Titel
Soziologie der Städte.


Autor(en)
Löw, Martina
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens Wietschorke, Humboldt-Universität zu Berlin

Während die klassische Stadt- und Gemeindesoziologie im Kanon der speziellen Soziologien seit langem einen festen Platz einnimmt, steckt die vergleichende „Soziologie der Städte“ noch in ihren Anfängen. Seit einigen Jahren arbeitet eine Forschergruppe der TU Darmstadt um Helmuth Berking und Martina Löw am Programm einer Städteforschung, die nicht nur soziale Prozesse in Städten untersucht, sondern sich auch der soziokulturellen Spezifik bestimmter Städte – und damit der Stadt als Ganzer – zuwendet. In diesem Kontext sind bereits zwei Darmstädter Sammelbände erschienen 1; mit dem vorliegenden, im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch von Martina Löw liegt nun der erste monographische Versuch vor, eine solche Soziologie der Städte zu begründen. Löws Vorhaben, „eigenlogische Strukturen einer Stadt aus ortsbezogenen Praktiken zu erklären“ (S. 30), knüpft konzeptionell an ihre 2001 vorgestellten raumsoziologischen Thesen an2, führt die Ergebnisse zahlreicher disparater Arbeiten aus Soziologie, vergleichender Städteforschung sowie Kultur-, Geschichts-, Planungs- und Wirtschaftswissenschaften zusammen und liefert damit den Aufriss eines neuen Forschungsfeldes.

Der programmatische Anspruch des Buches lässt sich schon daran ablesen, dass es mit einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung mit stadtsoziologischen Konzepten beginnt. Löw wendet sich gegen die von der klassischen Stadtsoziologie vorgenommene prinzipielle „Subsumption der Stadt unter die Gesellschaft“ (S. 32), und plädiert für einen Ansatz, der auch die Stadt selbst als soziologischen Gegenstand fasst, um „einen theoretischen Ort für Differenzen zwischen Städten denken zu können“ (S. 40). In aufschlussreichen Kapiteln etwa zur Relevanz des Lokalen, zum Konnex der Städte, zu den materiellen Ressourcen der Stadtentwicklung und zur Stadt als gebautes und als grafisches Bild vermittelt sie einen Überblick über die soziologische Diskussion zum Forschungsgegenstand Stadt und über die verschiedenen Konzepte zur vergleichenden Analyse von Städten und Stadtbildern.

Im Zentrum von Löws Konzeption einer Soziologie der Städte steht der Begriff der Eigenlogik als eine „Kategorie, mit der sowohl die eigensinnige Entwicklung einer Stadt als auch deren daraus resultierende kreative Kraft zur Strukturierung von Praxis in den Blick rückt“ (S. 79). Damit schließt die Autorin eng an einen Gedanken Rolf Lindners an. Mit seinem Konzept des „Habitus der Stadt“ – kurz darauf auch von dem Geographen Martyn Lee in ähnlicher Weise vorgeschlagen – geht Lindner den quasi biografisch verfestigten Strukturen und Entwicklungspfaden von Städten nach. 3 Martina Löw adaptiert diese Idee in ihren Grundzügen, präferiert aber den etwas weiter gefassten Arbeitsbegriff der Eigenlogik, um ortsspezifische Prägekräfte und Wirkmechanismen zu beschreiben: „Eigenlogik erfasst praxeologisch die verborgenen Strukturen der Städte als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame präreflexive Prozesse der Sinnkonstitution (Doxa) und ihrer körperlich-kognitiven Einschreibung (Habitus)“ (S. 76). In den Blick kommt damit die „unhinterfragte Gewissheit“ über bestimmte Städte (S. 77), die subtile Auswirkungen auf die Stadtentwicklung und das Verhalten der Bewohner hat.

