C. Scheurle: Die deutschen Kanzler im Fernsehen

Cover
Titel
Die deutschen Kanzler im Fernsehen. Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte


Autor(en)
Scheurle, Christoph
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 25,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schicha, Mediadesign Hochschule Düsseldorf

Auf dem Buchrücken der Dissertation des Theaterwissenschaftlers Christoph Scheurle wird einiges versprochen. Erstmals, so der Text, werde die „Rede vom politischen Theater […] auf eine sachliche Basis gestellt.“ Dass die lesenswerte Monographie einen hohen Grad an Sachlichkeit, Kenntnisreichtum und guter Recherche aufweist, trifft zweifellos zu. Dass dies allerdings zum ersten Mal geschehen soll, stimmt hingegen nicht. Zu breit und fundiert ist inzwischen der Forschungsstand zum Thema Theatralität insgesamt und auch speziell zum politischen Theater. Die zahlreichen Untersuchungen und Forschungsprojekte werden in dem Band schließlich auch intensiv aufgearbeitet. Zusätzlich erfolgt eine Sichtung „von über hundert Stunden Filmmaterial“ (S. 11) über Kanzlerauftritte im deutschen Fernsehen.

Der Band besteht aus zwei Abschnitten. Im ersten Teil „Das Theater der Politik“ wird der theoretische Stand der Forschung reflektiert. Hier werden die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen begrifflich aufgezeigt. Es wird deutlich, dass sich das Theatermodell gut begründet auch auf politische Kommunikationsprozesse anwenden lässt: „Theater findet heute nicht mehr nur auf einer dafür hergerichteten Bühne statt, im Gegenteil: Seine besonderen Qualitäten und Wirksamkeiten zeigt es gerade in der Konfrontation mit (anderen) öffentlichen Räumen“ (S. 21). In diesem Kontext wird zwischen Vorderbühne und Hinterbühne unterschieden und die Differenz zwischen Herstellungs- und Darstellungspolitik erläutert. Der Autor orientiert sich in seiner Analyse der Inszenierung nicht an den klassischen theaterwissenschaftlichen Kategorien der Verkörperung, Performanz und Wahrnehmung, sondern richtet den Blick auf die Kategorien Rolle und Figur. Dies ist insofern stringent, als dass die politischen Akteure im Mittelpunkt der Analyse stehen. Bei dem gewählten Ansatz wird der politische Akteur zu Recht „als Protagonist und Hervorbringer politischer Theatralität“ (S. 35) klassifiziert. Insofern liegt auch die Assoziation mit dem Schauspieler nahe. Die Darstellung dominiert dann das Geschehen. Die Inhalte werden in den Hintergrund gerückt: „Politik ist dann eher Theater als faktenorientiertes Handeln, wenn das Zeigen eines Vorganges und nicht der Vorgang an sich im Mittelpunkt der Darstellung steht“ (S. 39). Hier liegt natürlich der Verdacht nahe, dass die Politiker ein „falsches Spiel“ (S. 42) betreiben. Dabei wird der Rezipient vor die schwierige Aufgabe gestellt, den Grad der Authentizität innerhalb des Darstellungshandelns herauszufinden. Unklar bleibt für mich an diesem Punkt jedoch die Differenz zwischen der Darstellung und der Inszenierung. Meines Erachtens kann nicht jede Darstellung mit Theatralität in Verbindung gebracht werden, wohingegen Inszenierung immer auch eine Dramaturgie erfordert, die über das reine Darstellen hinaus geht und somit einer theatralischen Kategorie zugeordnet werden kann.

Teil Zwei widmet sich ausgewählten medialen Fernsehdarstellungen der bundesdeutschen Kanzler von Konrad Adenauer über Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder bis hin zu Angela Merkel. Auf Kurt Georg Kiesinger und Ludwig Ehrhardt wird in den Analysen nicht eingegangen. Dabei wird der Fokus ausschließlich auf öffentlich-rechtliche Sendungen hin ausgerichtet. Dies ist mit Blick auf die Dominanz von ARD und ZDF im Rahmen der Politikberichterstattung nachvollziehbar. Zudem sind die privat-kommerziellen Sender erst seit Mitte der 1980er-Jahre auf dem Markt.

Zunächst werden im zweiten Kapitel die unterschiedlichen „(Fernseh-)Bühnen der Kanzler“ (S. 67) vorgestellt. Hierbei wird unter anderem zwischen Nachrichtensendungen, Politischen Magazinen, Reportagen, Interviewsendungen und Boulevardsendungen differenziert. Die Analyse der Darstellungsformate richtet sich auf Rede-Duelle, Interviews, Live-Übertragungen, Wahlwerbefilme und Dokumentationen aus ausgewählten Jahren zwischen 1957 und 2005. Hier werden auch die Veränderungen aufgezeigt, denen die Sendungen im Laufe der Zeit unterlagen. So verfügte ein Wahlwerbespot im Jahr 1957 über eine Länge von etwa zehn Minuten. Im Jahr 1969 hatte sich die durchschnittliche Länge der Spots bereits halbiert, und inzwischen sind die Filme nur noch eine Minute lang. Insofern sind auch die Inszenierungsmöglichkeiten der Kandidaten zumindest in zeitlicher Hinsicht geschrumpft.

