A. Wakefield: The Disordered Police State

Cover
Titel
The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice


Autor(en)
Wakefield, Andre
Erschienen
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 36,52
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justus Nipperdey, München

Andre Wakefield will uns die Wahrheit über die deutschen Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts erzählen. Er will sie vom Sockel stoßen, ihre großen Konzepte von Ordnung und Gemeinwohl als leere Phrasen entlarven, die nur der Propaganda dienten. Denn eigentlich sollten sie nur die fürstliche Finanzverwaltung in ein gutes Licht rücken und eben dort den Autoren eine Anstellung sichern. Um dies zu zeigen hält sich Wakefield nicht mit den Traktaten und Kompendien der Kameralisten auf, sondern fördert ihr tatsächliches Verhalten und ihre Geschäftspraktiken aus den Archiven zutage. Die so rekonstruierte Praxis widerspricht diametral den hehren Grundsätzen der Kameralwissenschaft. Vielmehr entsprechen die untersuchten Autoren, allen voran Johann Heinrich Gottlob von Justi, genau dem Bild des schlechten Kameralisten oder „Plusmachers“, das sie selbst als abschreckendes Beispiel gezeichnet und inbrünstig verurteilt hatten. Doch die Heuchelei ist für Wakefield nicht im Charakter der einzelnen Personen begründet, sie stellt den Wesenskern des Kameralismus dar. Er sei ein öffentlicher Diskurs, der vorgebe, die Geheimnisse der Kammer zu enthüllen, diese aber in Wirklichkeit verdecke: „Police ordinances and cameralist texts might dwell on the ‚common good‘ and the ‚general welfare,‘ on how the interests of the wise prince coincided with the interest of his subjects. But in the secret sphere of the Kammer, where it was a matter of filling the duke’s treasury with silver, there was no time for that.“ (S. 137)

Nicht ohne Grund leitet sich „Kameralismus“ von „Kammer“ ab. Denn dieser war ein Ableger der Kammer, die alles den fiskalischen Interessen, dem schnellen Gewinn unterordnete. Für Andre Wakefield ist der Kameralismus daher weder Wirtschaftstheorie noch Wirtschaftspolitik, beides kommt im Buch daher auch kaum vor. Er ist für ihn vielmehr die Kunst der Abschöpfung. Daher nehmen die Naturwissenschaften, die die bessere Ausnutzung der Ressourcen versprechen, eine zentrale Stellung ein: „Many of the cameral sciences were natural sciences.“ (S. 183, Fn. 15) Diese erstrangige Bedeutung der Naturkunde für das Wesen des Kameralismus stellt die zweite große These des Buches dar. Dabei geht der Autor keineswegs davon aus, dass auf diese Weise wissenschaftliche Erkenntnis gefördert oder ökonomischer Fortschritt durch Einsatz der Naturwissenschaft hervorgebracht worden sei. Ganz im Gegenteil hätten sich die Kameralisten immer wieder in gescheiterte Projekte verrannt, wenn sie versuchten ihre wissenschaftlichen Kenntnisse in der Praxis anzuwenden. Indem die Kameralisten die Naturwissenschaften ihrem Fächerkanon einverleibten, unterwarfen sie diese den gleichen utopischen Ordnungsvorstellungen. Deren Irrealität und ihr strategischer Einsatz sei den Praktikern bewusst gewesen, es handelte sich um eine rhetorische Übung wie in den anderen Bereichen des Kameralismus: „the dishonesty of the Kammer has been inscribed into the literature of science and technology.“ (S. 25)

Wakefield illustriert seine Thesen an vier Fallbeispielen, die er jeweils in einem Kapitel darstellt. Alle erzählen vom Scheitern von Ordnungsbemühungen bzw. dem rein propagandistischen Einsatz kameralistischer Prinzipien. Drei von ihnen beschäftigen sich mit kameralistischen Bildungseinrichtungen und stellen deren tradierte Erfolgsgeschichten auf den Kopf.

Zunächst untersucht er das Bergwesen (Kap. 2), das die eigentlich Quintessenz des Kameralismus darstelle: „Mining officials were the Ur-cameralists.“ (S. 27) Nirgendwo sonst werde die Verbindung von guter Ordnung und dem Streben nach Erhöhung der finanziellen Erträge so deutlich wie hier. Doch all die elaborierten Versuche zur Verbesserung der Bergwerke und vor allem der dort tätigen Menschen scheiterten. Die Gründung der Bergakademie in Freiberg war nach Wakefield keineswegs der Versuch, echte Experten heranzuziehen, die die Erträge aufgrund ihrer geologischen und technologischen Kenntnisse erhöhen konnten. Stattdessen ging es darum, Beamte auszubilden, die einzig und allein das fiskalische Interesse der Kammer vertreten sollten. Dazu waren keine echten Kenntnisse gefragt, sondern rhetorische Fähigkeiten, um private Investoren von der erhofften Profitabilität der Bergwerke zu überzeugen. War in diesem Fall die Ausbildung absichtlich der Kammer unterstellt und der Universität entzogen, bietet Göttingen das Gegenbeispiel (Kap. 3). Dort wurde die kameralistische Ausbildung in die Universität integriert. Auch hier ging es nach Wakefield nicht um die Ausbildung kenntnisreicher Kameralisten. Vielmehr sei die Etablierung der kameralistischen Ausbildung selbst ein fiskalisches Projekt gewesen. Sie sollte Göttingen für Studenten attraktiv machen und auf diese Weise Geld ins Land bringen. Nur deswegen sei auch Justis Anstellung erfolgt. Seine eigenen Bergbauprojekte durfte er nicht angehen, nachdem die erfahrenen Praktiker aus dem Harz diese abgelehnt hatten.

