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Titel
SS und Secret Service. "Verschwörung des Schweigens": Die Akte Karl Wolff


Autor(en)
Lingen, Kerstin von
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Bettina Birn, Den Haag

Seit etwa 15 Jahren ist der Begriff „Transitional Justice“ im Umlauf – als Bezeichnung für alle Schritte, die nach dem Zusammenbruch eines verbrecherischen Systems ergriffen werden können, wie Gerichtsverfahren oder politische Säuberungen. Kerstin von Lingen beschäftigt sich in ihrem Buch mit einer Abfolge von „Transitional Justice“-Maßnahmen, den hochrangigen SS-Führer Karl Wolff betreffend, was einen vergleichenden Blick auf deren Effizienz erlaubt. Meist werden auf Grund der geringeren politischen Beeinflussbarkeit internationale Gerichte positiver bewertet als nationale. Der Fall Wolff unterstützt diese Ansicht nicht. Wolff, ehemals Himmlers rechte Hand, Hauptamtschef des „Persönlichen Stabs Reichsführer-SS“, danach „Höchster SS-und Polizeiführer“ in Italien, befand sich in westalliiertem Gewahrsam, saß in Nürnberg aber nicht auf der Anklagebank, sondern im Zeugenflügel, wurde relativ milde entnazifiziert, kehrte danach in die Freiheit zurück, bis er 1962 von den westdeutschen Behörden verhaftet und 1964 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Wie Lingen auf der Basis zahlreicher Archivrecherchen darstellt, lag der Grund für die glimpfliche Behandlung Wolffs in Nürnberg darin, dass er von Allen Dulles (zunächst im US-Geheimdienst OSS, später Chef des CIA) protegiert wurde. Der Hintergrund dazu ist die Teilkapitulation der deutschen Truppen in Italien, die zwischen Dulles (damals OSS-Vertreter in der Schweiz), Wolff und der Wehrmachtsspitze in Italien ausgehandelt worden war. Lingen beschreibt das politische und strategische Umfeld der Kapitulationsverhandlungen (Tarnname „Operation Sunrise“), wobei am wichtigsten war, dass die westalliierten Geheimdienste gegen Ende des Krieges eine Konfrontation mit der Sowjetunion auf sich zukommen sahen. Nach der Besetzung durch die Rote Armee wurden Länder im kommunistischen Sinne politisch umgestaltet; dies schien auch in Italien möglich zu sein, besonders nachdem 1945 Triest, entgegen vorheriger Abmachungen, von Titos Partisanenverbänden besetzt wurde. Die westlichen Alliierten sahen sich in einem Wettlauf mit der Roten Armee nach Berlin. Als Hindernis auf diesem Wege erschien die so genannte „Alpenfestung“, wo die Naziführung ein Zentrum des Widerstands bilden wollte. Eine Kapitulation an der italienischen Front war aus alliierter Sicht deshalb von großem Interesse, weil dadurch Truppen frei werden und auf dem Balkan oder in Deutschland eingesetzt werden konnten. Die Schweiz, auf deren Boden und mit deren diskreter Unterstützung die Kapitulationsverhandlungen stattfanden, hatte ebenfalls ein Interesse daran, Unruhen im oberitalienischen Raum zu vermeiden.

Man ist über die Motive der deutschen Unterhändler auf Vermutungen angewiesen: Sie dürften sich zwischen dem Wunsch bewegt haben, den Krieg abzukürzen, und dem Versuch, die eigene Haut zu retten. Sicher ist, dass es gegen Kriegsende eine ganze Reihe Kontaktangebote von Seiten der SS und der Sicherheitspolizei gab, angeführt von Himmler selbst. Wolff nahm, nach Lingens Einschätzung, ein erhebliches Risiko auf sich und kooperierte in vielfacher Weise mit dem OSS, was bis zur Einschleusung eines alliierten Funkers in Wolffs Hauptquartier ging (S. 71).

Das Abkommen kam erst am 2. Mai 1945 zustande, also wenige Tage vor der allgemeinen Kapitulation – das minderte seine praktische Bedeutung. Es hatte aber Symbolwert. Zwischen Dulles und seinen Mitarbeitern und Wolff hatte sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Wichtiger für den Entschluss, Wolff vor gerichtlicher Bestrafung zu schützen, war aber Eigeninteresse. Die Kapitulationsverhandlungen waren vor dem sowjetischen Bündnispartner geheimgehalten worden, das OSS hatte zudem zeitweise recht selektiv nach Washington berichtet. Dulles und sein Kreis hatten also gute Gründe, Wolff zum Schweigen zu verpflichten.

Im zweiten Teil beschreibt Lingen die Positionen der beteiligten Länder zur Aburteilung von Naziverbrechern. Die USA hatten sich auf umfassende gerichtliche Aburteilung und Entnazifizierung festgelegt. Großbritannien war weniger ambitioniert; in Italien wurden vordringlich Verbrechen an den eigenen Truppen abgeurteilt. Die Italiener – bestrebt, sich vom Bündnispartner zum Opfer der Deutschen zu wandeln – waren zunächst sehr an der Verfolgung deutscher Besatzungsverbrechen interessiert, dämpften ihren Eifer allerdings wegen der Gefahr einer Auslieferung von italienischen Beschuldigten an Länder wie Jugoslawien.