Bei der Analyse der „Kanzlerdarstellungen im Fernsehen“ (S. 93) wird das Modell von Inszenierung, Rolle und Figur konsequent bei der Analyse umgesetzt. Hierbei werden auch Bezüge zur Verkörperung hergestellt, die dem Motiv der theaterwissenschaftlichen Kategorie der Korporalität folgen und sich am Rahmenkonzept von Goffman orientieren. Insgesamt „wird die Figur ‚Kanzler‘ primär als Ergebnis einer singulären darstellerischen Leistung gesehen, die allerdings von dem inszenatorischen Rahmen, den sozialen Rollenerwartungen, dem anderen politischen Rollenpersonal und den individuellen darstellerischen Fähigkeiten des Kanzlerdarstellers abhängen“ (S. 96). Somit wird deutlich, dass auch der Kontext, in dem sich die Kanzler in den Medien bewegen, angemessen erfasst werden muss. Die politischen Protagonisten agieren als Rollenurheber, Rollenspieler und Rollenträger. Demzufolge werden sie entsprechend unterschiedlich vom Publikum wahrgenommen. Es wird vom Verfasser herausgearbeitet, dass der inszenatorische Rahmen und die „rollenmäßig vorgegebenen Hierarchien [neben] den individuellen darstellerischen Fähigkeiten und personellen Eigenheiten“ (S. 112) die Inszenierung der Kanzler ausmachen. Die exemplarischen Einzelanalysen von Kanzlerauftritten im Fernsehen machen deutlich, dass zwischen politischen „Selbstinszenierungen des leibhaftig auftretenden Politikdarstellers und Inszenierungen des Fernsehsystems“ (S. 128) differenziert werden sollte. Die Rahmenbedingungen sind immer entscheidend für das Gestaltungspotenzial der Akteure. Der Verfasser legt eine gut begründete Typologie unterschiedlicher Darstellungsformen vor. Er differenziert unter anderem zwischen dramatischen „Inszenierungsform als offene Spielsituation“ (S. 130), skizziert „Duell-Formate als dissensorientierte Inszenierungen“ (S. 132) und zeigt konsensorientierte Inszenierungsmodelle auf. Einen Sonderstatus erhalten Werbefilme und Dokumentationen, da sie von professionellen Agenturen bzw. von Journalisten entwickelt werden. Hier wird besonders die Differenz zwischen rein werblichen Formen und einer potenziell eher kritischen Berichterstattung deutlich. Dabei zeigt sich die Diskrepanz der „Rollenentwürfe zwischen positiven Selbstdarstellungen und negativen Fremddarstellungen“ (S. 176).

Im letzten Teil der Arbeit richtet Scheurle seine Aufmerksamkeit auf die aktuelle Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er analysiert zunächst das TV-Duell zwischen Schröder und Merkel aus dem Jahr 2005 und kommt zu dem Ergebnis, dass der damals amtierende Kanzler aus Zuschauersicht als Gewinner der Auseinandersetzung hervorging. Gleichwohl hat die Presseresonanz das Auftreten von Angela Merkel positiv bewertet. Sie vermittle insgesamt einen sachlicheren Eindruck, so die Reaktionen der Journalisten.

Der Autor vertritt sogar die These, dass „von der Wandlung der Anti-Medien-Figur Merkel zur Medienkanzlerin“ (S. 207) gesprochen werden könne. Sie würde auf überflüssige Inszenierungen verzichten und arbeite vielmehr am Image einer arbeitsamen, nüchternen und ehrlichen Macherin. Auch ihre ehemals hölzernen Auftritte im eigenen Videoblog hätten sich inzwischen zu einer eher professionellen und positiven Darstellung hin entwickelt. Merkel wird als „Improvisationstalent“ (S. 212) klassifiziert und wirke inzwischen souverän, gelassen, sicher und überzeugend. Im Duell etwa „wurde sie ihrem selbst angestrebten Image von der ehrlichen, in der Sache hart bleibenden Reformerin besonders gerecht“ (S. 213). So habe sie sich gegenüber Schröder profilieren können. Ob diese fast schwärmerische Bewertung von Merkels Selbstdarstellungskompetenzen allerdings berechtigt ist, sollte gegebenenfalls in weiteren Einzelanalysen noch dezidierter herausgearbeitet werden.

Die lesenswerte Doktorarbeit von Christoph Scheurle ist flüssig geschrieben. Sie bietet eine fundierte Analyse zum Forschungsfeld der Theatralität im Kontext der Politikvermittlung an. Der Autor hat im Rahmen seiner reflektierten Untersuchung insgesamt eine gelungene Transformation des abstrakten Theatralitätsmodells auf konkrete Inszenierungsstrategien der ausgewählten Kanzler vorgenommen. Auch wenn die ausgewählten Fallbeispiele natürlich kein umfassendes Bild über die theatralen Darstellungsstrategien von Spitzenpolitikern liefern können, legt die Studie durchaus ein zielführendes und hilfreiches Instrumentarium für weitere Untersuchungen vor.

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