S. Stemmler u.a. (Hrsg.): 1989 / Globale Geschichten

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Titel
1989 / Globale Geschichten.


Herausgeber
Stemmler, Susanne; Smith, Valerie; Scherer, Bernd M.
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Kunkel, Jacobs University Bremen

Wieder ist ein Jubiläumsjahr vorüber, die Zeitzeugen treten aus dem Scheinwerferlicht. Für Historikerinnen und Historiker geht die Arbeit weiter: Mit der wachsenden zeitlichen Distanz erweitern sich auch die Möglichkeiten, „1989“ zu bewerten. Erste geschichtswissenschaftliche Anfänge sind bereits gemacht, weitere Studien werden folgen – die Geschichte, die noch qualmt, befindet sich mitten im Übergang von den Erinnerungen der Mitlebenden zu ihrer wissenschaftlichen Behandlung.

Das hier zu besprechende Buch „1989 / Globale Geschichten“ ist emblematisch für diesen Übergang. Im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ unter der Koordination einer kosmopolitischen Aktiv-Bürgerschaft entstanden, benennt der Sammelband zugleich einige mögliche Dimensionen historischer Forschung, ja er ist den HistorikerInnen sogar ein wenig voraus. Denn während diese noch den Sinn und Unsinn der Globalgeschichte debattieren, zeigen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes bereits auf, welchen Fragen die „Geschichte mit einem Bewusstsein für globale Zusammenhänge“ nachgehen könnte.1 In insgesamt 58 kurzen Aufsätzen, Reportagen, Fotoessays, Interviews und Gesprächen spannen die Beiträge ein Panorama der Weltereignisse auf, das vom Themenfeld „Migranten und wiedervereinigtes Deutschland“ über die Beisetzung von Ayatollah Khomeini bis hin nach China, Chile, Südafrika und Afghanistan reicht – um nur einige Themen zu nennen. Programmatisch verbindet die Beiträge das Ziel, „zu zeigen, wie relativ ein Standpunkt ist und bleibt: Nicht um Universalgeschichte, sondern um die Pluralität globaler Geschichten geht es in diesem Buch“ (Susanne Stemmler, S. 20).

Dabei offenbaren die Artikel vor allem eine grundlegende Sorge um die Gegenwart; der Blick zurück auf 1989 wird zur normativen Selbstverortung in einer globalisierten Welt. Aus diesem Umstand mag sich auch erklären, dass die wenigsten Beiträge im Jahr 1989 verharren, sondern vielmehr die Folgen von „1989“ als Zäsur und Chiffre in den Blick nehmen. Timothy Garton Ash etwa widmet sich nach einer weltpolitischen Tour d’Horizon durch das Jahr 1989 den langfristigen Folgen, sieht das „Tor zur Globalisierung“ durch die „Ära der wirtschaftlichen Liberalisierungen und der Marktwirtschaft“ weit aufgestoßen und fragt sich, ob nach dem voreilig proklamierten ‚Ende der Geschichte‘ in China nicht mittlerweile „das Potenzial zur Entwicklung einer anderen als der westlichen Moderne“ heranwächst (S. 27f.). Die Beiträge des ersten Abschnitts beschreiben, welchen drastischen Veränderungen die Erfahrungswelten von Migranten im Deutschland der frühen 1990er-Jahre unterworfen waren. Nevim Çil resümiert über türkische Migranten: „Das Bemühen, ein Teil der Gesellschaft zu werden, wurde durch die Wende empfindlich gestört.“ (S. 45) Damani J. Partridge sieht den Mauerfall als den Ursprung einer „Entwicklung der Mobilitätseinschränkung und Gewalt“ gegenüber Migranten mit afrikanischen Wurzeln (S. 48).

In Lateinamerika sei es nach 1989 zum Auftakt ‚neoliberaler‘ Reformen gekommen (Argentinien), jene seien trotz politischer Umbrüche weiterhin das Maß aller Dinge geblieben (Chile) oder seien offen bekämpft worden (Venezuela). Zu Afrika wiederum konstatieren die Autoren einen (zum Teil kurzen) historischen Moment demokratischen Aufbruchs, weil der Zusammenbruch des Ostblocks weltpolitisch protegierte Einparteiensysteme obsolet machte (Kenia) bzw. in Südafrika dem Apartheidregime eine entscheidende Legitimationsgrundlage entzog. Wie Andreas Eckert zeigt, war die Erosion des Ostblocks dabei nur der Auslöser, nicht aber die Ursache für das Ende der Apartheid, welches seinen Anfang 1976 mit dem Aufstand in Soweto nahm.

