C. Goeschel: Suicide in Nazi Germany

Cover
Titel
Suicide in Nazi Germany.


Autor(en)
Goeschel, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 30,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franka Maubach, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Den Suizid im Dritten Reich zum Thema einer wissenschaftlichen Studie zu machen, lenkt den Blick auf das vereinzelt-einsame Individuum in einer Gesellschaft, die sich vor allem als Massen- und Massenmordgesellschaft einen Namen gemacht hat. In seiner knappen, eindringlichen Studie führt Christian Goeschel eine lange Reihe einsamer Entscheidungen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, vor und arbeitet dabei deren historische Bedingtheit heraus. Der Autor, gegenwärtig Fellow am Birkbeck College in London, richtet seine Aufmerksamkeit sowohl auf die Verfolgten des Nazi-Regimes als auch auf die Nationalsozialisten selbst und legt auf diese Weise gegenläufige Konjunkturen der Hoffnungslosigkeit bloß: Wenn die einen Hoffnung schöpften, sank der Mut der anderen. Je weiter die nationalsozialistische Machtpolitik ausgriff und sich etablierte, desto hoffnungsloser wurde die Lage der vom Regime Verfolgten, was den Entschluss, sich selbst zu töten, befördern konnte. Andersherum lösten die nahende Niederlage 1944/1945 und dann das Kriegsende geradezu eine Selbstmordepidemie unter nationalsozialistischen Führungskadern wie einfachen Volksgenossen und Volksgenossinnen aus. Die Nachricht vom Suizid Adolf Hitlers und Eva Brauns wirkten hier ebenso als Katalysator wie die Angst vor der Rache der Roten Armee und die generelle Hoffnungslosigkeit am Kriegsende.

Goeschel vereint die Geschichte der Verfolgten des Regimes wie der Nationalsozialisten selbst unter einer gemeinsamen Perspektive und schreibt auf diese Weise ein Kapitel jener „integrierten Geschichte“, die ganz unterschiedliche Erfahrungsorte im Nationalsozialismus gleichermaßen umfasst.1 Indem der Autor das Phänomen des Suizids konsequent historisiert, wendet er sich gegen Auffassungen, die ihn als ausschließlich individuell-persönliches, ahistorisches Schicksal und als Folge vor allem psychischer Anomalien ¬– „the product of timeless frailties“ (S. 1) – verstehen und knüpft an die Arbeit des Soziologen Emile Durkheim zum Selbstmord an.2 Durkheim hatte in einer auf materielle und soziale Begründungsfaktoren ausgerichteten Theorie drei Typen von Selbstmorden herausgearbeitet: den egoistischen, den altruistischen und den anomischen. Während der egoistische Selbstmord aus einem Mangel an sozialer Integration resultiere (Durckheim folgerte daraus, dass in Zeiten des Kriegs und gesamtgesellschaftlicher Mobilisierung die Zahl der Selbstmorde sinke) und der altruistische als Opferakt für die Gesellschaft zu verstehen sei, eignet sich nach Goeschel – obwohl alle drei Kategorien relevant für seine Untersuchung seien – besonders der dritte Typus für eine genuin historische Untersuchung zum Selbstmord im Dritten Reich: Diese Form der Selbsttötung sei als Konsequenz aus einer totalen Umwertung gesellschaftlicher Normen, einer restlosen Umwälzung der allgemein geltenden und Sicherheit versprechenden Ordnung zu verstehen. Diese theoretische Orientierungshilfe gerät im empirischen Hauptteil etwas aus dem Blick und wird insgesamt nicht voll ausgeschöpft, da Goeschel sich explizit lediglich auf den anomischen Selbstmord bezieht.

