H. Melber u.a. (Hrsg.): Revisiting the heart of darkness

Titel
Revisiting the heart of darkness. Explorations into genocide and other forms of mass violence. 60 years after the UN Convention


Herausgeber
Melber, Henning; John Y. Jones
Reihe
Development Dialogue 50
Erschienen
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caroline Authaler, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Genozid ist ein Begriff, der hoch politisiert ist. In der internationalen Politik wird er zögerlich verwendet, da ein Genozid die Internationale Gemeinschaft aufgrund der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zur Intervention verpflichtet. Politische Aktivisten hingegen gebrauchen ihn heute gerne, um die mediale Aufmerksamkeit auf Konflikte zu lenken und damit die Politik zum Handeln aufzufordern. „Nie wieder Auschwitz“ verpflichtet bis heute. Während vor allem Politiker und NGO-Vertreter die Verhinderung von Genoziden als die primäre Aufgabe der Genozidforschung ansehen, führen Wissenschaftler – aktuell um das International Network of Genocide Scholars (INoGS) – konzeptuelle und theoretische Debatten, um Instrumente zu finden, die eine empirische Genozid-Forschung sinnvoll anleiten können. Genozidforschung befindet sich daher in einem Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis, in dem auch der von Henning Melber herausgegebene Sammelband „Revisiting the heart of darkness – Explorations into genocide and other forms of mass violence“ verortet werden kann. Der Band vereint Beiträge, die auf zwei von der Dag-Hammarskjöld-Stiftung organisierten Konferenzen präsentiert wurden, auf der Konferenz „Mass Violence in Africa“ in Uppsala 2006 und der „Dialogue Conference on Genocide“ in Volksenåsen 2007. Entsprechend besteht die Publikation aus zwei Teilen. Während der erste Teil konzeptuellen Beiträgen über den Genozid-Begriff sowie einigen Fallstudien gewidmet ist, bildet der zweite (viel kürzere) Teil Diskussionen und Ergebnisse der zweiten Konferenz in Volksenåsen ab, die NGO-Vertreter und Politiker mit Wissenschaftlern konfrontierte.

Ein solcher Austausch ist dem Herausgeber Henning Melber denn auch ein wichtiges Anliegen. In seiner Einleitung plädiert er für eine Intensivierung des Dialogs zwischen Politik und Forschung. Da die UN-Konvention zur Verhütung und Ahndung von Völkermorden bisher nicht zu einer Eindämmung von genozidaler Gewalt beigetragen hat, fordert Melber Debatten um das der Konvention zugrunde liegende Genozidkonzept und regt an, dieses um weitere Formen von Massengewalt zu erweitern. Wie bereits der Untertitel aussagt, steht die 1948 verabschiedete Genozid-Konvention der UN im Zentrum des Sammelbandes. Die Konvention geht auf den Völkerrechtler Raphael Lemkin zurück, der wahlweise von den Genozidforschern als der „Vater der Genozidforschung“ oder „Vater der Genozid-Konvention“ bezeichnet wird. Das Herzstück des Sammelbandes bildet eine Debatte, die sich an Fragen über die Reichweite und Anwendbarkeit des Genozidkonzepts der UN-Konvention für Forschung und Praxis entzündet. Diese Auseinandersetzung nimmt mit sechs von elf Beiträgen im ersten Teil auch den größten Raum ein.

Zunächst führt Reinhart Kössler in einige grundlegende Zusammenhänge für das Verständnis von Massengewalt ein. Er hebt die Rolle des modernen Nationalstaats hervor, der durch seine Befugnis, Bevölkerungsgruppen zu klassifizieren und ihnen Rechte zuzuweisen, kulturelle und soziale Differenz zementiere und somit erst die Voraussetzung dafür schaffe, potentielle Opfergruppen von Genozid zu bestimmen.

Gerold Krozewski, Dominik Schaller und Jürgen Zimmerer spannen einen weiten historischen Kontext der Bedingungen von Genozid sowie des Genozid-Konzeptes auf. Sehr erkenntnisreich erörtern sie das Verhältnis von Kolonialismus und genozidaler Gewalt.

Krozewski konstatiert eine unauflösliche Verbindung zwischen europäischer kolonialer Entwicklungsideologie und Gewalt. Da die Kolonien bei der Konstruktion und Identitätsbildung der europäischen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert essentiell gewesen seien, seien koloniale Entwicklungsdoktrinen unkritisierbar und auch mit Gewalt durchzusetzen gewesen. Deshalb sei Kolonialismus aufgrund der ideologischen Situation inhärent gewalttätig gewesen.

Grundlegende Gedanken über das Genozid-Konzept entwickelt Dominik Schaller ausgehend von Raphael Lemkins Arbeiten. Die UN-Konvention sei untauglich für eine historische empirische Analyse, da zu viel Gewicht auf der Frage der Intentionalität liege. Schaller unterscheidet Lemkins Beitrag für die Formulierung der UN-Genozid-Konvention von dessen wissenschaftlichen unveröffentlichten Schriften, die starke sozialwissenschaftliche und historische Züge trügen. Insbesondere Lemkins Schriften zum Kolonialismus enthielten wichtige Einsichten für eine Kontextualisierung von Massengewalt und für eine Erweiterung des Genozid-Begriffes. Darin sei nämlich die Zerstörung von politischen, sozioökonomischen sowie kulturellen Strukturen von Bevölkerungsgruppen zentral, die nicht zwangsläufig zum unmittelbaren Tod der Menschen führten. Aus einem solchen Genozid-Verständnis folgert Schaller, dass Kolonialismus generell genozidale Tendenzen enthalte. Statt neuer Genozid-Konzepte schlägt Schaller vor, Lemkins „original concept of genocide“ neu zu beleben.

