Titel
Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit


Autor(en)
Erhart, Walter
Erschienen
München 2001: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 46,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Dinges, Institut für Geschichte, Medizin der Robert Bosch Stiftung

„Männlichkeit“ ist auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht bisher noch zu wenig erforscht. Bisher standen eher solche Bereiche von Männlichkeitsproduktion wie Politik, Militär und Öffentlichkeit im Vordergrund des Forschungsinteresses, die stereotype Männlichkeitsbilder produzierten und – so möchte ich ergänzen - vielleicht auch Wünsche nach undifferenzierten Männerbildern bedienten. In seiner literaturwissenschaftlichen Habilitation zeigt der Greifswalder Germanist Walter Erhart nun, wie wichtig die Analyse der Erzählung von Familiengeschichten für die literarische Männlichkeitskonstitution ist. Diesen geschlechtergeschichtlichen Subtext der Familienromane von 1850 bis 1920 bringt Erhart magistral ans Licht, indem er statt voreiliger Applikation soziologischer oder psychoanalytischer Modelle auf die Zeit vor Freud die Texte als Geschichten von Familien ernst nimmt.

Überspitzt ließe sich seine These so formulieren: Männer werden in Familien gemacht: Sie wachsen darin auf, und müssen sich dann der Herausforderung stellen, eine eigene Familie zu gründen - oder auch nicht. Während hier literarisch einerseits ein klares Anforderungsprofil an Männer formuliert wurde, bietet die untersuchte Literatur andererseits einen breiten Raum, die Schwierigkeiten, Möglichkeiten des Zögerns und Scheiterns sowie verschiedene Varianten einer Nachfolge des Vaters und der Mutter sowie Verweigerungen solcher „Fortschreibung der Familiengeschichte“ durchzuspielen. Dementsprechend zeigt der Blick auf die „Familienmänner“ ein ausgesprochen komplexes Bild moderner Männlichkeit.

Als Erzählmodell des 19. Jahrhunderts wird die Verknüpfung einer väterlichen Geschichte mit maternalen Topographien erkennbar: Ausgangspunkt sind die traditionellen Positionierungen von Männern, die die Genealogie durch einen erfolgreichen „Frauentausch“ (im anthropologischen Sinn) weiterführen sollen, indem sie eine neue Familie gründen, wofür sie ggf. Initiationen durchstehen müssen. Parallel dazu werden die Frauen als Bewahrerin des Hauses, mythopoetisch als sicherer Ort und natürlich als Gebärerin konzipiert, die es zu gewinnen galt. Mindestens mit dem Bild einer ersten erfolgversprechenden Schwangerschaft mußte ein solcher Roman noch im dritten Viertel des Jahrhunderts enden, war auch der Vater fern und vielleicht schon tot.

Die in dieser Arbeit rezipierten anthropologischen Modelle lösten bei mir als Sozialhistoriker anfänglich Unruhe aus, die allerdings unbegründet war: Auch Erhart meint nicht, daß die Frauen Objekte dieser Tauschaktionen seien; er nutzt das Theorem lediglich, um die besondere Komplexität der Transaktionen zwischen Familien in den Vordergrund zu rücken, die die Romane in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Herausforderung auf dem Weg zum Mannwerden thematisieren: Versuche der Paarbildung mit nicht standesgemäßen Bräuten gehören ebenso dazu wie Vater-Sohn-Konflikte und die Inzestproblematik. Rezeptionsgeschichtlich sei nur daran erinnert, daß eines dieser Werke, Gustav Freytags Germanengeschichte, massenhaft Geschichtsbilder im Medium des Familienromans in die Haushalte brachte. Bereits bei Fontane klappen die Familiengründungen als Fortschreibungen paternaler Geschichten nicht mehr so ganz: Erhart spricht deshalb von „halben Helden“, die lediglich „beinahe männlich“ werden. Nicht nur die Dekodierung der Einzelheiten dieser literarischen Konstruktionen ist ein Lesegenuß.