Die Tragfähigkeit dieses sehr allgemein definierten Eigenlogik-Konzeptes hätte sich freilich an der empirisch gesättigten Detailstudie zu erweisen. Löws zentrales, gut 40 Seiten starkes Kapitel über Berlin und München lässt in dieser Hinsicht viele Fragen offen. Ausgehend von Plakaten und Slogans aus Stadtmarketing und Fremdenverkehrswerbung macht die Autorin den Gegensatz von Sex und Abenteuer (Berlin) versus Liebe und Beständigkeit (München) als strukturierendes Prinzip einer Metropolenkonkurrenz der Bilder und Narrative sichtbar. Diese Analyse sexualisierter Stadtbilder ist zwar durchaus überzeugend und gerade in ihrer feuilletonistischen Zuspitzung („In München verliebt man sich, mit Berlin geht man ins Bett“, S. 220) lesenswert; für die Analyse des städtischen Alltags und seiner soziokulturellen Spezifik aber bleibt diese Sondierung professionell gesetzter Stadtimages eher ertraglos. Die vielleicht schmerzlichste Lücke in Löws Darstellung entsteht durch die weitgehende Ausklammerung der historischen Dimension – umso erstaunlicher, als doch gerade die Rede von der Eigenlogik und Pfadabhängigkeit der Städte auf strukturgeschichtliche Konfigurationen verweist, die sich langfristig in der „kumulativen Textur“ der Stadt (Gerald D. Suttles) niedergeschlagen haben. Von diesen historischen Prägungen der Stadtkultur ist zwar immer wieder in einem abstrakten Sinne die Rede; in ihren Fallbeispielen verzichtet die Autorin aber weitgehend auf stadtgeschichtlich fundierte Überlegungen. Dabei lässt sich der komplexe Vorgang, in dem sich aus der Ökonomie und Sozialstruktur einer Stadt – und damit aus dem, was Werner Schiffauer die „Berufskultur des Kollektivs“ nennt 4 – eine ganz eigene Stadtkultur entwickelt, nur aus der Geschichte heraus begreifen. Wer also über die aktuelle Selbstdarstellung der „sexy city“ Berlin als arme, aber kreative, immer im Wandel begriffene Metropole nachdenkt, kann an den sozialhistorischen Strukturen und den damit verbundenen kulturellen Traditionen in dieser Stadt nicht vorbeisehen: an der enormen Wachstumsgeschwindigkeit der Kapitale seit der Gründerzeit, an ihrer Migrationsgeschichte, an ihrer speziellen Prägung durch Elektro- und Kulturindustrie, an dem ganz besonderen kulturellen Potential, das zunächst die Insellage West-Berlins, dann die sozialen Dynamiken der Nach-Wendezeit begründet haben. Umgekehrt muss sich, wer über das Bild Münchens als „Großstadt mit Herz“ schreibt, damit auseinandersetzen, was etwa die kleinbürgerlich dominierte Sozialstruktur seit dem 19. Jahrhundert, die Persistenz dörflich-kleinstädtischer Viertel inmitten der Großstadt oder die Vorherrschaft einiger angestammter Familien im Wirtschaftsleben der Stadt um 1900 zur konservativen Faktur und zur Erzählung vom „gemütlichen“ München beigetragen haben. 5 Martina Löw liefert stattdessen eine eher oberflächliche Bestandsaufnahme der Hochglanzrepräsentation beider Städte – wenn auch vielfältig versehen mit guten Beobachtungen und sprechenden Indizien. Was also in der „Soziologie der Städte“ fehlt, ist eine sozial- und kulturhistorisch fundierte inhaltliche Explikation des analytischen Begriffs der städtischen Eigenlogik. Dieser Begriff bleibt merkwürdig blass; über die schwache Grundsatzbehauptung, Städte seien „als Orte spezifisch“ (S. 80) und es gebe daher „für Städte typische Weisen, das Eigene zu inszenieren“ (S. 241), geht Löw nur wenig hinaus.

