I.T. Berend: From the Soviet Bloc to the European Union

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Titel
From the Soviet Bloc to the European Union. The Economic and Social Transformation of Central and Eastern Europe since 1973


Autor(en)
Berend, Ivan T.
Erschienen
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
GBP 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Boyer, Fachbereich Geschichte, Universität Salzburg

Berends Geschichte der postkommunistischen Transformation in Ostmittel- und Südosteuropa setzt nicht bei der üblichen Epochenzäsur 1989 ein, sondern nimmt die längeren Linien in den Blick, die in die finale Krise des Staatssozialismus hineinführen. Die geographischen Grenzen der Untersuchungseinheit ergeben sich aus dem spezifischen politisch-sozialökonomischen Profil der Region; Berend beschreibt dieses plausibel in den Kategorien der Modernisierungstheorie1: Bis zum Zweiten Weltkrieg waren Ostmittel- und Südosteuropa vorwiegend agrarisch und nur insulär industrialisiert, die Unterentwicklung wurde durch rechtsautoritäre Regime in unterschiedlichen Varianten verwaltet. Die hiermit begründeten langfristigen Pfadabhängigkeiten konnte auch der Staatssozialismus, der sich, jenseits und ungeachtet des politischen Antagonismus zum "kapitalistischen Lager", in wesentlichen Hinsichten an den Zielgrößen der westlichen Industriemoderne ausrichtete, nicht wirklich überwinden. Mit der obsoleten Industriestruktur der Planwirtschaften und mit extensiven Wachstumsstrategien waren die Herausforderungen des Computerzeitalters dann nicht mehr zu bewältigen. Der Kollaps von 1989 ging friedlich vonstatten, weil die blanke Militärmacht der Sowjetunion in der Endkrise nichts mehr zu bestellen hatte.

Die erste Phase der Transformation stand unter den Vorzeichen der vom Washington Consensus inspirierten und den "Nachfolgestaaten" von zynischen Scharlatanen als Allheilmittel angedienten radikalen Liberalisierung, Privatisierung und Vermarktlichung. Die Schock-"Therapie" übertrumpfte die an sich möglichen, alternativen, in Asien, insbesondere in China fast zeitgleich – und ziemlich erfolgreich - realisierten gradualistischen Varianten einer Transformation. Waren die Modalitäten des Übergangs in Ostmittel- und Südosteuropa im Einzelnen auch recht unterschiedlich, so stellten die meist jähe Deregulierung und die folgende makroökonomische Stabilisierung Lösungen mit außerordentlich hohen ökonomischen und sozialen Kosten dar; "rasch" und "privat" wurden hier, ohne Rücksicht auf Verluste, beinahe zum Selbstzweck.

Bezahlt wurde dies mit dem Wegbrechen ganzer Wirtschaftssektoren, etwa der Landwirtschaft; diese verlor im großen Maßstab sowohl Märkte als auch Arbeitskräfte. Die sozialistischen Agrar-Großbetriebe zerfielen in eine Vielzahl untermechanisierter und unterkapitalisierter, wenig konkurrenzfähiger kleiner und mittlerer Betriebe. Das Wachstum der Arbeitslosigkeit auch im gewerblich-industriellen Sektor, der steile Absturz von Löhnen und Renten, der Anstieg der Preise und die resultierende weitverbreitete Armut waren zwar zu einem gewissen Teil unvermeidliche Folge einer – schumpeterianisch zu interpretierenden – Reinigungskrise; in ihrem krassen Ausmaß waren sie aber, wie Berend überzeugend argumentiert, eben doch kein Naturereignis, sondern durch eine ebenso rabiate wie dilettantische Wirtschaftspolitik induziert.

Etwa um die Mitte der 1990er-Jahre konsolidierten sich Demokratie und Marktwirtschaft. Eine Schlüsselstellung wuchs in der Folgezeit der Europäischen Union zu. Deren in den anni mirabiles 2004 und 2007 offenkundige Bereitschaft, die zerlumpten und streng riechenden Verwandten aus dem Osten wieder in den engeren Familienkreis aufzunehmen, mag auf den ersten Blick, ungeachtet aller moralischen Obligationen des satten "alten Westens" und fortwirkender gesamteuropäisch-kultureller Affinitäten, verwundern. Einsichtig wird diese Haltung mit Blick auf die Interessenkalküle: Die etwa zeitgleich mit "1989" sich verstärkende Integrationskrise der Gemeinschaft und deren Bestrebungen, angesichts des Aufstiegs der asiatischen Mächte und im Rahmen der neu sich abzeichnenden globalen Rivalitäten Vitalität und Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen, verliehen der Aufnahmebewegung eine Schubkraft, die sehr bald die früheren, aus dem Ost-West-Gegensatz herrührenden Impulse für eine Fortführung der westeuropäischen Integration ersetzte. Schließlich bot sich das östliche Vorfeld der alten Mitgliedsländer nun, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, als neuer Absatzmarkt und als kostengünstiger Produktionsstandort an: als Einflusszone, analog zum lateinamerikanischen Hinterhof der USA, vergleichbar auch mit dem Satellitenkranz um das ostasiatische Wirtschaftszentrum.

In den Kandidatenländern stieß der Beitritt tiefgreifende Umbauprozesse an: von der Reform der Verwaltungen über den Umbau von Recht und Wirtschaft bis hin zur Transformation der politischen Kulturen. Waren die – etwa im Rahmen der regionalen Entwicklungspolitik gewährten – Finanzhilfen für die Neuen auch niedriger als die anlässlich früherer Beitrittsrunden ausgeschütteten, so wirkten sich die vom Integrationsprozess ausgehenden Einflüsse doch rundum positiv aus; Verantwortungsbewusstsein demonstrierte die EU etwa auch durch ihre Interventionen in die Innenpolitik der Beitrittsländer, die nationalpopulistische Regierungen und solche fragwürdiger demokratischer Qualität wegzuschwemmen halfen.

