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Titel
Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens


Autor(en)
Schreiber, Carsten
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 501 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weitkamp, Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Der Sicherheitsdienst (SD) war das Chamäleon der NS-Bürokratie und ist es für die wissenschaftliche Forschung aufgrund fehlender Quellen bis heute oft geblieben. Der Geheimdienst der SS trat zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Formen auf, ändert seine Funktionen, passte sie neuen Anforderungen an, behielt gewisse Kontinuitätslinien bei und erfand sich dennoch stetig aufs Neue. Der SD wollte sich als Geheimdienst etablieren, arbeitete der Gestapo zu, sah sich als Kaderschmiede von Polizei und SS und verstand sich gleichzeitig als Wissenschaftsinstitut der Gegnerforschung. Er wollte im Inland die öffentliche Meinung kontrollieren und später Auslandsspionage betreiben. In kaum zu unterscheidender Verquickung mit SS und Gestapo bildete der SD im Krieg ein Instrument der Terrorherrschaft über das besetzte Europa, und er war eine der hauptverantwortlichen Organisationen für den Massenmord der Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion. Das Nürnberger Tribunal sah im SD den Komplizen der Gestapo und verurteilte ihn als verbrecherische Organisation. Manche Historiker sahen später im SD-Inland eine Art von „Meinungsforschungsinstitut“, andere dagegen eine Mordelite.

Einige schillernde Farben dieses Chamäleons hat der Leipziger Historiker Carsten Schreiber jetzt in einer sorgfältig recherchierten Dissertation ausgeleuchtet. Seine Studie ist auf der Grundlage eines einzigartigen Quellenfundes konstruiert: der Personalkartei des Dresdner SD-Abschnitts mit den Namen von 2.746 V-Leuten sowie Personalangaben zu 465 Mitarbeitern in Sachsen (Stand April 1945), welche in den Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit überliefert wurde. Mit der Auswertung dieser Kartei konnte das häufige Problem des Quellenmangels behoben werden, wenn versucht wird, den SD auf regionaler und lokaler Ebene zu analysieren. Damit ist es erstmalig möglich, Ideologie und Herrschaftspraxis des SD und seines Netzwerkes auf der geographischen und organisatorischen Ordnungsgröße eines Gaues bzw. eines SD-Abschnittes tiefer zu erforschen. Im Fokus stehen dabei die Zuträger und V-Leute des SD und die damit verbundene Einbindung des SS-Geheimdienstes in die Gesellschaft. Wie arbeitete der SD, wie definierte er sich und seine Rolle als „Elite im Verborgenen“ und wie mächtig war sein Informationssystem wirklich? Erste Ergebnisse konnte Schreiber bereits 2003 in einem Sammelband veröffentlichen.1

Nun liegt die umfassende Studie vor. Sie gliedert sich in sechs Kapitel. Zunächst schildert Schreiber den Aufbau des SD in Sachsen. Der Schwerpunkt liegt dabei – wie auch im Folgenden – stärker auf den Führungsebenen der SD-Abschnitte, wohingegen den unteren Kommandoebenen der Hauptaußen- und Außenstellen nur zwei, mitunter zusammenfassende Unterkapitel gewidmet sind. Ergänzt wird das Kapitel durch biographische Skizzen verantwortlicher SD-Führer. Im zweiten, umfangreicheren Teil wird die SD-Gemeinschaft seziert: deren Rekrutierung und Habitus, ihre Entkonfessionalisierung und ihr Selbstverständnis als Weltanschauungselite des Nationalsozialismus. Interessant ist hierbei Schreibers Klassifizierung der SD-Angehörigen, die von der Peripherie („im SD tätig“) über ehrenamtliche Tätigkeit (die häufigste Form der Beteiligung) bis in den innersten Zirkel des Führerkorps reichen, wobei der innerste Kern im Jahr 1945 aus nur 32 SD-Führern bestand. Das dritte Kapitel beleuchtet den Funktions- und Organisationswandel des SD im Laufe der Zeit, gerade auf dem für den Bereich Sachsen wichtigen Sektor der sogenannten „Lebensgebietearbeit“. Galt es anfangs vornehmlich den politischen und rassischen Gegner auszuspähen, zu erforschen und seine Eliminierung zu unterstützen, verlagerte sich der Schwerpunkt später auf die Infiltrierung und versuchte Steuerung der „Lebensgebiete“ wie etwa Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Der vom SD postulierte Anspruch der totalen Durchdringung des Volkes, so zeigt Schreiber, wurde in der Realität kaum durchgesetzt.

