E. Nehlsen: Berliner Liedflugschriften

Titel
Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz (3 Bde)


Autor(en)
Nehlsen, Eberhard
Reihe
Bibliotheca bibliographica Aureliana 215, 216, 217
Erschienen
Baden-Baden 2008: Valentin Koerner Verlag
Anzahl Seiten
XXVIII, 1226 S.
Preis
€ 404,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Berlin

Der aktuelle Forschungsstand zum Medienverbund der Frühen Neuzeit ist immer noch Stückwerk, da vor allem die „kleinen“ Drucke aller Variationen, Flugpublizistik im weitesten Sinne, weder in ihrer kulturellen Bedeutung noch bibliographisch hinreichend erfasst sind. In vielerlei Hinsicht lassen sich die zumeist im Quart- und Oktavformat erschienenen, selten mehr als 24 Blätter umfassenden Druckpublikationen, als „vergessene“ Quellen des Alten Reiches bezeichnen.1 Umso verdienstvoller sind Kataloge, die Voraussetzungen für quellenfundierte zukünftige Forschungen schaffen. Besonders die katalogisierenden Anstrengungen zu frühneuzeitlichen illustrierten Flugblättern, welche maßgeblich mit den Namen Wolfgang Harms, Michael Schilling und Andreas Wang verbunden sind, und die Bibliographien zur reformatorischen Flugschrift von Hans-Joachim Köhler bieten Einblicke, öffnen interdisziplinäre Zugänge und beflügeln Forschungsansätze zum sogenannten Tages-, Klein- oder Gebrauchs- und Verbrauchsschrifttum.2 Ein Segment der Flugpublizistik, nämlich die Liedflugschriften, wurde bislang für das Alte Reich allenfalls in Marginalien bedacht. Nachdem Rolf Wilhelm Brednich Mitte der 1970er-Jahre mit seinem zweibändigen Werk zur „Liedpublizistik im Flugblatt“ diese Drucke zurück ins Forschungsbewusstsein gebracht hatte, mangelte es in der Folgezeit an ähnlichen Bemühungen, die „Volkslieder“ an den sich diversifizierenden und ausdifferenzierenden Druckpublizistik-Markt zu koppeln.3

Eberhard Nehlsen kommt das Verdienst zu, einen dreibändigen Katalog zu Liedflugschriften zwischen 1500 und 1650 vorgelegt zu haben, der sich auf die Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin stützt. Hier befindet sich seit gezielten Bibliotheksankäufen im 19. Jahrhundert (unter anderem die „Bibliothek Meusebach“) die vermutlich weltweit größte Sammlung deutschsprachiger Liedflugschriften. Von den insgesamt 4000 Drucktiteln der Staatsbibliothek dokumentiert und präsentiert der Musikwissenschaftler Nehlsen nicht weniger als 2298 Drucke. Der Einleitung ist zu entnehmen, dass Nehlsen das tatsächliche Volumen der Liedflugschriften zwischen 1500 und 1650 auf bis zu 9000 Titel schätzt, wovon er bislang circa 5400 bibliographisch erfasst hat. Nehlsen arbeitet seit 15 Jahren an einer Erfassung und wird, laut Eigenaussage vorsichtig geschätzt, noch eine weitere Dekade für die restliche Erfassung benötigen. Die Suche, Erfassung und Katalogisierung von Flugpublizistik ist oft mühsame Kärrnerarbeit, da sich diese an weit verstreuten Standorten befinden und nur selten in den Archiv- oder Bibliothekskatalogen einschlägig nachgewiesen werden. Bis eine vollständige Bibliographie der frühneuzeitlichen Liedflugschriften des Alten Reiches vorliegt, dienen die „Berliner Liedflugschriften“ als Nachschlage- und Referenzwerk.

Wie bedeutsam die erfassten 2298 Drucktitel sind, zeigt sich daran, dass Nehlsen in Abgleichen mit anderen Bibliotheks- und Archivstandorten 1802 Unikate in Berlin nachzuweisen vermochte (das heißt etwa 80% des Bestandes). Begrifflich arbeitet der Katalog – wie aus dem Titel ersichtlich – mit der Bezeichnung „Liedflugschrift“, wobei Nehlsen sich des umstrittenen und uneinheitlich genutzten Flugschriften-Begriffs bewusst ist. Mit dem gewählten Terminus wird in Unterscheidung zum illustrierten Einblattdruck, dem (Lied-)Flugblatt, auf die Mehrblättrigkeit und die überwiegende Textlastigkeit hingewiesen. Bei der Auswahl der Drucke setzt Nehlsen auf das Umfangskriterium: generell verfügt eine Liedflugschrift über maximal 16 Blatt (8°), während alle zusätzlichen Blätter die Publikation zu einem „Liederbuch“ machen.

Unter den Berliner Liedflugschriften kommen vierblättrige Oktavdrucke, die jeweils ein bis vier Lieder beinhalten, am häufigsten vor. Quartformate kommen so gut wie nicht vor. Lediglich drei Prozent enthielten Notenangaben, was vermutlich daran lag, dass dies die Produktionskosten der auf populäre Verbreitung, schnelle Produktion und möglichst breiten Verkauf hin ausgelegten Titel unnötig erhöht hätte. Die Drucke verwiesen durchgängig auf zeitgenössisch anscheinend bekannte Melodien. So reichte es, die Melodienadaption mit schlichten Angaben dem Rezipienten verständlich zu machen: „Jm Thon: Es lieget ein Schlößlein...“ oder „Jn dem güldenen Cantzler thon“. Den Höhepunkt der Liedflugschriftenproduktion des Alten Reiches (und somit der -rezeption, -distribution) setzt die Forschung um die Mitte des 16. Jahrhunderts an: Nehlsen zufolge entstanden 52,5 Prozent der Gesamtproduktion an Liedflugschriften zwischen 1526 und 1575. Eine Auszählung der Druckorte lässt hierbei erkennen, dass die damaligen Hochburgen des Druckbetriebs, wie Nürnberg und Augsburg, auch auf dem Lieddruckmarkt führten. Offensichtlich produzierten die Offizinen neben Büchern auch alle Variationen von „kleinen“ Drucken. Dass Nehlsen in zeitgenössischen Zentren der Buchproduktion wie Frankfurt am Main, Köln und Leipzig kaum nennenswerte Liedflugdrucke nachweisen kann, schließt diese Städte nicht etwa kategorisch aus. Ob es tatsächlich spezialisierte Druckzentren für Lieddrucke gab und ob im Umkehrschluss andere geographische Gebiete eher „unmusikalisch“ produzierten, ist aufgrund des Forschungs- und Erfassungsstandes bezüglich frühneuzeitlicher Flugpublizistik einstweilen noch ungeklärt. Besonders die ökonomische Sensibilität der Offizinenbesitzer und das sich stetig ausbreitende Netz von Postverbindungen sprechen eigentlich nicht für eine geographisch einseitige Produktion. Die ökonomische Motivation des Druckpublizistikbetriebs sorgte für Kolportage, sowie für gezielte und zufällige Folgeauflagen durch einzelne Drucker. Hierbei waren sich die Akteure des Marktes der Möglichkeit von Folgeauflagen bewusst, worauf nicht zuletzt die häufig anzutreffende Bezeichnung „erstlich gedruckt zu“ hindeutet.

Der Katalog ist in vier Teilen gegliedert, die sich an den Signaturengruppen des Bestandes in der Staatsbibliothek orientieren. Der erste Teil umfasst die hymnologischen Liedflugschriften (Sondersammlung des Fachgebietes Theologie), der zweite und dritte Teil die „Volkslieder“ (Fachgebiet Germanistik) und der abschließende vierte Teil alle Drucke der Sachgruppe „Lyrik bis 1700“. Aufgeteilt sind diese vier Teile auf zwei Bänden, die durch einen Registerband vervollständigt werden. Hier besteht Gelegenheit nach Liedanfängen, Tonangaben, Drucktiteln, textimmanente Personenangaben und Stichwörtern, (fingierten) Verfassern, (fingierten) Druckorten (und den dort ansässigen Druckern/Verlegern) zu suchen. Insbesondere der Registerband bietet die Möglichkeit, detailliert, effektiv und nutzungsorientiert Antworten und Angaben zu finden. Welche Mühe in den akribisch zusammengetragenen Angaben unter anderem zu Druckorten und Druckjahren versteckt ist, lässt sich nur erahnen.

Das Kern- und Herzstück einer jeden bibliographischen Katalogisierung ist die Qualität der Druckbeschreibung. Auch in dieser Hinsicht überzeugt der Katalog in hohem Maße. Die diplomatisch getreue vollständige Wiedergabe des Titelwortlauts, die Angaben zu Druckort, Drucker, Verleger, Erscheinungsjahr, Inhalts- und Formatangaben, ja selbst Nachweise (und Signaturenangaben) zu weiteren Standorten außerhalb Berlins – über 82 Bibliotheken und Archive sind aufgelistet, außerdem die Verzeichnungen im VD 16 und VD 17 – und Literaturangaben bieten ein umfassendes Arbeitsinstrument.

Ein Durchblättern durch die Katalogbände offenbart Einblicke in die Alltagskultur um 1600, die viel deutlicher durch Flugpublizistik geprägt und bereichert war, als dies in der Forschung zuweilen unterstellt wird. Das inhaltliche Themenspektrum der gedruckten „Volkslieder“ reicht von religiösen, moralisch-mahnenden, politischen sowie das Wirtschafts- und Handelsleben thematisierenden Liedern bis zu historischen Ritter- und Heldenerzählungen. Der von Nehlsen erarbeitete Katalog zu Liedflugschriften wird so zukünftige Analysen und Einschätzungen zur frühneuzeitlichen Alltagskultur bereichern können. Eine Bewertung der Musikalität und Publizität urbaner Räume zwischen circa 1500 und 1700 wird auf die facettenreichen Lieddrucke nicht verzichten können.4 Auf dem Fundament solcher Kataloge ist es nicht nur möglich, quellenfundiert die kulturelle und mentalitätshistorische Bedeutung jener „kleinen“ Drucke zu untersuchen. Das Phänomen von „Ohrwürmern“ etwa scheint keineswegs ein modernes zu sein; offensichtlich reisten bekannte Melodien schon im 15. Jahrhundert durch Mitteleuropa. Inwieweit populäre Töne und Melodien, regional-modulierte Gesangstexte, politisch situativ-variierte Inhalte usw. von Bedeutung für die Frühe Neuzeit waren, sind spannende Forschungsfragen. Deshalb bereichert eine auch verlegerisch ansprechend aufbereitete Katalogisierung von „Kleinschrifttum“, wie die hier besprochenen dreibändigen „Berliner Liedflugschriften“, nicht nur die Musik- und Literaturwissenschaften, sondern auch interdisziplinäre Forschungsansätze einer Kommunikations-, Medien-, Öffentlichkeits- und Publizistik-Historiographie.

Auf die anhaltende Debatte über den Sinn und Zweck von gedruckten Editionen im digitalen Zeitalter möchte der Rezensent an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Weder dem Verlag, dessen Reihe „Bibliotheca bibliographica Aureliana“ hervorragend gestaltete Editionen vorweisen kann, noch dem Bearbeiter Eberhard Nehlsen kann angekreidet werden, dass im Jahr 2009 auch die Möglichkeit einer kostengünstigeren digitalen Edition besteht. Sicherlich wäre es nach dieser Grundlagenedition erstrebenswert, zukünftige Ergänzungen, Neuaufnahmen und Zusatzinformationen in einer Online-Datenbank zu präsentieren. Eventuell kann Nehlsen nach Abschluss seiner vollständigen Liedflugschriften-Bibliographie die dann noch weiter vorangeschrittenen Erfahrungen mit Online-Datenbanken nutzen. Da es gerade für frühneuzeitliche Forschungen zum Druckwesen eminent wichtig ist, dass auch die nachrückenden Generationen gedruckte Quellen auch noch „real“ erleben, das heißt die Flugdrucke auch in den Händen zu halten und die Quelle wortwörtlich zu begreifen, sind gedruckte und digitale Editionsprojekte zwar ungemein zeitsparend, hilfreich und kontexterweiternd, ersetzen aber nach Meinung des Rezensenten keinesfalls die haptische Auseinandersetzung mit den Drucken. Bis allerdings die zahlreichen Facetten von Flugpublizistik der Frühen Neuzeit auch nur annähernd bibliographisch erfasst sind, ist jede Edition, in gedruckter wie in digitaler Form, zu begrüßen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Daniel Bellingradt, Die vergessenen Quellen des Alten Reiches. Ein Forschungsüberblick zu frühneuzeitlicher Flugpublizistik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Astrid Blome / Holger Böning (Hrsg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 36), Bremen 2008, S. 77-95.
2 Wolfgang Harms u.a. (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe, 7 Bde., Tübingen 1985-2005; Hans-Joachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, 1956 Mikrofiches und 10 Register, Leiden 1987; ferner das von Köhler betreute Projekt „The Early Modern Pamphlets Online“ <http://tempo.idcpublishers.info/protected/>, welches im September 2009 über 47.000 erfasste frühneuzeitliche Flugdrucke anführt.
3 Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts, 2 Bde. (Bibliotheka Bibliographica Aureliana 55, 60), Baden-Baden 1974/1975.
4 Vgl. Laure Gauthier / Mélanie Traversier (Hrsg.), Mélodies urbaines. La musique dans le villes d’Europe (XVIe-XIXe siècles), Paris 2008.

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