Diese Verengung des stadtanalytischen Blicks scheint indessen auch Gründe zu haben, die in der Zielsetzung der von Löw avisierten Soziologie der Städte liegen: Offenbar ist die gründliche Untersuchung der sozioökonomisch begründeten Konstitution kultureller Repräsentationen nicht unbedingt das primäre Ziel des Eigenlogik-Konzepts. Dagegen geht es explizit darum, dass durch den Nachweis der „Reproduktionsgesetzlichkeit“ von Städten „auch Strategien zur Veränderung aufgezeigt werden, welche die Bedingungen und Potentiale vor Ort nutzen, anstelle notorisch die Suche nach internationalen Sponsoren zu empfehlen“ (S. 234). Hinter dem Konzept der Eigenlogik der Städte steht also nicht zuletzt die Frage nach den „Erfolgsfaktoren für Stadtentwicklung“ (S. 234) – und damit eine anwendungsorientierte Perspektive. Somit wird der vorliegende Band auch zu einer Art soziologischem Handbuch für Regionalplanung, Kommunalpolitik und Stadtmarketing; die „Soziologie der Städte“ rückt damit zuweilen in die Nähe einer Planungswissenschaft der „weichen“ Standortfaktoren. Daran ist nichts prinzipiell auszusetzen – im Gegenteil: Auch in der klassischen Stadtsoziologie gehört die kritische Grundlegung planerischer Praxis zu den Hauptaufgaben akademischer Forschung. Allerdings rücken, wenn es dezidiert um die Rolle von Stadtimages im Kontext der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ (S. 117) der Städte geht, historisch-soziologische Faktoren in den Hintergrund, die für die angestrebte „systematische charakterisierende und typologische Stadtforschung“ (S. 31) eigentlich unverzichtbar wären. Wenn Löw also in ihrer Schlussbemerkung schreibt, „dass die Inszenierung des Eigenen nicht mit der eigenlogischen Struktur einer Stadt verwechselt werden darf“ (S. 241), dann ist sie selbst dieser Forderung zumindest in der kleinen Fallstudie zu Berlin und München nicht ganz gerecht geworden. Denn dort geht es nur allzu ausführlich um die Inszenierung und Ikonisierung der Stadt durch offizielle Kampagnen – und weniger um die Persistenz struktur- und mentalitätsgeschichtlich erklärbarer kultureller Muster.

Das neue Buch von Martina Löw bietet einen gelungenen Überblick über ein neues, im Entstehen begriffenes Forschungsfeld und damit eine wichtige Grundlage für die weitere Diskussion um eine relationale Soziologie der Städte. Es liefert ein nützliches Exposé verschiedener stadtanalytischer Fragestellungen, die auf die Spezifik, den Vergleich und die wechselseitige Konstitution von Städten und Stadtbildern zielen. Und es lenkt den Blick auf die wachsende Bedeutung von Images und „city branding“ im internationalen Wettbewerb der Städte. Was hingegen nicht mitgeliefert wird, sind Instrumentarien zu einer stringenten, Geschichte und Gegenwart verknüpfenden Städteanalyse; in dieser Hinsicht bedarf das Eigenlogik-Konzept noch der Ergänzung und begrifflichen Konturierung.

Anmerkungen:
1 Helmuth Berking / Martina Löw (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Städte (Soziale Welt, Sonderband 16), Baden-Baden 2005; Dies., Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main 2008.
2 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.
3 Rolf Lindner, Die Stadt als terra incognita. Perspektiven der urbanen Ethnologie, in: Humboldt-Spektrum 3. Jg. (1996) Nr. 2, 42-46; Ders., Der Habitus der Stadt. Ein kulturgeographischer Versuch, in: Petermanns geographische Mitteilungen Bd. 147 (2003), 46-53. Vgl. auch Martyn Lee, Relocating Location: Cultural Geography, the Specificity of Place and the City Habitus, in: Jim McGuigan (Hrsg.), Cultural Methodologies, London 1997, 126-141.
4 Vgl. Werner Schiffauer, Zur Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten, in: Ders., Fremde in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt am Main 1997, 92-127, v.a. 105-109.
5 Beispielhaft zeigt Clemens Zimmermann, wie eine historische Analyse der sozialen und kulturellen Spezifik Münchens auf wenigen Seiten aussehen kann: vgl. Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt am Main 1996, 114-140.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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