M. Stahl: Botschaften des Schönen

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Titel
Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike


Autor(en)
Stahl, Michael
Erschienen
Stuttgart 2008: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
29,90 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pedro Barceló, Historisches Institut, Universität Potsdam

Warum ist eine bestimmte Vergangenheit es wert, erinnert zu werden? Warum ausgerechnet die Antike? Sind es allein die vielfältigen in Stein und Schrift festgehaltenen Traditionsbestände wie Baumonumente und Kunstwerke, Dichtung und Literatur sowie die ihnen innewohnenden Werte und Normen, die ihr eine Daseinsberechtigung neben Gegenwart und Zukunft zugestehen? Derartige Fragen erhalten eine besondere Relevanz, weil gerade das letzte halbe Jahrhundert von dem Verlangen geprägt war, die Wurzeln Europas wieder verstärkt in das öffentliche Bewusstsein einer europäischen Gemeinschaft zu rücken, die auf diese Weise für ihre eigenen Ursprünge sensibilisiert werden sollte. Als gemeinsame Erkenntnis wurden die antiken Zeugnisse als Grundpfeiler anerkannt, auf deren Fundament die Entfaltung aller uns gegenwärtig umgebenden Errungenschaften der Moderne erst ermöglicht wurde. Der griechisch-römischen Zivilisation wurde vor diesem Hintergrund eine traditionsbildende, vorbildtragende Rolle für ein Europa attestiert, das sich als politische und kulturelle Einheit verstand, an dessen Ende die Glorifizierung ihrer europäischen Identitätsfindung stand.

Mit seiner jüngsten Publikation „Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike“ greift Michael Stahl unmittelbar in die kontroverse Debatte um die antiken Grundlagen Europas ein, hebt sich jedoch mit seinem Werk innerhalb dieser bunten Veröffentlichungslandschaft deutlich hervor. Die besondere Wertigkeit seines Beitrages erwächst aus dem ihm immanenten Anspruch, nicht auf dem schlichten Bewusstsein eines antiken Erbes zu verharren, sondern diese Erkenntnis unter einem direkten Gegenwartsbezug mit Blick auf eine erneuerbare Zukunftsgestaltung konkret anzuwenden, um somit die Nähe der antiken Vergangenheit den heutigen Zeitgenossen nachhaltig vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck beansprucht Michael Stahl für jede Form von Gegenwart die verpflichtende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um über deren bewusster Wiederaneignung, die Wiedergewinnung von Geschichte zu realisieren. Nur unter diesen Voraussetzungen ist es nach Meinung des Verfassers möglich, einem unablässigen, natürlichen Bedürfnis nach Geschichte sowie einem gesellschaftlich verbreitetem Modernitätsbewusstsein gerecht zu werden.

Die Hinwendung zur Antike stellt in diesem Zusammenhang, neben der Vergewisserung der Tradition, auch die Befriedigung des Bedürfnisses nach Orientierung stiftender Geschichte für die Gegenwart dar. Ein intellektueller Austausch zwischen der Gesellschaft der Gegenwart und der Gesellschaft der Vergangenheit wird für die Bewältigung der kulturellen Herausforderungen unseres Jahrhunderts als unerlässlich gehalten. Als Grundlage eines solchen konstruktiven Dialogs ist jedoch ein gewandeltes Geschichtsverständnis, dass als Bedingung den Bezug zur Antike für die Bildung eines modernen europäischen Selbstverständnisses voraussetzt, maßgebend.

Das Aufzeigen einiger erlesener, von Michael Stahl als „Botschaften des Schönen“ charakterisierten, kulturellen Verdienste der Antike unterliegt vor diesem Hintergrund der konkreten Intention, unter Anwendung ihrer Rezeption, gegenwarts- und modernitätskritische Impulse zu setzen, um auf diese Weise eine Korrektur oder Überwindung der Moderne in ihrer gegenwärtigen Verfassung von neuem anzuregen. Den Leitgedanken der vorgetragenen Konzeption bildet der Ausdruck des Schönen, der seit der Antike einen Zentralbegriff des philosophischen Denkens darstellt. Unter der Anwendung eines weit gefassten Schönheitsbegriffs, ordnet Michael Stahl dem Terminus „nicht nur Äußerliches, sondern [ebenso] etwas den Menschen, Dingen, Taten, Gedanken oder Strukturen Wesentliches [unter]. Schön können daher nicht nur Statuen, Bilder oder Architekturen sein, sondern auch Ideen wie etwa die Geschichte, Raumstrukturen, wie sie die antiken Städte aufweisen, oder politische und soziale Ordnungen wie Republik und Monarchie.“ (S. 14)

