Cover
Titel
Terror und Traum. Moskau 1937


Autor(en)
Schlögel, Karl
Erschienen
München 2008: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
816 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Schnell, Osteuropäische Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Hohe Bäume fangen viel Wind – und große Autoren müssen sich an den Maßstäben messen lassen, die sie selbst gesetzt haben oder die sie für sich in Anspruch nehmen. Karl Schlögel ist Historiker, kein Journalist oder Schriftsteller. Freilich: gerade durch seine Grenzgänge zwischen den Gattungen hat er seine Leser, den Rezensenten eingeschlossen, oft verzaubert und für viele ebenso erhellende wie angenehme Stunden gesorgt. Wie kein Zweiter hat er in intellektueller Stoßarbeit der osteuropäischen Geschichte metaphysischen Mehrwert abgerungen, von dessen Existenz sich die ansonsten eher biedere Zunft kaum etwas hatte träumen lassen. Biederkeit ist aber oft nur die Rückseite methodischer Strenge – legt man die Kriterien des Faches an, dann muss man leider feststellen, dass Karl Schlögels neuestes Buch teilweise erhebliche Schwächen aufweist. Davon muss man nicht zuletzt deswegen sprechen, weil seine Bücher als Zierde der Osteuropaforschung gelten und stärker rezipiert werden als die Werke aller anderen deutschsprachigen Vertreter des Faches.

Das Jahr 1937 markiert den Höhepunkt des stalinistischen Terrors. Zu Tausenden wurden Menschen in der Nacht oder von ihrem Arbeitsplatz abgeholt, viele verschwanden für immer. Wer davon verschont blieb, lebte in einem Korsett der Angst. Der Schrecken der Massenverhaftungen, Folterungen und Morde hatte aber auch eine andere Seite, die auf den ersten Blick schwer mit der ersten in Verbindung zu bringen ist: Das Moskau des Jahres 1937 war auch eine Metropole des Lichts, der Kultur, ja der scheinbaren Unbeschwertheit. Dichter dichteten, Maler malten, Köche kochten. Menschen gingen ihrem Alltag und ihren Geschäften nach, vergnügten sich im Gorki-Park oder im Kino. Wie bringt man diese andere Seite des Jahres 1937 mit dem Terror in Einklang? Wie kann man „Terror“ und „Traum“ zusammendenken und historiographisch als synchrone und sogar aufeinander verweisende Erscheinungen eines Ganzen konzeptionalisieren?

Karl Schlögel stellt sich dieser Aufgabe und will wieder zusammenführen, was zusammengehört: die von der Wissenschaft in zahllose Splitter zerforschte Lebenswelt (S. 22). Das soll durch eine Art Montage gelingen, einen speziellen Moskauer Chronotopos, ein imaginäres Flanieren durch die historischen Orte. Theoretische Anleihen bei Eisenstein, Bachtin und Benjamin zielen darauf ab, durch Entfaltung der Komplexität die vergangenen Ereignisse im Raum zu vergegenwärtigen. Konkret soll dies, wie auch in anderen Büchern Karl Schlögels, durch kleine essayartige Stücke geschehen, die historische Orte ausleuchten und auch für sich allein stehen könnten. Gedanklicher Fluchtpunkt des Ganzen ist nichts weniger als eine „histoire totale“ des Jahres 1937 (S. 24).

Auf die damit verbundenen Schwierigkeiten und die Grenzen des sprachlich Darstellbaren weist Karl Schlögel selbst hin. Er schlägt dann aber eine Volte, die ihn recht weit vom geschichtswissenschaftlichen Alltagsbetrieb wegführt, der vor allem an Erklärungen interessiert ist: Sein Buch, so der Autor, biete keinen Schluss, keine These, die alles zusammenhalte, gerade dadurch aber halte es das Rätselhafte fest, das die Ereignisse des Jahres 1937 bis heute von vielen anderen historischen Desastern unterscheide (S. 30). Der Leser wird also mit seinen Fragen in der lebensweltlichen Komplexität alleingelassen – die Antworten müssen sich im Leseprozess aus dem Zusammenwirken der Einzelteile von selbst herstellen.

In anderen Büchern ist Karl Schlögel das durchaus gelungen. Mal war es der Begriff der russischen Moderne 1, mal derjenige der geopolitischen Raumkonzeption 2, der Einzelnes zu einem Ganzen vereinte und fast wie von Zauberhand Erkenntnis erzeugte. Hier aber gibt es keinen solchen roten Faden, der alles zusammenhält, sondern zwei, die nicht recht zueinanderkommen wollen. Und das hat unter anderem damit zu tun, dass Karl Schlögel uns über „Traum“ sehr viel, über „Terror“ aber sehr wenig mitzuteilen hat – obwohl die beiden Themen in quantitativer Hinsicht fast gleichgewichtig über die 38 Kurzkapitel verteilt sind.