Im neuen europäischen Gehäuse wurden die Investitionen multinationaler Unternehmen in die Modernisierung von Produktion und Infrastruktur zum Hauptvehikel des Fortschritts; die Region konnte in diesem Rahmen auch die komparativen Vorteile ihrer gut ausgebildeten und trotzdem relativ billigen Arbeitskräfte zur Geltung bringen. Insgesamt – wenn auch mit beträchtlichen internen Disparitäten – kam die Region ab etwa Mitte der 1990er- Jahre, spätestens mit dem Beginn des zweiten postkommunistischen Jahrzehnts auf Wachstumskurs; der Aufschwung erstreckte sich nun auch auf die materiellen Verhältnisse der Bevölkerung.

An diesem Punkt werden in der "Happy History" des Aufholprozesses allerdings die zwiespältigen Töne unüberhörbar: Die Finanzmacht ausländischer Konzerne und ihre Dominanz nicht nur im produzierenden Sektor, sondern etwa auch im Einzelhandel und in den Medien begründen eine neue "Dependencia": Der europäische Osten als Ansiedlungsraum arbeitsintensiver Leichtindustrien war und ist zwar in die Produktionsketten auch der High- und Medium-tech-Industrien eingespannt - allerdings spielt er hier lediglich auf den niedrigeren Fertigungsstufen eine Rolle. Der technisch moderne, hochproduktive, an die globale Ökonomie angekoppelte Sektor ist nur locker in die jeweilige Volkswirtschaft implantiert; die Spin-off- und Spill-over-Effekte sind wenig erheblich – vor allem aber ist "das Kapital" allzeit zum Weiterziehen in billigere Weltgegenden bereit. Die heimische Kapitalbasis ist nach wie vor schwach, ebenso die autochthone mittelständische Industrie sowie die inländische Forschungs- und Entwicklungsbasis. Überhaupt ist und bleibt der Aufschwung fragil und von äußeren Umständen abhängig. Der zwar nicht völlig geschleifte, aber doch deutlich geschrumpfte Wohlfahrtsstaat wartet, etwa im Gesundheitswesen, mit deutlich verschlechterten Leistungen auf. Lebensstile und Sozialstrukturen haben sich zwar (teil-) westernisiert; auf den Trümmern des sozialistischen Egalitarismus ist sowohl eine neue Mittelklasse wie eine neue (Unter-) Schicht der Wendeverlierer entstanden. Die nur oberflächlich demokratisierte, durch markante neue Ungleichheiten und endemische Korruption destabilisierte "Rat Race"-Gesellschaft zerfließt in Selbstmitleid, sie kultiviert Opfer-Mythen wie etwa die berühmt-berüchtigten polnischen. Auch hegt man in breiten Kreisen wieder Hoffnungen auf einen paternalistischen Staat.

In einem komplexeren und umfassenderen, über das bloß Ökonomische hinausreichenden Sinn ist die Transformation also noch längst nicht abgeschlossen: Der EU-Beitritt beendet einen wichtigen ersten Abschnitt, er eröffnet im gleichen Atemzug eine neue Runde unter EU-Ägide und mit EU-Unterstützung. Berend hält das Aufholen des Ostens zum Westen für nicht unmöglich. Ob die Region aus der Entwicklungsfalle entrinnen kann, ist jedoch keineswegs ausgemacht; womöglich ist sie auch nur – so Berends bekannte Formel – auf der "detour from the periphery to the periphery". Die Einschätzungen schwanken, passagenweise wirken sie ein bisschen über den Daumen gepeilt; letztlich überwiegt der pessimistische Grundton. Exaktere Analysen allfälliger künftiger Erfolge autozentrierter Entwicklung und der Chancen des Entrinnens aus vermeintlich stabil negativ rückgekoppelten Regelkreisen wären erforderlich und möglich.

Berends Zeitgeschichte einer europäischen Großregion kombiniert, immer unter dem harten Primat der Ökonomie, den Blick auf Politik, Gesellschaft und Mentalitäten. Zielgröße aller Modernisierung des Ostens ist der Westen: Dies ist allerdings nicht die unreflektierte Wertprämisse des Autors, sondern eine Beschreibung der handlungsleitenden Orientierungen maßgeblicher Akteure. Die Darstellung ist von Wiederholungen und Überschneidungen nicht frei; vieles, eigentlich das Meiste hat man so oder so ähnlich im Detail bereits anderswo gelesen. Trotzdem: Die Gesamtsicht ist außerordentlich instruktiv. Berend ist der Meister der souverän durchgezogenen langen Linien, der großflächigen Synthesen, welche Muster herauspräparieren, ohne Unterschiede über Gebühr einzuebnen. In den Blick des Vergleichsunternehmens mit Weitwinkelobjektiv geraten, über die Region hinaus, auch die westlichen und südlichen Peripherien Europas, dito – selektiv – die Entwicklungspfade Lateinamerikas und Chinas. Inwieweit Erfahrungen von dort übertragbar sind, wäre weiter zu diskutieren. Dass das Buch somit auch den Blick auf ein vielversprechendes globalgeschichtliches Forschungsprogramm eröffnet, ist nicht das geringste seiner Verdienste.

Anmerkung:
1 Die Modernisierungstheorie kann – dies demonstriert Berend überzeugend - eine nützliche Beschreibungssprache für zentrale langfristige Wandlungsprozesse in europäischen Gesellschaften bereitstellen. Eine Teleologie der Modernisierung ist damit nicht unterstellt, ebensowenig eine Parteinahme für die in dieser Theorie enthaltenen Wertimplikationen.

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