Michael Stahl beleuchtet zu diesem Zweck ein Spektrum von diversen Lebensbereichen, in denen wir uns gegenwärtig bewegen. Er greift dabei auf verhältnismäßig bekannte Relikte der antiken Vergangenheit zurück. Sein Bestreben ist es, Bilder zu zeichnen, die in sich abgeschlossen sind und je für sich stehen. Im Mittelpunkt steht jeweils ein historisch-konkretes Einzelbild, dass keiner theoretisch-erörternden, sondern einer exemplarischen Darstellungsform unterliegen soll. Der Autor vermag es auf diesem Wege, eine breite Mannigfaltigkeit der antiken Kultur aufzuzeigen, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit anzustreben.

Inhaltlich eingerahmt werden die zahlreichen Einzelbetrachtungen von zwei bedeutenden am Beginn der Moderne stehenden Persönlichkeiten, deren Leistung in einer bis heute wirksamen, theoretisch und praktisch gelungenen Rezeption der Antike besteht. Zunächst ist von Johann Joachim Winckelmann die Rede, der im 18. Jahrhundert mit Verweis auf die künstlerische Erhabenheit und die von Freiheit gekennzeichnete gesellschaftliche Lebensordnung ein mustergültiges Idealbild von den antiken Griechen entwirft. Seine Idee des Schönen will er als Idee des sittlich Vollkommenen verstanden wissen, womit Ästhetik und Ethik bei ihm untrennbar aneinander gebunden sind (S. 15-36).

Im 19. Jahrhundert ist es schließlich Karl Friedrich Schinkel, in den Augen Michael Stahls der „größte deutsche Baumeister“ (S. 281), der die Impulse Winckelmanns aufgreift und sich die Antike, nun jedoch unter Einbeziehung eines über die bloße Nachahmung hinausreichenden, gänzlich neuen Elements, als Teil einer sinnstiftenden Geschichte für die Gegenwart anzueignen versucht. Sein erklärtes Ziel ist es, produktiv auf die eigene Zeit zu wirken und unter Anwendung verschiedenster Mittel eine Gesellschaft, Staat und Kultur einer historisch fundierten Erneuerung zuzuführen (S. 281-292).

Am Anfang seiner antiken Kulturbetrachtung steht für Michael Stahl die Relevanz der Historie. Als Urbilder der Geschichte bezeichnet er jene für Europa typisch und notwendig gewordenen schriftlichen wie baulichen Ausprägungen, wie sie von Herodot mittels seiner Geschichtsschreibung (S. 39-57) und Augustus in Form des Augustusforums (S. 58-78) beispielgebend zur Anschauung gebracht wurden. Beide Darstellungsformen demonstrieren schließlich eindrucksvoll, dass Geschichte stets ein Akt bewusster Gestaltung darstellt.

Als Kristallisationspunkt antiker Gemeinschaften und ihrer Lebensräume, stellt Michael Stahl als einen thematischen Schwerpunkt die Stadt ins Zentrum seiner Betrachtung. Nach antiker Vorstellung konnte menschliches Leben einzig in einer städtischen Lebenswelt seine Erfüllung finden. Die Stadt musste dazu gleichermaßen einem Nutzungs- wie Ästhetikanspruch genüge leisten. Sie wurde zu diesem Zweck einer rationalen Strukturierung unterworfen, welche eine Korrelation von der Gleichheit der Bürger und dem urbanistischen Gleichheitsprinzip gewährleisten sollte. An ausgewählten Beispielen verdeutlicht der Autor an dieser Stelle die für die Europäer maßgeblich gewordene Idee von Stadtentwicklung und -verwirklichung, als deren Urheber die Griechen gelten (S. 81-120).