Mit dem Fin de siècle als zweiter behandelter literarischer Epoche scheint es dann so, als sei auch ein Ende des Familienromans gekommen: Thomas Manns Buddenbrooks erzählen paradigmatisch vom Niedergang einer Familie, der ganz wesentlich mit der Willensschwäche ihrer männlichen Vertreter zusammenhängt. Für diesen wie andere Autoren zeigt Erhart die starke Rezeption des medizinischen Neurastheniediskurses: Medizinische Vorstellungen wurden fast bruchlos zur Charakterisierung von Personen in die literarischen Texte übernommen. Dieser interdisziplinäre Blick des Autors ist eine weitere Stärke des Buches: Bachofens Mutterrecht wird ebenso als Wissens- und Schreibhintergrund der Schriftsteller herausgearbeitet, wie später Freuds Psychoanalyse als ein bestimmtes Erzählmuster von (Wiener, bürgerlichen und jüdischen) Familiengeschichten rekonstruiert wird, das erst nach einigen Wendungen zu seinen definitiven Modellen von Ödipus und Narziß fand. Erhart bezeichnet Freud und König Laios dementsprechend als die „Väter des neuen Familienromans“ – nämlich dem des 20. Jahrhunderts. Psychoanalyse läßt sich also durchaus als eine Reaktion auf Literatur (und die durch sie repräsentierte Problemlage) verstehen, die bis zum Ersten Weltkrieg reihenweise Niedergänge von Familien wegen Verweichlichung oder Verweiblichung von Männern beschreibt, die sich zu nichts mehr entscheiden können.

Noch vor Freuds Remaskulinisierungsversuch boten Lou Andreas-Salomé, Leopold Andrian und andere Literaten starke Mütter, Töchter und Mutterbilder als Ausweg an: durch Töchter in die Hand genommener Männertausch verkehrt hier die traditionellen Geschlechterpositionen. Dopplungen der Männerrolle in Brüder oder Freunde, deren einer erfolgreich ist, während der andere an den beruflichen und familiären Herausforderungen zerbricht, finden sich etwa bei Beer-Hofmann. Einen anderen Weg beschreibt das Anfang des 20. Jahrhunderts gern wieder aufgegriffene Erzählmotiv vom verlorenen Sohn. Rilke optiert für die Auflösung von Männlichkeit, Subjekt und traditionellem Schreiben von Familiengeschichten durch die Entscheidung für einen anderen Ort, der vor den üblichen Zwängen der Geschlechterzuschreibungen liegen soll; Werfel plädiert für die Aufspaltung der Vaterfigur in Bild und Person, was den Vatermord zwecks Sohnesemanzipation dann unnötig macht, während André Gide mit der Rückkehr des verlorenen Sohns die Mehrfachbesetzung aller Geschlechterpositionen vorführt: Nicht nur Vater und Sohn, sondern auch Mutter, Brüder und jüngerer Sohn werden in den Dialog um die neue Rollenbestimmung des Heimkehrers einbezogen: Mit dieser Vielfalt von beteiligten Personen weichen bisherige Grenzziehungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf. Das erlaubte es dem Zurückgekehrten, eine andere Vaterposition zu übernehmen und dem Jüngeren das Expertimentieren in Freiheit zu ermöglichen. Damit werden Variationsmöglichkeiten von Männlichkeit angedeutet, die zwar als Vorlage für die Postmoderne gelten mögen, allerdings den massenhaften Bedarf an traditioneller Eindeutigkeit nicht beseitigen: Den bedient der gängige Familienroman – weshalb das Genre bei den Literaturwissenschaftlern lange in Verruf stand. Erhart hat nun allerdings gezeigt, daß man hinter die Entstehungszeit der Psychoanalyse zurückgehen muß, um im Medium des Familienromans eine wesentliche Quelle für die Konstruktion moderner Männlichkeit zu entdecken.

Das Buch ist hervorragend geschrieben. Die Interdisziplinarität von Männerforschung könnte von seinen Anregungen sehr profitieren: Ob man sich mit Selbstzeugnissen der frühen Neuzeit, mit männerbündischen Ideologien oder mit aktuellen Konflikten um Männlichkeiten zwischen Beruf und Familie befaßt, Erhart bietet für jeden interessante Denkanstöße. Da gerade der Facettenreichtum literarischer Männlichkeitskonstruktion in einer Rezension aber nicht annähernd wiederzugeben ist, kann ich nur dingend die Lektüre empfehlen.1

Anmerkungen:
1 Vielleicht regt das ja ähnlich gründliche historische Studien zur Familie nach 1850 an, wie sie mit den Arbeiten von R. Habermas und A.-Ch. Trepp für die vorangehende Zeit in Deutschland bereits vorliegen. Die 1999 erschienene Studie von J. Tosh über die englischen Familien bis 1900 wäre dafür eine weitere Referenz.

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