Anders in Preußen: Hier wurde Justi 1765 gleichzeitig Berghauptmann und privilegierter Pächter größerer Eisenwerke. Seine nur zweijährige Tätigkeit endete mit Einkerkerung und Tod in der Festung Küstrin. In einer herrlichen Schilderung rekonstruiert Wakefield erstmals diese berühmte Episode (Kap. 4) und kommt zu einem vernichtenden Urteil über Justi. Sein Handeln widersprach allen Prinzipien, die er in seinen Veröffentlichungen herunterbetete. So missachtete er etwa die nachhaltige Waldbewirtschaftung, die er als Markenzeichen des guten Kameralisten dargestellt hatte, weil sie ihm zusätzliche Kosten bereitet hätte. Seine Buchführung war so chaotisch, dass die nachfolgende Untersuchungskommission das Geschehen nicht nachvollziehen konnte. Justi erweist sich als der „bad cameralist“ (S. 110) schlechthin.

Schließlich untersucht der Autor die Physikalisch-ökonomische Societät zu Lautern und die berühmte Kameral Hohe Schule dortselbst (Kap. 5). Wiederum zeigt er das Versagen der Theoretiker in der Praxis. Das Versuchsgut der Societät machte so große Verluste, dass es schließlich verkauft werden musste, um die Societät zu retten. Die ebenfalls neu gegründete Manufaktur wurde zwar erfolgreich, aber nicht wegen, sondern trotz der Einmischung der Professoren. Der Erfolg der Kameralschule selbst bestand wiederum hauptsächlich darin, zahlungskräftige Studenten anzuziehen.

Was bedeutet nun dieses Panorama des Scheiterns und der gezielten Unwahrheiten? Andre Wakefield legt mit seiner Studie den Finger auf eine offene Wunde der Kameralismusforschung. In der Policeyforschung ist die tatsächliche Bedeutung normativer Ordnungen für die Praxis inzwischen eine zentrale Forschungsfrage – nicht so im Hinblick auf den Kameralismus, obgleich der Widerspruch zwischen hehren Ansprüchen und profaner Praxis jedem ins Auge fällt, der sich mit dem Thema beschäftigt. In der Regel wird diese Differenz als unvermeidlich akzeptiert. Allerdings ist der Glaube an die Realität des „well-ordered police state“ längst nicht so stark wie Wakefield postuliert. Dennoch bleibt die Frage, ob die kameralistischen Konzepte überhaupt umgesetzt werden sollten. Auch früher haben Historiker bereits die Gemeinwohl-Rhetorik von Kameralisten und Merkantilisten als bloße Verschleierung ihrer privaten bzw. von fiskalischen Interessen der Fürsten aufgefasst.1 In ähnlicher Weise wie diese konzipiert auch Wakefield den Kameralismus: „The cameralists were fiscal propagandists. […] they presented themselves as servants of the general welfare. In the secret space of the Kammer, however, these same cameralists focused resolutely on the prince and his treasure, developing new techniques to fleece the people.“ (S. 142)

Was bleibt dann noch vom Kameralismus? In Wakefields Augen nicht viel, höchstens ein riesiger Bestand an Büchern, die keinen Bezug zur Realität haben. Was er dabei übersieht, ist die wirklichkeitsverändernde Kraft des kameralistischen Diskurses, die auch in seinen Fallbeispielen durchschimmert. Die lokalen Forstbeamten der Neumark brachten den berühmten Herrn von Justi zu Fall, indem sie in Berlin genau auf jene Forstprinzipien verwiesen, die er theoretisch propagiert hatte. Auch die Förderung privater Manufakturen, die in Göttingen parallel zum Universitätsausbau betrieben wurde, entsprach in weiten Teilen den ‚guten‘ kameralistischen Grundsätzen. Den Kampf der Kammer gegen die lokalen Gewalten der Stadt kann man daher genauso gut als Erfolgsgeschichte lesen wie als fiskalisch motivierte Unterdrückung. Insofern greift Wakefields Buch zu kurz, wenn es den Kameralismus auf ein bloßes Propagandainstrument reduziert. Auf der anderen Seite hält es eine wichtige Warnung parat, die die Historiographie des Kameralismus in ihrer Konzentration auf gedruckte Texte bislang viel zu wenig beachtet hat: „Don’t believe everything you read.“ (S. 134)

Anmerkung:
1 Jacob van Klaveren, Fiskalimus – Merkantilismus – Korruption, in: VSWG 47 (1960), S. 333-353. Robert B. Ekelund / Robert D. Tollison, Mercantilism as a rent-seeking society, College Station 1981.

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