Hervorzuheben ist auch Jürgen Zimmerers Beitrag, der zum ersten Mal bereits 2004 in Dirk Moses’ Band „Genocide and Settler Society“ erschienen ist.1 Indem er einen Vergleich zwischen Strukturen des Holocaust und Strukturen des europäischen Kolonialismus anstellt, überschreitet er Grenzen zwischen diesen beiden Forschungsfeldern. Er untersucht die historischen Wurzeln politischer Vorstellungen von Rasse und Raum und entwirft so eine Archäologie des Genozid-Konzepts. Er beansprucht damit, eine neue Basis für komparative Genozidforschung zu legen. Aus der Analyse struktureller Ähnlichkeiten von Rasse und Raum in kolonialen und nationalsozialistischen Ideologien, mit besonderem Augenmerk auf die NS-Ostpolitik, folgert er, dass die Konsequenz dieser Politik im Nationalsozialismus und Kolonialismus in beiden Fällen genozidal gewesen sei.

Anthony Court stellt schließlich explizit die Frage, ob infolge neuerer Forschungen und der Kritik an der UN-Konvention ein alternatives Genozid-Konzept nötig sei. Er knüpft an eine Debatte an, die Christian Gerlach 2006 im von Schaller und Zimmerer herausgegebenen Journal of Genocide Research mit seinem Konzept der „extremly violent societies“ angestoßen hat. Court lehnt Gerlachs erweitertes Konzept jedoch ab, da es durch die Betonung der Multikausalität von Gewalt und der Vielzahl von Akteuren verwässert würde. Gerlachs Modell biete keine neuen Einsichten, sondern beschreibe vielmehr einen Tatbestand, der in der UN-Konvention über „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bereits abgedeckt sei. Statt der Erweiterung von Konzepten fordert Court, dass sich die Genozid-Forschung auf ein anwendbares, klar definiertes Konzept einige, mit dem tatsächlich Verbrecher bestraft und Genozide verhindert werden können und schlägt damit eine Bresche für ein Festhalten an dem Begriff der UN-Konvention. Diese Forderung spiegelt idealtypisch das spannungsgeladene Verhältnis zwischen sozialwissenschaftlicher bzw. historischer Genozidforschung und Politik wider.

Ulrike Kistner zeigt in ihrem Beitrag auf, dass bereits in Hannah Arendts „Origins of Totalitarism“ grundlegende Gedanken enthalten seien, denen zufolge Genozid nur in seiner longue durée verstanden werden könne. Ferner habe gerade die Kombination aus Nationalstaat und Imperialismus rassistische Ideologien und genozidale Gewalt hervorgebracht.

Die beiden zeitgeschichtliche Fallstudien über Zimbabwe von Ian Phimister und Mary E. Ndlovu ermöglichen zwar spannende Einblicke in genozidale Prozesse im Kontext von Befreiungsbewegungen sowie deren internationale Wahrnehmung, jedoch wäre hier eine Aufnahme der vorhergehenden Konzeptdebatte wünschenswert gewesen.

Der zweite Teil der Publikation beschäftigt sich mit der aktuellen Wahrnehmung von Genoziden und der Frage, wie sich diese auf eine Eskalation oder Verhinderung von Genoziden auswirken. Fraglich ist, inwiefern dieser Teil des Bandes den ersten ergänzt. Am ehesten kann er als Ausblick gelesen werden. Hier wäre eine abschließende zusammenfassende Erklärung oder Synthese des Herausgebers hilfreich gewesen.

Insgesamt bietet der vorliegende Band einen guten Einblick in aktuelle Debatten der Genozidforschung und insbesondere deren interdisziplinäre Verbindungen zu Kolonialismus- und Nationalsozialismusforschungen. Die Beiträge zeigen auf, dass Erkenntnisse aus der Genozidforschung für diese angrenzenden Forschungsbereiche fruchtbar gemacht werden können. Hervorzuheben ist, dass afrikanische Fälle ohne Zögern mit europäischen Beispielen verglichen werden, was in der Geschichts- und Kulturwissenschaft durchaus noch keine Normalität ist. Damit lösen die Autoren afrikanische Geschichte aus ihrer „exotischen“ Position und werden gleichzeitig Forderungen von Seiten der Global History gerecht, historische Analysen nicht auf einen Kontinent zu beschränken, sondern globale Interdependenzen und Rückwirkungen zu berücksichtigen.2 Zukunftsträchtig ist sicherlich auch der Rahmen der Konferenz. Er zeigt Perspektiven auf, wie akademische und gesellschaftliche Debatten einander angenähert werden können.

Anmerkungen:
1 Jürgen Zimmerer, Colonial Genocide and the Holocaust. Towards an Archeology of Genocide, in: Dirk Moses (Hrsg.), Genocide and Settler Society. Frontier Violence and Stolen Indigenous Children in Australian History, New York 2004, S. 49-76.
2 Vgl. Sebastian Conrad / Shalini Randeria, Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension