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Titel
Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928-1980


Autor(en)
Schmoll, Friedemann
Reihe
Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 5
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Lipphardt, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

„Wir werden uns im Innersten bei all unserem Tun bewußt sein, daß es die Aufgabe der Wissenschaft und ihre alleinige Aufgabe ist, die Wahrheit zu suchen, und daß sie sich durch keinerlei Anstürme und Tendenzen, mögen sie kommen, woher sie wollen, in dieser Aufgabe beirren lassen darf, will sie sich nicht selbst aufgeben“, zitierte 1947 John Meier, einer der führenden deutschen Volkskundler, eine seiner Reden aus dem Jahr 1934 (Schmoll, S. 208). Wie auch andere Wissenschaftler bedienten sich die Volkskundler nach Ende des Zweiten Weltkrieges einer beliebten Entlastungsstrategie: Neben der „lauten und den Vordergrund beherrschenden“ Volkskunde, so Will-Erich Peuckert, habe „eine ernste, arbeitende, wissenschaftliche Volkskunde“ bestanden (S. 204). Gleichzeitig suchten deutsche Volkskundler in Ost und West aber erneut die Nähe der Politik: Vertriebenenvolkskunde im Westen, sozialistische Volkskunde im Osten. Das Mammutprojekt „Atlas der deutschen Volkskunde“, dessen Institutionengeschichte Friedemann Schmoll vorgelegt hat, ist mitten in dieser Fachgeschichte situiert und kann in seiner Bedeutung für die Disziplin kaum überschätzt werden. In der Weimarer Republik unter aktiver Beteiligung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) begonnen, bestand der Atlas bis in die 1980er-Jahre und bildet so einen idealen Gegenstand für eine Wissenschaftsgeschichte, die Kontinuitäten und längerfristige Trends von Forschungspolitik aufzeigen möchte.

Schmoll demonstriert zum einen, wie die noch in den 1920er-Jahren wenig institutionalisierte Volkskunde sowohl mit den Nachbardisziplinen als auch mit ehrgeizigen DFG-Repräsentanten um die Hegemonie in dem von Anfang an umstrittenen Projekt rang – wie auch um die Unabhängigkeit der Disziplin. Zum anderen kontextualisiert er die Anfangsphase des Atlas überzeugend in der nach dem Ersten Weltkrieg virulenten Suche nach dem Zusammenhang zwischen „Kultur“ und „Raum“ – eine Suche, bei der es zugleich stets um die Verbindung zwischen „Raum“ und „Volk“ ging. Unter diesen Prämissen konnte und sollte der Atlas kein „rein wissenschaftliches“ Unternehmen sein: Die hochtrabenden und öffentlich geschürten Erwartungen an den Beitrag der Geisteswissenschaften zur Selbstvergewisserung der Deutschen, zur Volkstumspflege und Volkserziehung, begleiteten den Atlas bis in die zweite Nachkriegszeit, wenngleich sie schon zu Beginn der 1930er-Jahre enttäuscht wurden.

Denn bereits die Umsetzung dieses Großprojektes gestaltete sich schwieriger als zunächst angenommen. Ausgehend von einer Berliner Zentralstelle, über 30 Landesstellen und mehr als 20.000 Laien als Datensammlern sollten etwa 1.000 Fragen per Fragebogen an das deutsche Volk gestellt werden; die Antworten sollten gesammelt, geordnet, ausgewertet und in Kartenform publiziert werden. Erhoben und dokumentiert werden sollte die räumliche Verbreitung von Traditionen, Aberglaube, Gegenständen, Bezeichnungen und vielem mehr. Von Beginn an bis nach 1945 waren sich die Beteiligten uneinig, ob es darum gehen sollte, die Vergangenheit der bäuerlich-ländlichen Kultur oder die Gegenwartskultur einzufangen – man entschied sich dann für ersteres. Das Projekt sah keine soziale Differenzierung oder Stadt-Land-Unterscheidung vor, und Minoritäten wurden von vornherein ignoriert. Das Interesse galt offenkundig einem deutschen Idealvolk.

Freilich musste sich die Auswahl der Fragen in einem interdisziplinären Gremium schwierig gestalten. Die erste Generation bemühte sich darum, Fragen im Konsensverfahren auszuwählen, was mit großen Verzögerungen einherging. Das wurde von DFG-Seite bald als ineffizient und methodisch unzulänglich kritisiert; schließlich wurde die Anzahl der Fragen auf unter 300 festgelegt. Die Erhebungen fanden zwischen 1930 und 1935 statt. Zu ersten halböffentlichen Kartenpublikationen kam es 1937, und viele Karten erschienen erst nach dem Krieg.

Bereits vor 1933 war es unter den Atlas-Akteuren – Wissenschaftlern wie DFG-Repräsentanten – zu Intrigen und Streitigkeiten gekommen. Die erste Atlas-Generation unter der Führung des eingangs zitierten John Meier wurde 1934 gestürzt; danach geriet der Atlas vollends zur Ressource für machtpolitische Fehden, sowohl für die Volkskunde als auch für Wissenschaftspolitiker und Parteifunktionäre. Schmoll führt den Leser durch einen regelrechten Intrigen-Dschungel, in dem sich die konkurrierenden Wissenschaftsorganisationen des NS-Regimes die Klinke in die Hand gaben: Amt Rosenberg, Reichserziehungsministerium und SS-Ahnenerbe kämpften um die Macht im Volkskunde-Atlas, bis dieser 1939 die Arbeiten vorerst einstellte. Erst in den 1960er-Jahren erfolgten wieder praktische Arbeiten am Atlas, eine kleinere Nacherhebung zur (vergangenen) bäuerlichen Lebenswelt sowie Auswertungen des vorhandenen Materials. Die Publikationen blieben jedoch stets weit hinter den Erwartungen zurück.

Nun ist die Geschichte, die Schmoll bis zu diesem Punkt erzählt, nicht ganz neu. 1992 legte Heidi Gansohr-Meinel eine Studie zum Volkskunde-Atlas vor, die den Zeitraum 1928–1945 abdeckt.1 Ohne Zweifel geht Schmolls gesellschaftspolitische Kontextualisierung des Atlas über das hinaus, was Gansohr-Meinel geleistet hat, und auch die von ihm berücksichtigten Quellen sind wesentlich umfangreicher. Dafür mangelt es Schmolls Darstellung zumindest für die Zeit bis 1934 mitunter an Stringenz: Der Dschungel aus nicht-eingeführten Personen, nicht-erläuterten Fach-Ausrichtungen und nicht-chronologisch erzählten Ereignissen bleibt stellenweise verwirrend.

Aber Schmolls Studie hat eine Pointe, die unverständlicherweise nicht im Zentrum steht, sondern über 200 Seiten hinweg immer wieder nur angedeutet und erst fast ganz am Ende etwas weiter ausgeführt wird. Schmolls Einleitung trägt den Titel „Modellfall oder Sonderfall?“ und bezieht dies zunächst hauptsächlich auf die wissenschaftspolitische Stellung des Atlas-Projekts innerhalb Deutschlands. Zwar wurde der Atlas nicht, wie anfangs erhofft, zum Modellfall, welcher den Geisteswissenschaften den Weg in die Großforschung naturwissenschaftlichen Stils weisen sollte. Ein Sonderfall blieb er jedoch auch nicht: Zahlreiche andere internationale Projekte zu nationalen Volkskunde-Atlanten entstanden in dieser Zeit, in der die Ethnokartographie ihren internationalen Aufschwung begann, und sie orientierten sich zum Teil explizit am deutschen „Modellfall“. Während der NS-Zeit gab es Kooperationsbemühungen mit Volkskundlern aus anderen „nordischen“ Ländern. Die deutsche Volkskunde sah sich also keineswegs isoliert. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den 1960er-Jahren, sollte sich dies in zahlreichen Kooperationen manifestieren, allen voran dem (wenig Ergebnisse zeitigenden) „Ethnologischen Atlas Europas“. Atlasprojekte schienen mit ihrer „Faktizität“ hervorragend geeignet zu sein, die institutionellen und inhaltlichen Unterschiede der nationalen Forschungskulturen herunter- und „Europa“ heraufzuspielen sowie institutionelle Konsolidierungsarbeit zu betreiben. Dieser wichtige Punkt der Internationalisierung kommt bei Schmoll neben den sehr ausführlich geschilderten Konkurrenzbeziehungen der beiden deutschen „Volkskunden“ in der Nachkriegszeit zu kurz.

Dies korrespondiert mit einem zweiten Kritikpunkt: Als Wissenschaftshistorikerin vermisst man in einer ausschließlich institutionengeschichtlichen Studie den praxeologischen Blick der Historischen Epistemologie; und es hätte kein verkrampft übertragener Laborstudien-Ansatz sein müssen, sondern lediglich der Versuch, etwas näher an die Arbeitspraxis heranzuführen. (Auf dem stark praxisorientierten Grundgedanken des Atlas beruhten ja auch alle Objektivitätsbehauptungen.) Die Leser erfahren wenig über die Fragebögen, nichts über die Praxis der Erhebung und Datensammlung bzw. -aufbereitung sowie nicht genug über die verschiedenen Schulen, die im Atlas ihre inhaltlichen Ziele verfolgten. Ebenso fehlen die Praxis der internationalen Kooperation, der Anfragen, des Datenaustauschs, der gegenseitigen Forschungsbesuche, des Schriften- und Meinungsaustauschs, der gegenseitigen Zitationen etc. – alles Punkte, die die Atlas-Arbeit der 1930er-Jahre in einem anderen Licht zeigen könnten.

Ein weiterer Punkt sei eher als Ausblick genannt, weniger als Kritik. An welcher Art von Naturwissenschaft, so fragt man sich unwillkürlich, wollten sich die Volkskundler orientieren (wie Schmoll immer wieder anführt)? Projektstrukturen wie die des Atlas gehörten jedenfalls in den Naturwissenschaften nicht zum Alltag. Aber: Die Parallelen zwischen der Institutionalisierung der Volkskunde und derjenigen der so genannten Rassenkunde sowie die Beziehungen beider Disziplinen sind gar nicht zu übersehen. Denn schon zu Zeiten der Anfänge der Ethnokartographie wurden interdisziplinäre Projekte gemeinsam mit der Rassenkunde verfolgt. Eugen Fischer taucht nicht von ungefähr in vielen Momenten der Geschichte der Volkskunde auf, etwa als Gutachter. Ende der 1920er-Jahre verfolgte er ein ähnliches Projekt mit der „Rassenkunde des deutschen Volkes“, dessen Aufbau nicht unähnlich zu sein scheint – was Schmoll allerdings nicht systematisch vertieft. Zwar trifft es zu, dass der damalige DFG-Präsident Friedrich Schmidt-Ott die Anthropologie aus dem Atlas-Projekt fernhalten wollte, doch sollte dies nicht als grundsätzliche Divergenz zwischen beiden Fächern und ihren damaligen Vorannahmen missverstanden werden.

Bezüglich der praxeologischen Annäherung bleibt zu sagen, dass die Buchreihe zur DFG-Geschichte auch keinen derartigen Ansatz vorsieht. Friedemann Schmoll bietet eine in sich schlüssige, erhellende Institutionengeschichte mit Schwerpunkt auf der deutschen Wissenschaftspolitik, deren Lesbarkeit durch einige Umstellungen (sowie eine in Fragestellung, Forschungsstand, Quellen und Ansatz einführende Einleitung) hätte erleichtert werden können.

Anmerkung:
1 Heidi Gansohr-Meinel, „Fragen an das Volk“. Der Atlas der deutschen Volkskunde 1928–1945. Ein Beitrag zur Geschichte einer Institution, Würzburg 1992.