Die Grenzen der Wirkungsmacht des SD werden im vierten Kapitel aufgezeigt, welches die Funktionen im Spitzel-Netzwerk untersucht. Aufsteigend sind hier zu nennen die Zubringer, die V-Leute, die SD-Mitarbeiter und die SD-Außenstellenleiter. Mit dem im Führungskorps mitunter gepflegten pseudo-intellektuellen Gebaren war es auf den unteren Ebenen des SD nicht weit her. So konstatiert Schreiber für die hauptamtlichen Außenstellenleiter, dass sie sich zumeist brutal gebärdeten und „mental in der ‚Kampfzeit‘ hängen geblieben waren“ (S. 283). Die Lebensläufe einiger SD-Führer werden teilweise bis in die Nachkriegszeit verfolgt, wo sie sich während der Entnazifizierung oftmals als Mitläufer gaben. Zudem kann Schreiber eine SD-Seilschaft im Bundesnachrichtendienst der Bundesrepublik ausmachen, was erneut die unheimliche Flexibilität des SD veranschaulicht.

Eine statistische sowie quellenkritische Auswertung erfolgt im fünften Kapitel. Sie geschieht sinnvoller Weise einmal unter dem quantitativen und einmal unter dem qualitativen Aspekt. Schreiber kann auf breiter Datenbasis feststellen, dass die soziale Oberschicht (leitende Angestellte, höhere Beamte, freie Berufe, Unternehmer) zwar nur 21 Prozent des Netzwerkes ausmachten, aber im Vergleich zum allgemeinen Bevölkerungsanteil dennoch überproportional vertreten waren. Keinesfalls sei erreicht worden, den SD in der Gesamtgesellschaft zu verankern. Der SD versuchte vermehrt, soziale Eliten zu assimilieren und durch sie Informationen aus der Gesamtbevölkerung zu erhalten. Es handelte sich also gleichsam um einen Infiltrationsversuch „von oben“.

Mit diesem Befund ist George C. Browder zuzustimmen, der allgemein die These vertritt, soziale Eliten seien zum SD bevorzugt herangezogen worden. Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul haben dagegen für den Bereich des Saarlandes festgestellt, dass dort eher kleinbürgerliche Milieus dominierten.2 Regionale Unterschiede scheinen also bestanden zu haben. Leider wird es aufgrund fehlender Quellen kaum möglich sein, die für Sachsen erzielten Ergebnisse mit anderen Regionen in Deutschland, Österreich oder den annektierten Gebieten der Tschechoslowakei abzugleichen. Inwieweit wirkten sich diese regionalen Unterschiede aus, gerade in der nicht immer uniformen Herrschaftspraxis der NSDAP? Das sind offene Fragen, die der Studie Schreibers jedoch nicht anzulasten sind.

Abschließend nimmt das lange sechste Kapitel das wechselvolle Verhältnis von traditionellen Funktionseliten und der neuen SD-Weltanschauungselite in den Blick. In allen Bereichen bediente sich der SD eines Informationsgeflechts, dessen wichtigste Stütze informelle Mitarbeiter waren. Schreiber sieht aber im zahlenmäßig relativ kleinen Spitzelsystem des SD kein allmächtiges, allwissendes Netzwerk, sondern eine Ergänzung zur Gestapo. Dessen System der Zuträger war großflächiger und durch die Inkorporierung staatlicher Eliten qualitativ auch höherwertig.

Das Buch ist in der gewohnt nüchternen, aber soliden Aufmachung in der Reihe „Studien zur Zeitgeschichte“ des Münchner Oldenbourg Verlages erschienen. Erfreulicherweise sind die zahlreichen Belege und Zusatzinformationen in Fußnoten untergebracht, was gegenüber Endnoten die Verfügbarkeit und Lesbarkeit stark erhöht. Der Text und die Karteiauswertung werden unterstützt von 21 Tabellen zu Aufbau, Funktion und Sozialprofil des SD im Reich und in Sachsen. Als eher marginal sei angemerkt, dass die reiche Fülle an Material es manchmal nicht leicht macht, in Tabellen und Text gezielte Informationen rasch und problemlos zu finden. Der Band schließt mit einem Personenregister, es fehlt jedoch ein Ortsregister, welches gerade bei einer regional ausgerichteten Forschung hilfreich gewesen wäre. Ebenfalls kritisch anzumerken ist der im Verlag zwar übliche, aber selbst für historische Fachpublikationen hohe Preis von 70 Euro.

Mit der weitreichenden Auswertung der SD-Kartei ist es Schreiber in einer bemerkenswerten Studie gelungen, unser Wissen um Wirken und Selbstverständnis des SD im Reich tiefgreifend zu erweitern. Ein absoluter Gewinn für die Forschung.

Anmerkungen:
1 Vgl. Carsten Schreiber, „Eine verschworene Gemeinschaft“. Regionale Verfolgungsnetzwerke des SD in Sachsen, in: Michael Wildt (Hrsg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführer SS, Hamburg 2003, S. 57-85.
2 Vgl. George C. Browder, Hitler’s Enforcers. The Gestapo and the SS Security Service in the Nazi Revolution, New York 1996 u. Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich. Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945, Bd. 2, Bonn 1991.

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