Goeschel historisiert den Selbstmord auf drei unterschiedlichen Ebenen: einer diskurs-, einer sozial- und einer individualgeschichtlichen, und zeigt sich damit als Vertreter einer multiperspektivischen Analyse wie als Vertreter jenes mittlerweile üblichen Methodenpluralismus, der die Auswertung von statistischen Daten und die Interpretation autobiografischer Dokumente in einem gemeinsamen Rahmen vollzieht. Allerdings bleibt er bei alldem ein ganz zünftiger Historiker, der seine Erkenntnisse fast ausschließlich aus unveröffentlichtem Archivmaterial gewinnt und sich so mindestens auf seiner dritten Ebene der Möglichkeit begibt, individuellem Leben und Sterben über einen längeren Zeitraum hinweg nachspüren zu können. Die polizeilichen Selbstmordakten, mit denen er arbeitet und die manchmal mit Abschiedsbriefen angereichert sind, erlauben bisweilen nur einen sehr eingeschränkten, eindimensional perspektivierten und punktuellen Blick auf die einsame Entscheidung zum Selbstmord und dessen Motive. Teilweise folgt in den entsprechenden Abschnitten eine „case study“ der nächsten, sodass sich im knappen Stil und schnellen Wechsel von Selbstmord-„Fällen“ das Individuum verliert.

So fehlt die Langzeitperspektive auf das Individuum, um zeigen zu können, wie der Entschluss zur Selbsttötung in einer spezifischen historischen Situation reifen konnte. Es fehlt zudem – jedenfalls für die Bedürfnisse der rezensierenden Leserin – ein Blick auf diejenigen Freitode (etwa Paul Celans, Jean Amérys oder Bruno Bettelheims), die erst nach 1945 vollzogen wurden. Goeschel geht deren Untersuchung mit der Bemerkung aus dem Weg, dass die Forschung sich zuweilen zu einseitig auf die Verfolgungserfahrung als Motiv bezogen habe, während bei diesen Selbstmorden auch andere, gegenwärtigere Beweggründe eine Rolle gespielt haben könnten. Es wäre gerade eine spannende Frage gewesen, ob und inwieweit das so war. Im Falle des Schriftstellers und Essayisten Jean Améry hätte sich dieser Zusammenhang auf einem breiten Schriftfundament produktiv und über einen langen Zeitraum hinweg untersuchen lassen. Dass Goeschel Amérys zwei Jahre vor seinem Tod 1976 erschienene Schrift „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“ weder explizit zitiert noch in seinem Literaturverzeichnis aufführt, erstaunt auch deswegen, weil Amérys Konzeption eines selbstbewusst-freien Entschlusses, das eigene Leben zu beenden, dicht an Goeschels Überlegungen liegt.3 Eine Ausweitung des Untersuchungszeitraums in die Nachkriegszeit, in der das Echo nationalsozialistischer Gewalt in den Menschen nachhallte, wäre in jedem Fall eine interessante Option gewesen.

Stattdessen hat Goeschel – mit gutem Grund – seine Untersuchung um die Vorgeschichte in der Weimarer Republik erweitert, weil sich hier ein Selbstmorddiskurs ausprägte, der für die Folgezeit von einiger Bedeutung sein sollte. Die steigenden Selbstmordzahlen in der Weimarer Republik wurden von den Zeitgenossen mit der Umwälzung bestehender Ordnungen, allgemein mit Säkularisierung und Modernisierung, konkret mit der Kriegsniederlage und dem Versailler Vertrag sowie mit den wirtschaftlichen Rezessionsschüben in Verbindung gebracht. Es waren gerade die Republikgegner und namentlich die Nationalsozialisten, die für diese hohe Suizidrate das Weimarer System verantwortlich machten und versprachen, die Zahl durch ihre eigene Regierungspolitik zu senken. Es begann ein sozial-darwinistischer Diskurs zu dominieren, der Selbstmord biologistisch erklärte und mit ererbten Degenerationserscheinungen in Zusammenhang brachte. Selbstmord folgte in dieser Sichtweise konsequent aus einer genetisch bedingten Schwäche des Individuums.

