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Titel
Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft


Autor(en)
Robbe, Tilmann
Reihe
Formen der Erinnerung, Band 39
Erschienen
Göttingen 2009: V&R unipress
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Berger, School of Languages, Linguistics and Cultures, University of Manchester

Erinnerung und Erinnerungsorte sind ‚in’. Wie Pilze schießen die Bände zu Erinnerungskulturen aus dem Boden, und auch die theoretische Literatur zu Fragen von Erinnerung und Geschichtskultur hatte in den letzten Jahren Hochkultur. Ein Band, der versucht, etwas Ordnung in das zunehmend dichtere Dickicht der Erinnerungsgeschichten zu bringen, ist von daher hochwillkommen.

In der Einleitung bemüht sich Robbe, einige Schneisen in diverse Ansätze zur Erinnerungsgeschichte zu schlagen. Dabei geht es ihm vor allem darum, die unterschiedlichen Konzeptionalisierungen von „Gedächtnis“ in ihren Einflüssen auf die Geschichtsschreibung auszuleuchten. Er weist luzide nach, wie sich die „Gedächtnisorte“ in der deutschen Geschichtswissenschaft eingebürgert haben und welchen Einfluss insbesondere die Kulturwissenschaften auf diesen Prozess hatten. In Anlehnung an Etienne François und Hagen Schulze versteht Robbe Erinnerungsorte als „symbolische Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Erinnerung“. Er unterscheidet dabei „Gedächtnisorte“ von „Erinnerungsorten“. Während erstere abgelegte Bedeutungsschichten bezeichnen, die mit Hilfe von „archäologischen“ Untersuchen wieder freigelegt werden können, sind letztere einer „unaufhörlichen Aktualisierung“ ausgesetzt, wobei die Produktion von Bedeutungen immer schon einhergeht mit ihrer jeweiligen Dekonstruktion.

Im ersten substantiellen Kapitel lässt Robbe die Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses Revue passieren. Dabei konzentriert er sich auf die Klassiker, Maurice Halbwachs und Aby Warburg, und zieht von dort eine Linie zu Jan und Aleida Assmann. Er betont, dass Warburg keine geschlossene Konzeption eines kollektiven Gedächtnisses hatte. Erst mit Halbwachs komme es zu einer Systematisierung der Überlegungen zur sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Robbe arbeitet heraus, dass Halbwachs nie von einem homogenen Gruppengedächtnis ausging, sondern unter kollektivem Gedächtnis immer die gegenwartsbezogenen Rekonstruktionen von Vergangenheit als miteinander konkurrierenden Sinnentwürfen verstand. Erst mit den Assmanns sei es zu einer kulturwissenschaftlich unterfütterten Theorie des kollektiven Gedächtnisses gekommen, wobei Robbe eine vorzügliche Einführung in diese facettenreiche und komplexe Theoriebildung bietet.

Danach widmet Robbe ein ausführliches Kapitel den lieux de mémoire von Pierre Nora, der sich in seinen theoretischen Ausführungen stark an Halbwachs angelehnt, aber auch Ideen von Frances Yates und Friedrich Nietzsche aufgenommen habe. Robbe zeichnet die Entstehung des Konzepts nach, analysiert die theoretischen Grundpfeiler und vergisst nicht, Noras zentrale Stellung zwischen Verlagswesen und Akademie zu erwähnen, um den Erfolg der lieux de mémoire zu erklären. Er argumentiert überzeugend, dass Nora mit seiner Form der Erinnerungsorte eine moderne Nationalgeschichte vorgelegt habe, die, wie die alte Nationalgeschichte, eine Aufgehobenheit in der Vergangenheit zum Ziel hat. Ein kulturpessimistischer Ton nostalgischer Wehmut durchziehe von daher die konzeptionellen Überlegungen Noras, der offensichtlich an dem Verschwinden eines traditionellen französischen Nationalbewusstseins leide. Die Gedächtnisorte werden zu einer Form der Kanonbildung, die wiederum zur Rekonstitutierung eines Nationalbewusstseins beitragen will.

Im vierten Kapitel geht es von Frankreich nach Deutschland, wo François und Schulze Noras Konzept adaptiert haben. Robbe betont die Unterschiede der „deutschen Erinnerungsorte“ zu den französischen „lieux de mémoire“. François und Schulze hätten den Begriff maßgeblich bereichert, indem sie die theoretischen Erörterungen der Assmanns mit in die Konzeptionalisierung der Erinnerungsorte eingebracht haben. Während Thomas Nipperdey und Reinhart Koselleck bereits vor Nora mit Begriffen von Erinnerung und kollektiver Identität operierten, sei es bei Michael Borgolte zu einer ersten produktiven Aneignung des Noraschen Konzepts in Deutschland gekommen. Doch erst mit François und Schulze wurde – so Robbe - ein vergleichbares Großprojekt aus der Taufe gehoben. Robbe macht deutlich, dass sich die Herausgeber deutlich von Noras Anspruch, eine identitätsstiftende moderne Form von Nationalgeschichte zu betreiben, absetzen und stattdessen eine reflektiertere und kritischere Sicht auf Nationalgeschichte bieten wollen. Insgesamt, wird, laut Robbe, in den deutschen Erinnerungsorten eher eine kaleidoskopische, und damit nach vorn hin offene, ergänzungsfähige Nationalgeschichte geliefert, während Nora viel stärker Kanonbildung betreibt. Man ist hier versucht zu fragen, inwiefern der von beiden Herausgebern getragene Normalisierungsdiskurs der deutschen Geschichtswissenschaft nach der Wiedervereinigung, mit anderen Worten, die These, die Deutschen seien endlich auf dem Weg zu einer ‚normalen Nation’, nicht doch letztendlich auch die deutschen Erinnerungsorte zum integralen Bestandteil einer identitätsstiftenden Nationalgeschichte macht, die eben auf einer solchen Normalisierung des historischen Gedächtnisses in Deutschland besteht. Leider geht Robbe auf diesen kritischen Einwand nicht ein.

