A. Schwitanski: Die Freiheit des Volksstaats

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Titel
Die Freiheit des Volksstaats. Die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte und die deutsche Sozialdemokratie bis zum Ende der Weimarer Republik


Autor(en)
Schwitanski, Alexander J.
Erschienen
Anzahl Seiten
522 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Röwekamp, Center for European Studies, Harvard University, Cambridge

In „Die Freiheit des Volksstaats“ hat sich der Autor dem Vorhaben unterzogen, die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte im Zusammenwirken mit der Sozialdemokratie bis zum Ende der Weimarer Republik zu beschreiben. Bereits mit der Schwerpunktsetzung auf die Untersuchung der Grund- und Menschenrechte statt des Staatsorganisationsrechts fällt die Arbeit in dem breiten Gebiet der Forschungen auf, die sich mit dem Thema der Weimarer Verfassung beschäftigen. Diese Arbeiten untersuchen überwiegend, welche Gründe für das Scheitern der Weimarer Verfassung verantwortlich zu machen sind.1 Die meisten Studien zur Entwicklung der Grund- und Menschenrechte stammen wiederum aus dem Umkreis der Rechts- und Verfassungsgeschichte, sind zumeist deskriptiver Natur und dienen oft dazu, die Weimarer Grundrechte als positiven Traditionsbestand für die Entwicklung der bundesrepublikanischen Grundrechte nutzbar zu machen.2

Alexander Schwitanski geht es um mehr: Er möchte die Grundrechte und deren Rezeption in der Sozialdemokratie als Teil der Weimarer Geschichte begreifen. Dabei baut er auf den Ergebnissen einer Studie von Erich Fromm über die Lebenssituation von Arbeitern aus den Jahren zwischen 1929-1931 auf. Danach gaben alle befragten Sozialdemokraten an, dass sie die bürgerliche Freiheit in der demokratischen Republik am besten gewahrt sahen, während nur 26 Prozent ihre persönliche Freiheit für gesichert hielten.3 Während ersteres mehr die Fähigkeit betrifft, über die Belange der Gemeinschaft mit zu entscheiden, bedeutet die persönliche Freiheit den Handlungsraum, der dem Einzelnen für seine Entwicklung zur Verfügung steht. Statt sich also auf die bloße Untersuchung der Regierungsform zu beschränken, bedient sich Schwitanski dieser Unterscheidung, um das Verständnis der Menschenrechte in der Sozialdemokratie zu untersuchen. Gleichzeitig bemüht er sich erfreulicherweise auch, den Begriff der Menschenrechte zwischen theoretischer Idee und angewandtem Recht zu beschreiben, wie das jüngst in der Geschichtswissenschaft häufiger vorgeschlagen wird.4

In einem Bogen von der Entwicklung der Menschenrechte als integralem Erbe der Französischen Revolution bis zum Jahr 1918 beschreibt Schwitanski, wie sich das Grundrechtsverständnis der Sozialdemokraten – gleichzeitig mit der Neubestimmung des Verhältnisses der Sozialdemokratie zum Staat – bereits seit den 1860er-Jahren veränderte. Unter dem Eindruck der repressiven Maßnahmen des deutschen Bundes, über die Sozialistengesetzgebung einerseits sowie der Aufgabe naturrechtlicher Begründungsformen der Grundrechte in der gesamten Wissenschaft andererseits, verschob sich das Gewicht von den Vorstellungen rechtlicher Freiheit und Gleichheit. Es führte hin zu einem Begriff, der gleichbedeutend war für die Durchsetzung von Volkssouveränität oder von Volksrechten sowie einer idealen Neuordnung einer vernünftigen Ordnung durch Revolution.

Da eine Mehrheit der bürgerlichen Parteien im Reichstag die Grundlegung von Menschenrechten zurückwies, wurden aus den Volksrechten bald sozialdemokratische oder Arbeiterrechte. Mit der Ableitung der Menschenrechte aus der Autorität des Volkes konnten diese allerdings auch in den Machtbereich der staatlichen Gewalt verlegt werden. Damit ging deren universale Gültigkeit jedoch verloren. Gleichzeitig entwickelte sich auch ein neues Verständnis der kulturellen und historischen Prägung von Menschenrechten, was deren Universalität erneut relativierte. Statt sie als individuelle, universale Ansprüche zu verstehen, wurden sie nun als grundlegende Prinzipien der kollektiven Ordnung gedeutet. Zum Ende des 19. Jahrhunderts erst wurde das Menschenrechtsverständnis der Sozialdemokraten mit der herrschenden Staatsrechtslehre kompatibel. Der Erste Weltkrieg legte schließlich die bestehenden Schwächen bei der Durchsetzung von Menschenrechten offen und machte gleichzeitig deutlich, dass die Sozialdemokratie keine Konzepte aufzuweisen hatte, um ihnen Geltung zu verschaffen.