Dieser in der Weimarer Republik ansetzende Diskurs hatte im Nationalsozialismus manifeste Folgen. Während „Volksgenossen“ vom Selbstmord abgehalten werden sollten, galt der Selbstmord von „Gemeinschaftsfremden“ als geradezu legitime (und erwünschte!) Handlung. Es war nur eine sehr dünne Linie, die zwischen Selbstmord und Euthanasie gezogen wurde: Der 1941 aufgeführte Film „Ich klage an!“ setzte eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau, die mithilfe ihres Mannes Selbstmord begehen wollte, zur Rechtfertigung der Euthanasiepolitik in Szene. Hier wurde der Suizid von „Gemeinschaftsfremden“ öffentlich als Akt im Sinne der Volksgemeinschaft interpretiert und die Euthanasie in diesen Zusammenhang einer Reinigung des „Volkskörpers“ gerückt; hier ging es wirklich um „Selbst-Mord“. Goeschel arbeitet die Konturen dieser rassistisch begründeten Thematisierung des Selbstmords heraus: Während Gegner gerade in den Anfangsjahren des Regimes in den Tod getrieben, „suizidiert“ wurden, wie der Autor so treffend schreibt („’suiciding’ was a particularly common strategy in the Third Reich’s early years“, S. 86), wurden Selbstmorde von Volksgenossen tunlichst verschwiegen. Die Politik des „Suizidierens“, die in der instabilen Anfangsphase auch dazu angetan war, juristische Verfolgung zu verhindern, machte mit der Festigung und Ausweitung der nationalsozialistischen Macht einer Politik Platz, die eine immer weitergehende Verfügungsgewalt über die Körper der Opfer und die absolute Macht über deren Leben und Sterben beanspruchte: In den Konzentrationslagern wurden die Insassen wenn möglich davon abgehalten, sich selbst zu töten – um sie ermorden zu können.

Es wundert bei der Anlage der Studie nicht, dass Goeschel allen gegenwärtigen Forschungskonzeptionen von einer Volksgemeinschaft, die in erster Linie durch Konsens statt durch Terror zusammengehalten wurde und die Verfolgung und Massenmord gemeinsam ins Werk setzte, skeptisch gegenübersteht. Sein Fokus auf dem Suizid zeigt einerseits die weitgehende Macht des staatlich verfügten Terrors, Menschen in den Tod zu treiben, andererseits aber auch die Macht des Individuums, sich diesem Zugriff mit dem letzten Mittel des Freitods zu entziehen. Allerdings geht Goeschel in seiner kritischen Rezeption der Forschungsliteratur sehr weit – und zu weit in seinem Kapitel „Wartime suicides, 1939-1944“, in dem er zeigt, wie sich auch die einfache Bevölkerung durch Selbsttötung gegen die totale Mobilisierung und Disziplinierung der Bevölkerung im Sinne der Kriegführung zur Wehr setzte. Er wendet sich damit gegen die „now fashionable hypothesis [...] that the behaviour of ‚ordinary Germans’ during the Second World War is best understood in terms of consent and collaboration with the regime. Powerful, individual cases of suicide cast into doubt this argument and emphasize the significant role of Nazi terror in keeping the German population at bay” (S. 120). Schon Detlev Peukert hatte aber in seiner längst klassischen Arbeit über „Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde“ den unauflöslich-dialektischen Zusammenhang von Mittun und Terror aufgezeigt. Und auch die jüngsten Arbeiten zur Volksgemeinschaft, wie beispielsweise ein gerade von Michael Wildt und Frank Bajohr herausgegebener Sammelband, betonen durchweg jenen für die Funktionsfähigkeit des Regimes notwendigen Konnex.4 Man könnte sogar sagen, dass gerade die Selbstmordepidemie der Jahre 1944/45 das Zusammenwirken von Konsens und Terror allfällig zeigt: Ihren Zerstörungswillen richteten die Exekutoren nun gegen sich selbst. Die inhärente Selbst-Destruktivität des Regimes, die auch Goeschel beschreibt, ließen den Suizid von einer außergewöhnlichen Tat zur kurzfristigen Normalität werden – die einsame Entscheidung wurde so zu einer Entscheidung der Vielen, zu einem massenhaften Selbst-Opfer für die ersehnte Volksgemeinschaft. Dies belegt einmal mehr, was Goeschel mit seiner Studie, die 2006 den Walter Laqueur-Preis erhielt, insgesamt eindrücklich zeigt: dass das Phänomen des Suizids ein historisches ist und auf diese Weise immer wieder neu Gestalt gewinnt.

Anmerkungen:
1 Zur integrierten Geschichte vgl. Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007.
2 Vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt am Main 2006 [im frz. Original 1897].
3 Vgl. Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 2008 [zuerst 1976].
4 Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zum Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009.

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