Von den Rufen nach Demokratie erzählen die Beiträge zu China. Zentraler Bezugspunkt ist hier neben dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens die „Charta 08“. Auch die Korruption des Parteiapparats und lokale Kämpfe um mehr Rechte werden knapp beschrieben. Fehlen darf auch nicht das – wieder aktuelle – „explosive Vermächtnis“ des Ost-West-Konflikts in Zentralasien (Navid Kermani, S. 239). Faheem Dashty rekapituliert knapp die Geschichte des afghanischen Widerstandes gegen die sowjetischen Besatzer und die machtpolitischen Wirrungen nach dem sowjetischen Abzug, Navid Kermani beschreibt in einer Reportage den Alltag der „nation-builders“ im Schatten der NATO-Truppen. Darüber hinaus geht es in diesem Teil um Kaschmir und Pakistan.

Insgesamt fügen sich die Mosaiksteinchen nationaler Geschichten zu einem nachdenklich stimmenden Gesamtbild der globalisierten Gegenwart zusammen, das in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu den hoffnungsvollen Zukunftserwartungen des Jahres 1989 steht. Zu den Leistungen des Sammelbandes zählt es insbesondere, neben der prozessualen Spannweite des Jahres 1989 auch die historischen Brüche und Kontinuitäten bis ins Jahr 2009 deutlich zu machen.

Freilich ist bei diesem Buch des Übergangs ebenfalls zu bemerken, dass es wissenschaftlichen Ansprüchen nur in Teilen genügt. Das ist aber auch nicht sein Ziel. ‚Globalhistoriker‘ mögen daher vieles bemängeln – etwa dass synchrone Ereignisse noch keinen globalen Zusammenhang konstituieren, dass dieser selber gar nicht analysiert wird und dass die Einordnung geographisch varianter Phänomene in einen globalen Kontext außer flüchtiger Verweise auf die Fernsehbilder vom Mauerfall kaum geleistet wird. Nur selten gehen die Autorinnen und Autoren der Entgrenzung nationaler Orientierungshorizonte nach. Strenggenommen entwerfen die Beiträge folglich auch keine „Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Systeme“ (Jürgen Osterhammel). Aber alles dies sind Kritikpunkte, die sich naturgemäß aus den konkurrierenden Deutungsbedürfnissen von Zeitzeugen und Historikern ergeben.

Gleichzeitig können HistorikerInnen in den Beiträgen mit Gewinn erste Fluchtlinien einer Globalgeschichte von „1989“ und danach entdecken, die es wissenschaftlich weiter zu verfolgen gilt: etwa den Globalisierungsschub der frühen 1990er-Jahre; das Spannungsverhältnis zwischen einer als triumphal perzipierten US-amerikanischen Moderne und alternativen Zukunftsentwürfen; die grundlegende Veränderung regionaler und globaler Migrationsströme; die Entstehung und Problematik einer globalen Zivilgesellschaft, die mit normativen westlichen Konzepten operiert; die Ereignisse von 1989 als Momente, die für ein Gefühl globaler Gemeinschaft sorgten. Weiter gefasst handelt es sich hier um Fragen von Globalität und globaler Imagination in dynamischen Mediensystemen. Zusammengenommen entwerfen die Beiträge damit einen Katalog etlicher Forschungsdesiderate, die eine vertiefende geschichtswissenschaftliche Untersuchung verdienen. Im Gedenkjahr 2009 hat der Band einen wichtigen Akzent gesetzt, der über die (deutsche) Nation und Europa hinausweist.

Anmerkung:
1 Vgl. Sebastian Conrad / Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: dies. (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 7-52, hier S. 27; Natalie Zemon Davis, Global History, Many Stories, in: Eine Welt – eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen 2000. Berichtsband, München 2001, S. 373-380. Jürgen Osterhammel konzipiert Welt- und Globalgeschichte als „Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Systeme“, vgl. ders., „Weltgeschichte“. Ein Propädeutikum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 452-479, online unter <http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2009/8282/pdf/Weltgeschichte_Ein_Propaedeutikum_2005.pdf> (21.12.2009).

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