Diese Feststellung leitet Schwitanski in seinem Kapitel über die Entstehung der Grund- und Menschenrechte in der Weimarer Nationalversammlung. Auch die Sozialdemokraten gestalteten dort Menschenrechte lediglich im Sinne eines bloßen politischen Ordnungsprogramms aus. Der Verfassungsgeber gewährte zwar programmatisch den persönlichen Schutz, doch der gerichtlichte Schutz individueller Anspruchsrechte wurde nur angedacht. Für die Sozialdemokratie im Besonderen, aber natürlich auch für die junge Republik im Allgemeinen erwuchs aus der bloßen Formulierung der Grundrechte jedoch das Problem, dass einzelne Individuen durchaus Ansprüche auf die Umsetzung der nur programmatisch gedachten Grundrechte anmeldeten. Anhand der Debatte um die Abschaffung der Todesstrafe, der Gleichheit von Frauen sowie der Fürstenenteignung zeigt der Autor, wie die Sozialdemokraten einerseits Erwartungen auf die Umsetzung der versprochenen Rechte schürten, gleichzeitig aber aus politisch strategischen Erwägungen heraus sich nicht eindeutig zu den Menschenrechte der Betroffenen bekannten. Damit erzeugten sie bei der eigenen Basis Unverständnis und Enttäuschung.

Weiterhin untersucht Schwitanski das dialektische Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher und persönlicher Freiheit bei Gericht und an der Universität anhand der Rechtsprechung des Reichsgerichts sowie der Werke von Sozialdemokraten wie Gustav Radbruch, Hermann Heller, Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer. „Das Ende des Volksstaats“ und die Reaktion der Sozialdemokratie auf die zunehmende Einschränkung der Menschenrechte ab 1930 werden im letzten Kapitel behandelt. Die Sozialdemokratie ging auch unter diesem Druck nicht den letzten Schritt, um die Menschenrechte aus dem eigenen Teildiskurs in die Universalität zu erheben. Dies gelang erst, wie Schwitanski in seinem Resümee zeigt, als die Exil-SPD im Erschrecken über das Dritte Reich sowie im Zuge der eigenen Orientierung auf den Westen erkannte, dass die Sicherung der persönlichen Freiheit für die Demokratie offenbar unverzichtbar war. Die Sozialdemokraten hatten trotz grundsätzlicher Wertschätzung der persönlichen Freiheit versäumt, rechtzeitig für den effektiven Schutz dieser Rechte zu sorgen. Verantwortlich dafür zeigte sich just das widerstreitende Verhältnis von bürgerlicher und persönlicher Freiheit, die im sozialdemokratischen Verständnis ständig um Anerkennung rangen und letztlich immer wieder zugunsten der bürgerlichen Freiheit ausfielen.

Die Arbeit führt den Leser angenehm lesbar durch die Komplexität des historischen Prozesses der Menschenrechtsentwicklung in der Sozialdemokratie und vermag trotz der Konzentration auf eine Partei auch die allgemeinen Entwicklung des Menschenrechtsverständnisses bis zum Ende der Weimarer Republik besser und differenzierter auszuleuchten als die meisten der bisherigen Arbeiten. Die Sympathie des Autors für die Sozialdemokratie ist spürbar, doch er verlässt dabei keinen Moment den Standpunkt des kritischen Beobachters. Der Fußnotenapparat zeigt deutlich, wie sicher der Autor seine Quellen und die Sekundärliteratur beherrscht, ohne letztere zu reproduzieren. Besonders beeindruckt, dass Schwitanski, der von Haus aus Historiker ist, das juristische Material ohne Probleme einzuordnen und zu gewichten weiß. Dies macht die Arbeit nicht nur für Historiker, sondern auch für Juristen mehr als lesenswert.

Anmerkungen:
1 Jochen Gaile, Menschenrecht und bürgerliche Freiheit, Marburg 1978; Dieter Grimm, Mißglückt oder glücklos? Die Weimarer Reichsverfassung im Widerstreit der Meinungen, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, Münster 2002, S. 151-161; Walter Pauly, Die Stellung der Weimarer Verfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Eberhard Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben? Tübingen 1999, S. 1-21.
2 Klaus Kröger, Der Wandel des Grundrechtsverständnis in der Weimarer Republik, in: Gerhard Köbler (Hrsg.), Geschichtliche Rechtswissenschaft: ars tradendo innovadoque aequitatem sectandi. Festschrift für Alfons Söllner, Gießen 1990, S. 298-312; Michael Stolleis, Weimarer Kultur und Bürgerrechte, in: Andreas Rödder (Hrsg.), Weimar und die deutsche Verfassung. Zur Geschichte und Aktualität von 1919, Stuttgart 1999, S. 89-103.
3 Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Stuttgart 1980.
4 Kathleen Canning, Between Crisis and Order: The Imaginary of Citizenship in the Aftermath of War, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Ordnungen in der Krise: Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007, S. 215-228; Ruth Lister, Dialectics of Citizenship, in: Hypatia Nr. 12, 1997, S. 6-21.

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