genozid hervorgehoben, anderseits aber praktisch eine Nähe dadurch hergestellt, dass auch die Vernichtung der Juden sowie die Völkermorde an den Armeniern und an den Zigeunern (Porrajmos) behandelt werden. Zur Begründung heißt es im Vorwort nur knapp, diese Ereignisse hätten wie die Vertreibung der Deutschen und die anderen behandelten Zwangsmigrationen „im Kontext ethnischer Purifizierung“ gestanden (S. 8). In der Konsequenz dieser Grundannahme werden zum einen im Vorwort als „verwandte Nachschlagewerke“ (S. 10) an erster Stelle das von Wolfgang Benz herausgegebene „Lexikon des Holocaust“ sowie andere Sammelwerke zur Shoah genannt. Zum anderen stehen dann in der Liste der Personenartikel Politiker wie Edvard Beneš und Winston Churchill neben Verursachern von Völkermorden wie Enver Pascha und Adolf Hitler.

Erscheinen Vertreibung und Völkermord somit zwar als unterschiedlich, aber doch vergleichbar, weil im Kern vom selben Movens angetrieben, so bleiben andere Aspekte, die für einen übernationalen Vergleich sinnvoll wären, unterbelichtet. Das betrifft insbesondere die konkreten Ursachen, aber auch die Wirkungsgeschichte, die Integration, die kollektive Erinnerung und die Organisation von Vertriebenen. Nicht einmal dem Bund der Vertriebenen als dem wohl wichtigsten Akteur in der Bundesrepublik wird ein eigener Artikel eingeräumt (dafür aber ohne Begründung der Sudetendeutschen Landsmannschaft). Ob es in anderen Ländern vergleichbare Organisationen gab oder gibt, erfährt man nicht. Das Lexikon bleibt somit trotz vieler inhaltlich sehr fundierter Beiträge letztlich vor allem eine Auflistung. Eine Struktur, welche die heterogenen Phänomene und Prozesse in ihrer Besonderheit historisch situieren und vergleichbar machen würde, entsteht nicht.

Übrigens ist die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ schon mit einem eigenen Artikel vertreten. Es überrascht wenig, dass Andreas Kossert, der selbst nicht nur zu den Autoren des Lexikons gehört, sondern als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung auch maßgeblich mitverantwortlich ist für die kürzlich vorgestellten „Eckpunkte“ eines Ausstellungskonzepts4, den Band als „epochalen Beitrag“, „Meilenstein“ und „wissenschaftlichen Auftakt“ begeistert besprochen hat.5 Wie das Lexikon, so betrachten auch die „Eckpunkte“ die Flucht und Vertreibung der Deutschen im Kontext eines Jahrhunderts „ethnopolitisch motivierter Vertreibungen und Genozide“.6 Diese Perspektive, die von den unmittelbaren Ursachen und Umständen der Einzelereignisse abstrahiert und sie in einen größeren Rahmen stellt, in dem die historischen Verantwortlichkeiten in einem vermeintlich das Jahrhundert dominierenden ethnozentrischen Zeitgeist aufgehen, wird leider auch durch das vorliegende Lexikon nicht plausibler.

Anmerkungen:
1 Stefan Troebst, Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität. Eine zentraleuropäische Initiative zur Institutionalisierung des Vertreibungsgedenkens 2002–2006, in: Zeitgeschichte 34 (2007), S. 43-57.
2 Siehe dazu etwa Matthias Stickler: Ausstellungs-Rezension zu: Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts 10.08.2006-29.10.2006, Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3, 10117 Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 27.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=44&type=rezausstellungenngen> (7.11.2010).
3 Tim Völkering, Flucht und Vertreibung im Museum. Zwei aktuelle Ausstellungen und ihre geschichtskulturellen Hintergründe im Vergleich, Berlin 2008, S. 94f., S. 104.
4 Eckpunkte für die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und die geplante Dauerausstellung, 25.10.2010, online unter <http://www.dhm.de/sfvv/docs/Eckpunkte.pdf> (7.11.2010).
5 Andreas Kossert, Freske des Albtraums, in: ZEIT, 24.6.2010, S. 54; auch online unter <http://www.zeit.de/2010/26/L-P-Vertreibung> (7.11.2010).
6 Eckpunkte, S. 9.

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