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Titel
Such Freedom, If Only Musical. Unofficial Soviet Music During the Thaw


Autor(en)
Schmelz, Peter J.
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 47,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inga Blanke, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Viele Historiker verbinden das Ende des politischen „Tauwetters“ in der Sowjetunion mit der Entmachtung Chruschtschows, spätestens jedoch mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei im August 1968. Peter J. Schmelz zeigt in seiner Studie, die erstmals die kompositorische Praxis der zeitgenössischen Musik in der Sowjetunion erforscht, dass sich der erneute „Frost“ für das Gebiet der Musik nicht in diesen Jahren verorten lässt. „Such Freedom, If Only Musical“ zeichnet nach, wie weit das Tauwetter in der kompositorischen Praxis reichte. Erst mit Schostakowitschs Tod 1975 ist das „musikalische Tauwetter“ laut Schmelz wirklich beendet.

Diese zwei Jahrzehnte nutzte die um 1930 geborene neue Komponistengeneration, um mit dodekaphonen, seriellen und aleatorischen Kompositionsarten zu arbeiten. Schmelz vollzieht diesen Trend anhand der Entstehung, der Entwicklung und der Bedeutung der Neuen Musik in der Sowjetunion nach. In der näheren Betrachtung konzentriert er sich auf die Städte Moskau, Leningrad, Kiew und Tallinn, als den wichtigsten kulturellen Zentren der Sowjetunion, sowie auf die dort lebenden und arbeitenden Komponisten Andrei Wolkonskii, Edisson Denissow, Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt und Walentin Silwestrow. Anhand von Rezeptionsanalysen ihrer Kompositionen und Uraufführungen zeigt der Autor die große Bedeutung der neuen Komponistengeneration für das zeitgenössische Musikleben der Sowjetunion in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren auf.

Zu Beginn der Analyse (2. Kapitel) betrachtet Schmelz die Kompositionsausbildung an den sowjetischen Konservatorien, indem er die Unterrichtsinhalte und die Studienerfahrungen der untersuchten Komponisten darstellt. Er bezieht sich zumeist auf eine Reihe von Interviews, die er mit ihnen geführt hat, und untersucht dabei im Speziellen, welchen musikalischen und kompositorischen Einflüssen die Komponisten ausgesetzt waren. Trotz beginnenden „Tauwetters“ hatten die Studenten im Kompositionsstudium kaum Möglichkeiten, sich von den Dogmen des sozialistischen Realismus zu befreien. Neue Musik war nicht Bestandteil des Studiums. Erst nach ihrem Studium begann die wirkliche Auseinandersetzung mit der musikalischen Moderne. Denissow nennt diese Erfahrung das „second conservatory“ (S. 40). Musikalisch prägend für die junge Komponistengeneration waren vor allem die Besuche von Glenn Gould 1957 und Igor Strawinskii 1962 sowie die zahlreichen Besuche des Komponisten Luigi Nono.

Im 3. Kapitel gelingt es Schmelz sehr eindrucksvoll, die ersten Jahre der „unofficial music“ in ihrer Prägung durch staatliche Eingriffe und musikästhetische Vorstellungen darzustellen und mit kompositorischen Interpretationen zu verbinden. Dafür stellt der Autor Andrei Wolkonskii als Pionier der neuen Generation sowjetischer Neuer Musik in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren in den Mittelpunkt. Nach einem biographischen Einstieg folgt eine Auseinandersetzung mit seinen frühen dodekaphonen Kompositionen und ihrer Rezeption im staatlichen Kulturbetrieb. Die offizielle Ablehnung dieser Werke und die dadurch folgenden Schwierigkeiten in seiner weiteren Arbeit prägten nicht nur Wolkonskii. Auch die übrigen Komponisten seiner Generation erlebten in den folgenden Jahren staatliche Zurückweisung und den Boykott ihrer Stücke. Nichtsdestotrotz entwickelten die „jungen Komponisten“ ihren eigenen Stil und war eines ihrer Stücke erst einmal aufgeführt, hatte es auch in der Sowjetunion und vor allem im Westen Erfolg. Leider vernachlässigt Schmelz, welchen enormen Einfluss Auszeichnungen im Westen auf die Anerkennung im Osten hatten.

Die meisten kompositorischen Werke der „jungen Komponisten“ wurden zunächst nicht aufgeführt. Eine Ausnahmeerscheinung war in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre die Leningrader Uraufführung von Edisson Denissows dodekaphonem Stück „Die Sonne der Inka“. Ihr widmet sich Schmelz in seinem 4. Kapitel. Nach erfolgreicher Uraufführung und zahlreichen Erfolgen in Westeuropa strafte der sowjetische Komponistenverband Denissow mit böswilligen Attacken ab, die schließlich auf die gesamte Gruppe der "jungen Komponisten" ausgeweitet wurden. Zu wenig passten ihre kompositorischen Ausdrucksweisen, die sich immer weiter von tonalen Bezügen lösten, in die sowjetische Doktrin des sozialistischen Realismus.