Als Grundtypus gemeinschaftlicher Ordnungen der antiken Gesellschaft thematisiert Michael Stahl des Weiteren das Ordnungsmodell der griechischen Polis des 5. Jahrhunderts v.Chr. Diese zeichnet sich durch die Existenz einer Bürgergemeinschaft aus, die in ihrer Funktion als Trägerschaft der politischen Entscheidung, bereits von den Griechen als höchste Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens erkannt wurde. Innerster Kern dieser demokratischen Bürgerstaatlichkeit bildete die stete Gegenwärtigkeit einer auf innerer Überzeugung beruhenden politischen Ethik. Bis zum Ende der Antike blieb der Bürger stets die Grundfigur der politischen Ordnung (S. 123-140).

Als weiteren Höhepunkt richtet der Verfasser abschließend sein Augenmerk auf die vielfältigen plastischen Errungenschaften der Antike. Zunächst widmet er sich den in der Mitte des 7. Jahrhunderts v.Chr. als erste großplastische Bildwerke menschlicher Figuren entstehenden Kouros-Statuen. Mit ihnen schaffen die archaischen Griechen einen einheitlichen Typus der Personendarstellung, der den antiken Menschen in einer idealen Weise als gesellschaftliches Leitbild verkörpert (S. 239-257). Unter der folgenden Heranziehung diverser Beispiele ausgewählter Klassiker der griechischen Plastik des 5. Jahrhunderts zeigt Michael Stahl entscheidende Entwicklungslinien der griechischen Bildhauerkunst auf. Neben einem ästhetischen Wert kann den Plastiken der klassischen Epoche somit auch eine moralisch-politische Zweckdienlichkeit zugesprochen werden, indem man das künstlerische Bemühen um ein mittleres Maß gleichsam als Spiegel der politischen Ethik des klassischen griechischen Bürgerstaates verstehen will (S. 258-280).

Kapitelübergreifend besticht die thematische Auseinandersetzung durch eine umfassende Quellenrecherche. Auf der Grundlage einer sorgfältigen Betrachtung des gegebenen antiken Überlieferungsmaterials gelingt es dem Autor in zugleich ansprechender wie anschaulicher Darstellungsweise ein mannigfaltiges Bild der antiken Kulturgeschichte zu entwerfen, welches die Lebenswelt griechischer und römischer Zivilisation schlaglichtartig darzustellen und in ihrer Ausstrahlungskraft bis zum heutigen Tage hervorzuheben vermag. Das umfangreiche Zusatzmaterial in Form vielfältiger Abbildungen und Illustrationen sowie die den einzelnen Kapiteln zugeordneten Literaturempfehlungen entspricht der visuellen Verstärkung des Geschilderten und dient dem Leser über die Lektüre hinaus als Anreiz zu einer weiterführenden Beschäftigung mit der Materie.

Mit seinem Werk „Botschaften des Schönen“ ist Michael Stahl letztendlich eine fundierte Darstellung eines komplexen Themenfeldes gelungen, welches nach seiner Lektüre das Hinterfragen um eine angeblich fehlende Aktualität der antiken Vergangenheit obsolet erscheinen lässt. Seiner aufgezeigten Forderung gerecht werdend, vermag es der Verfasser das von den Altertumswissenschaften der letzten beiden Jahrhunderte entworfene Bild von einer der Gegenwart lebensfernen antiken Welt aufzubrechen. Darüber hinaus entwirft er ein mit Perspektive auf die Gegenwart gerichtetes facettenreiches historisches Deutungsangebot der antiken Vergangenheit, welches als richtungsweisend für jede nachfolgende Auseinandersetzung mit der Antike angesehen werden kann und muss. Der eingangs gestellten Frage, warum eine bestimmte Vergangenheit und insbesondere die Antike es wert seien, erinnert zu werden, bleibt Michael Stahl somit keiner Antwort schuldig. Seine Botschaften des Schönen verdienen es letztendlich als jene orientierungsstiftenden Leuchttürme betrachtet zu werden, nach welchen die zeitgenössischen Menschen aufgrund einer von Finanz- und Wirtschaftskrise, Sozialabbau wie Politikdebakel getrübten Gegenwart vermehrt Ausschau halten.

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