Ihren eigenen Grundsätzen zufolge hätten die US-Behörden einen SS-Führer von Wolffs Rang vor Gericht stellen müssen, schon weil es belastende Dokumente gegen ihn gab. Das OSS arbeitete in der Anfangsphase mit der US-Anklagebehörde in Nürnberg zusammen – das gab Dulles und seinem „Sunrise“-Freundeskreis die Möglichkeit, Wolff aus der Schusslinie zu ziehen. Er wurde vom amerikanischen in britischen Gewahrsam transferiert, danach in der Britischen Zone entnazifiziert, wo die Verfahren weniger strikt waren. 1948 erhielt er eine Strafe von fünf Jahren, wurde aber wegen seiner vorherigen Haftzeit entlassen. In einem auf politische Säuberung ausgerichteten und von den Besatzungsmächten initiierten Verfahren fiel das Eintreten einflussreicher alliierter Kreise für einen Beschuldigten schwer ins Gewicht.

Danach folgte die dritte Etappe der „Transitional Justice“-Maßnahmen. Die 1958 gegründete Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg begann Vorermittlungen gegen Wolff, die 1964 zu seiner Verurteilung vor dem zuständigen Landgericht München II führten. Lingen führt aus, dass zuvor mangelnder politischer Wille einem Verfahren im Wege gestanden habe: „Wenn es, wie im Fall Wolff, doch noch zu einem Prozess kam, ist dies zumeist auf extensive Medienkampagnen bestimmter Interessengruppen, meist von Opferseite, zurückzuführen, die von Persönlichkeiten wie Tuviah Friedman und Simon Wiesenthal ermuntert und unterstützt wurden. Mit dem Eichmann-Prozess 1962 kehrte das Grauen der Judenvernichtung ins Bewusstsein der deutschen und der Weltöffentlichkeit zurück, und es kam zu einer Prozesswelle in Deutschland.“ (S. 250f.)

Da solche Interpretationen in jüngster Zeit zur nicht mehr hinterfragten Wahrheit geworden sind, soll darauf etwas genauer eingegangen werden. Politischer Wille war sicherlich wichtig, aber für den Erfolg von Strafverfahren nur ein Faktor unter anderen. Das lässt sich am Wolff-Verfahren gut demonstrieren. Im Kern ging es um einen Briefwechsel mit dem Reichsverkehrsministerium, in dem Wolff erfolgreich auf die beschleunigte Deportation von „Angehörigen des auserwählten Volkes“ nach Treblinka drang. Der Briefwechsel hatte schon dem Nürnberger Tribunal vorgelegen; es bedurfte aber weiterer Archivdokumente und Zeugenaussagen, schon um Wolffs Position innerhalb der SS zu klären. Diese erforderliche historische Forschungsarbeit entsprach nicht dem normalen Aufgabenfeld eines Staatsanwalts, war aber in dem der Zentralen Stelle gegebenen Rahmen möglich. Politischer Wille war für die Gründung der Zentralen Stelle ausschlaggebend; weiterer Erfolg in den Ermittlungen beruhte auf jahrelanger Kleinarbeit. Medienkampagnen waren nicht geeignet, dazu positiv beizutragen. Der Ludwigsburger Staatsanwalt datierte zudem den Ermittlungsbeginn auf den 2. März 1960 – also deutlich vor dem im April 1961 eröffneten Eichmann-Prozess. Ludwigsburg arbeitete eng mit dem ebenfalls stark engagierten Münchner Staatsanwalt zusammen. Aber dessen politischer guter Wille hätte nicht zu einer Anklageschrift geführt, wenn er nicht auf die in Ludwigsburg zusammengetragenen Materialien, deren Kenntnis der geschichtlichen Tatsachen, von Parallelverfahren, Archiven und deren Auslandsverbindungen hätte zurückgreifen können.

Lingen zufolge trug der israelische Holocaust-Überlebende Tuviah Friedman wesentlich zum Erfolg der Ermittlungen bei (S. 172, S. 189-192, S. 197, S. 250f.). Man sollte persönliche Betroffenheit nicht mit Sachkenntnis gleichsetzen. Friedmans Interventionen bestanden in diesem Fall, wie auch in zahlreichen anderen, in der Übersendung längst bekannter oder nicht fallspezifischer Dokumente. Zudem vertrat er die irrige Meinung, dass Wolff in der Periode nach Heydrichs Tod das Reichssicherheitshauptamt geleitet habe.

Der Fall Wolff, den Kerstin von Lingen in ihrem Buch eingehend nachzeichnet, ist spannend, aber ungewöhnlich. Auch andere hohe SS-Führer, wie Erich von dem Bach-Zelewski oder Otto Winkelmann, waren in Nürnberg inhaftiert und wurden nicht belangt. Hier lagen die Gründe nicht im Schutz durch den Geheimdienst, sondern darin, dass sie sich als Zeugen zur Verfügung gestellt hatten oder ihre Beteiligung an Verbrechen nicht erkannt worden war. Die Anklagebehörde in Nürnberg war sich zudem bewusst, dass sie einige exemplarische Verfahren durchführen, aber nicht flächendeckend alle Nazitäter aburteilen konnte. Darin unterscheidet sie sich nicht von den Bemühungen um „Transitional Justice“ in der Gegenwart.

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