Das 5. Kapitel beschäftigt sich mit der Aufführungspraxis Neuer Musik und dem Konzertleben in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Peter J. Schmelz verdeutlicht die inkonsequente Durchsetzung der offiziellen Richtlinien und deren Auswirkungen auf die kompositorische Praxis sowie Möglichkeiten für die so genannten „jungen Komponisten“, ihre Stücke aufzuführen. Die Komponisten ließen sich durch die offizielle Ablehnung ihrer Arbeit nicht entmutigen, sie fanden Alternativen wie private Konzerte in Wohnungen oder halb-offizielle Konzerte. Letztere wurden durch einzelne etablierte Musiker ermöglicht, die zeitgenössische Stücke in ihre Konzertprogramme aufnahmen (S. 207). Leider fehlt in Schmelz’ Arbeit eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem hohen Stellenwert des Komponistenverbandes, obwohl sie an dieser Stelle angebracht und interessant wäre. Besonders vor dem Hintergrund, dass nahezu alle „jungen Komponisten“ seit Beginn der 1960er-Jahre im Verband Mitglied waren. Dieser bestimmte in der Sowjetunion den musikpolitischen Alltag und hatte daher sehr großen Einfluss auf die kompositorische Praxis, ganz besonders aber auf die Existenz der Nachwuchskomponisten sowie auf die zeitgenössische Musik.

Sehr ausführlich werden die unterschiedlichen kompositorischen Entwicklungen von Pärt, Schnittke, Silwestrow und Gubaidulina in den 1960er- und 1970er-Jahren im 6. Kapitel erörtert. Durch mehrere Kompositions- und Notenbeispiele werden serielle und aleatorische Einflüsse aufgezeigt. Besonders detailreich werden hier die stilistischen Wenden bei Silwestrow in die Neo-Romantik und bei Pärt in den religiös inspirierten Minimalismus verdeutlicht. Im 7. Kapitel widmet sich Peter J. Schmelz der kompositorischen Entwicklung Denissows und Wolkonskiis in den 1970er-Jahren. Erneut geraten diese in Konflikt mit den nun wieder offensiv agierenden sowjetischen Behörden.

Abschließend setzt Schmelz das Ende des musikalischen Tauwetters mit zwei signifikanten Ereignissen in Zusammenhang (8. Kapitel): Erstens sieht er die Auswanderung Wolkonskiis im Jahre 1973 als entscheidenden Wendepunkt an: „With Volkonsky's exit, unofficial music lost one of its most outspoken und visible personalities“ (S. 297). Leider führt Schmelz die Hintergründe von Wolkonskiis Emigration kaum aus, sondern widmet sich schnell dem zweiten Schlüsselereignis, der Premiere von Schnittkes 1. Sinfonie im Jahr 1974. Hier stellt er sehr ausführlich Entstehungsmotive, Aufbau der Komposition und die Ereignisse um die Uraufführung dar. Die 1. Sinfonie entstand zwischen 1969 und 1972 und vereint nach eigenen Aussagen des Komponisten alle musikalischen Entwicklungen der Tauwetterzeit. Peter J. Schmelz definiert dieses „monumental work and its final funereal movement act as a summary of the Thaw in music and also acknowledge[s] the beginning of the period of Stagnation“ (S. 304).

Peter J. Schmelz ist ein gut lesbarer Überblick über die Entwicklung der musikalischen Moderne in der Chruschtschow- und frühen Breschnew-Zeit gelungen. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass in der Analyse die Rolle des Komponistenverbandes zu wenig aufgenommen wurde. Als Möglichkeit hätte sich eine Analyse der Rezeption in der Verbandszeitschrift „Sowetskaja Musyka“ angeboten. Die Zeitschrift spiegelt sowohl die offizielle Musikpolitik, als auch liberalere Tendenzen in der Tauwetterperiode wieder.

Nichtsdestotrotz liefert die Studie dem Leser eine intensive Auseinandersetzung mit der Entwicklung der sowjetischen „unofficial music“ anhand einer detailreichen Beschreibung einzelner Komponistenpersönlichkeiten und Werkanalysen. Besonders positiv muss hervorgehoben werden, dass der Autor seine Forschungsfrage nicht nur historisch, sondern auch musikwissenschaftlich durchleuchtet hat. Neben den Ergebnissen einer breiten Archivrecherche und zahlreichen Interviews werden seine Thesen so auch durch Kompositionsbeispiele belegt. Dieses vielschichtige methodische Herangehen sorgt für ein besonders kurzweiliges Lektüreerlebnis.

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