Wann immer von Kunst, Kultur oder der Gestaltung des ästhetisch-propagandistischen Gesamtkunstwerkes Sowjetunion die Rede ist, befindet sich Karl Schlögel in seinem Element. Hier hat er uns mehr zu sagen als jeder andere und schlägt erhellende Sichtschneisen in scheinbar vertrautes Gehölz. Geht es aber um Gewalt, Terror und Stalins Herrschaftssystem, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor bei Nacht durch fremde Hallen stolpert.

Symptomatisch dafür ist das Kapitel über das Februar/März-Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Jahre 1937, dem Karl Schlögel eine Scharnierfunktion zuweist, denn: Hier werfe man einen Blick in den „Maschinenraum des Terrors“ (S. 239). Man könnte zunächst bemerken, dass die „Terror-Arbeit“ sicher an vielen anderen Orten in repräsentativerer Weise zu beobachten wäre, aber immerhin wurde hier die physische Auslöschung eines Großteils der Parteielite rituell vorbereitet. Gerade deswegen aber war das Plenum sicher keine Veranstaltung innerparteilicher Demokratie, kein Ort, an dem die Bolschewiki sich geben konnten, wie sie waren, und miteinander auf Augenhöhe redeten, wie Karl Schlögel dem Leser suggeriert (S. 240f.). Merkwürdiger ist noch, dass er das Bild einer Führung zeichnet, die „am Ende“ sei, einer Partei, die sich „in Panik“ befinde (S. 242), weil sie angeblich fürchtete, in den angekündigten freien Wahlen zum Obersten Sowjet die Herrschaft zu verlieren (S. 250f.). Es reicht vielleicht, darauf zu verweisen, dass sich Regierungsgewalt in Russland zu fast allen Zeiten, vor allem aber nach 1917, wenig um geschriebene Gesetze scherte oder scheren musste. Stalin und seine Umgebung mochten Angst vor allem Möglichen gehabt haben: voreinander, vor Verschwörungen verborgener Feinde, vor ausländischen Agenten, Attentaten, vor militärischer Bedrohung oder ökonomischem Kollaps – aber sicher nicht vor einer Niederlage in freien Wahlen. Die Annahme einer demokratischen Bedrohung der stalinistischen Diktatur ist einfach absurd.

Hier wird nicht nur den mehrfach redigierten Plenums-Stenogrammen als Quelle, sondern auch den Thesen einzelner Historiker-Kollegen allzu blind vertraut. J. Arch Getty mag ein ebenso renommierter wie privilegierter Stalinismusforscher sein – sich im Wesentlichen auf seine Interpretationen zu verlassen, ist zumindest riskant, zumal sie alles andere als unumstritten sind 3. Wird dann auch noch eine zentrale Gestalt des Terrors wie Nikolai Jeschow im Frühjahr 1937 sinngemäß als baldiger Nachfolger Jagodas als NKVD-Chef bezeichnet (S. 259), der er seit Ende September 1936 längst war, dann schwindet das Gefühl, der Autor führe einen mit sachkundiger Hand durch schwieriges Terrain.

Es handelt sich hier keineswegs um einen Lapsus, sondern um ein strukturelles Problem. Karl Schlögel verfährt mit leichter Hand allzu oft nach dem Prinzip: eine Quelle – ein Kapitel. Das allein wäre bei manchen Themen schon problematisch. Es kommt dann aber noch hinzu, dass er seine Gewährsleute, wie den US-Botschafter Davies oder den Kominternvorsitzenden Georgi Dimitrow, ausführlich paraphrasiert, ihre Worte aber nicht interpretiert. Sprechen und Schreiben unter stalinistischen Bedingungen verlangen nach einer erheblich subtileren Dechiffrierung als Karl Schlögel sie zu leisten bereit ist.

Aller scheinbaren Gleichgewichtigkeit zum Trotz zielt das Erkenntnisinteresse in „Terror und Traum“ mehr auf den Terror als auf den Traum. Das kann vielleicht auch gar nicht anders sein, denn es gibt Themen, denen die Hälfte eines Gedankenraumes nicht genug ist. Als Studie über den Terror ist Karl Schlögels neuestes Buch dem Leser aber nur bedingt zu empfehlen. Wer fundiert etwas über „1937“ erfahren will, ist bei einer ganzen Reihe anderer Autoren besser aufgehoben. Darüber können geballte sprachliche Eleganz und Eloquenz des Werkes genauso wenig hinwegtäuschen wie alle Lobeshymnen in der Presse.

Anmerkungen:
1 Karl Schlögel, Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921, Berlin 1988.
2 Ders., Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2004.
3 Igal Halfin, Rezension über J. Arch Getty / Oleg V. Naumov (Hrsg.), The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks. 1932-1939, in: Slavic Review 60 (2001), S. 859-861; Jörg Baberowski, Sammelrezension über J. Arch Getty / Oleg V. Naumov (Hrsg.), The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks. 1932-1939 in Kritika 4 (2003), 3, S. 752-759; Lewis Siegelbaum / Andrei Sokolov (Hrsg.), Stalinism as a Way of Life, in: Kritika 4 (2003), S. 752-759.

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