Im fünften Kapitel wird die Karriere des Begriffs der Erinnerungsorte in nicht-nationalen Kontexten verfolgt. Von vernachlässigten Gruppen, wie den Gastarbeitern, die weder bei Nora noch bei François und Schulze eine Rolle für die nationalen Erinnerungsorte spielen, über lokale und regionale Identitäten (Beispiele: Schleswig-Holstein, Saar-Lor-Lux-Raum, Hildesheim, Jena) bis hin zu Epochen, wie der Antike, oder transnationalen Einheiten, wie Europa: Überall feierten die Erinnerungsorte fröhliche Auferstehung, wobei auffällig sei, dass es bei all diesen Versuchen kaum zu weitergehenden theoretischen Überlegungen kam. Es scheint, als ob gerade die Theoriedefizite und die Vagheit des Konzepts von den Erinnerungsorten ein wesentlicher Grund für ihre wachsende Beliebtheit bei verschiedenen Gruppen war, die sich auf der Suche nach kollektiver Identitätsbildung befanden. In Osteuropa, wo es nach dem Ende des Kalten Krieges keinen Mangel an Versuchen historischer Identitätsbildung gab, haben die Erinnerungsorte dagegen bislang kaum Nachahmungen gefunden, was vielleicht, wie Robbe vermutet, in der Tat an einem Mangel an ethnographischer Distanz zur Vergangenheit liegt.

Im sechsten und siebten Kapitel werden die schweizerischen und österreichischen Versuche analysiert, das Konzept der Erinnerungsorte für die jeweilige National- aber auch Lokalgeschichte fruchtbar anzuwenden. In der Schweiz waren es vor allem Guy P. Marchal und Georg Kreis, die sich mit einer Aktualisierung dieses Konzepts beschäftigt haben. Marchals „Schweizer Gebrauchsgeschichte“ analysiert scharfsinnig Schweizer Geschichtsmythen, während Kreis ebenfalls eine Dekonstruktion dieser Mythen in nationalpädagogischer Absicht betreibt. Die sehr selbstkritische und reflektierte Darstellung Schweizer Nationalgeschichte im nationalhistorischen Museum der Schweiz in Zürich spiegelt auch die Wirkmächtigkeit dieses kritischen Blicks auf die eigene Nationalgeschichte. Eingehend setzt sich Robbe mit Marchals Erinnerungsorte-Projekt in Luzern auseinander, das zum ersten Mal versuchte, Erinnerungsorte nicht willkürlich zu setzen (durch Intellektuelle), sondern durch Befragung empirisch zu bestimmen. Das auch theoretisch ambitionierte Projekt, das Anregungen der französischen, deutschen und österreichischen Diskussion um Erinnerungsorte aufgriff, verdient es in der Tat, viel stärker als bisher auch in der internationalen Forschung wahrgenommen zu werden.

Die österreichische Diskussion um Gedächtnisorte wurde wesentlich geprägt von einer Forschergruppe um Moritz Csáky, der besonders die nationalstaatliche Fixierung der Debatten um Gedächtnislandschaften kritisch kommentierte und darauf abhob, dass gerade für Mitteleuropa die gegenseitige Durchdringung und Vermischung nationaler Räume konstitutiv gewesen sei. Von daher könne der Gedächtnisraum dieser Region nur in transnationaler Absicht vermessen werden, Theoretisch ging Csáky auch viel stärker als andere Projekte von der literaturwissenschaftlichen Prämisse aus, dass es sich bei Gedächtnisorten zunächst um „Texte“ handele, die nicht so sehr in ihrer Autorschaft, als vielmehr in ihren Lesmöglichkeiten und -varianten zu untersuchen seien. Bedeutungsschichten und Mehrdeutigkeit würden somit für Erinnerungsorte konstitutiv. Wie bereits in Frankreich und Deutschland, so gab es auch in Österreich eine massive Debatte um den Einfluss einer Literatur zu Erinnerungsorten auf die nationale Kanonbildung. Bei aller Betonung, keine nationale Kanonbildung vornehmen zu wollen, scheinen Großprojekte zu Erinnerungsorten immer wieder in die Falle einer solchen Kanonbildung zu laufen.

Nach der eingehenden Diskussion einer ziemlich beispiellosen Karriere des Konzepts der Erinnerungsorte fragt Robbe im Schlusskapitel nochmals nach der Nützlichkeit dieses Forschungsfeldes. Er betont dabei zu Recht die Vielfalt der Ansätze, die Notwendigkeit, Erinnerungsorte immer im Plural zu denken, die Verbindungen von Erinnerungsorten zu Gruppenidentitäten, das Problem der jeweiligen Auswahl und die Schwierigkeiten, einen affirmativen Zugang zur Vergangenheit und eine Form von Kanonbildung zu vermeiden. Insgesamt legt Robbe mit diesem Band eine differenzierte, gut lesbare und ausgesprochen spannende Reflexion eines der wichtigsten Konzepte der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der letzten zwanzig Jahre vor, der man ein breites Leserpublikum wünschen kann.

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