A. Bartetzky u.a. (Hrsg.): Imaginationen des Urbanen

Cover
Titel
Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa


Herausgeber
Bartetzky, Arnold; Dmitrieva, Marina; Kliems, Alfrun
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gertraud Marinelli-König, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Der vorliegende Band enthält 13 Beiträge zu urbanen „Imaginationen“ bezogen auf Mitteleuropa und Osteuropa. „Imaginationen“, so in der Einleitung, „sind Bilder, in denen der Mensch sich Orte anverwandelt und immer wieder aufruft – Bilder, die für ihn die Welt repräsentieren.“

Der Band enthält Beiträge aus den Bereichen Architektur, Stadtplanung, Technik, Film, Fotografie, Literatur, ja selbst Musik. Dass dies alles „unter einen Hut“ gebracht werden kann, legt Rudolf Jaworski im Einleitungsbeitrag dar, der den Städten Ostmittel- und Osteuropas als kulturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt besondere Bedeutung zuschreibt, da sie als „Speicher des kollektiven Gedächtnisses“ neu entdeckt und gelesen werden können. Wenn die empirische Stadtforschung sich mit verfassungs-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen befasse, gehe es im kulturwissenschaftlichen Stadt-Diskurs nicht zuletzt um „identifikatorische Bedeutungsinhalte und Symbolwerte“ (S. 21) und um Strategien der medialen Vermittlung. Städte speicherten Geschichte, der ländliche Bereich Traditionen.

Nach 1989 hat ein geballter Diskurs um das Nach-Mauerfall-Berlin begonnen. Der Beitrag von Paul Sigel analysiert die Ausverhandlungen über den neuen Berliner Alexanderplatz und kommt zum Schluss, dass die gleichzeitige Präsenz der verschiedenen Schichten des Musée imaginaire des Platzes nunmehr dessen historische Dichte visualisiere und ihn zum wirklich urbanen Herzstück der Stadt mache (S. 61).

Der Rote Platz in Moskau und dessen Metamorphose in der Sowjetzeit wird von Andreas Guski unter Augenschein genommen. Der Beitrag beginnt mit Überlegungen zu Agoraphilie („Platzlust“) und Agoraphobie („Platzangst“); generell komme im ostslawischen Raum dem städtischen Platz eine geringere Bedeutung zu als in westeuropäischen Städten; der Markbereich lag außerhalb der Kremlmauern. Der Rote Platz vor dem Moskauer Kreml wurde ebenso wie der St. Petersburg Schlossplatz - symbolisches Machtzentrum des kaiserlichen Russland schlechthin (aber nicht Gegenstand der Untersuchung) - ab den Jahren 1919/1920 zur Bühne der Revolution, wurde erstmals in der Geschichte von den Massen bespielt. Mit dem Tod Lenins und der Errichtung seines Mausoleums 1924 und weiteren Ehrengräbern der Politprominenz vor der Kreml-Mauer erfuhr der Platz eine Art „Hierophanie“ (Mircea Eliade), ein „Aufscheinen des Heiligen im Profanen“. In drei Gemälden von Konstantin Juon: Parade der Roten Armee (1923), Erster-Mai-Parade des Jahres 1929 (1930) und Parade auf dem Roten Platz am 7. November 1941 (1942), werde die Verwandlung des Platzes „vom karnevalistischen Ort politischer Manifestationen der Oktoberperiode zum heiligen Ort mit fest vorgeschriebenem Ritual“ festgehalten. Es wird auf die Lyrik zum Roten Platz verwiesen. Andreas Guski möchte noch einen Punkt berühren: den Zentren der großen Städte waren Mietskasernen und Hinterhöfe als Erbe zugefallen, die zu jenem potemkinschen „Fassadismus“ (Vladimir Papernyj) beitrugen, welcher die Kehrseite der öffentlichen Selbstdarstellung der Sowjetunion bildete, nämlich die eklatante Verwahrlosung der städtischen Innenhöfe, aber auch des Althausbestandes.1

Jene markanten Gebäude aus der Stalin-Zeit, welche das Stadtbild Moskaus nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ veränderten und prägten, wollten mit amerikanischen Wolkenkratzern konkurrieren. Deren Baugeschichte und die Auseinandersetzung mit dem urbanistischen Amerikanismus im jungen Sowjetstaat in den 1920er-Jahren wird im Beitrag von Marina Dmitrieva erzählt. Ein Blick wird auch auf das „neue Moskau“ geworfen. Frappant eine Fotografie des so genannten Triumph-Palastes: 2005 fertig gestellt imitiert dieses Wohnhochhaus, das angeblich das höchste Hochhaus Europas sein soll, den Stil der Stalinarchitektur der 1950er-Jahre (S. 153). Die wahren Dimensionen der Umgestaltung von Moskau im vergangenen Jahrzehnt werden wohl erst aus einer zeitlichen Distanz beschreibbar sein.

Die Propaganda, welche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den „sozialistischen Aufbau“ in den total zerstörten Städte Berlin-Ost und Warschau instrumentalisierte, untersucht Arnold Bartetzky. Er kommt dabei zum Schluss, dass Stadtplanung mit Glücksverheißung gekoppelt war. Im Fokus der Medien stand in Berlin das Großprojekte Stalinallee, in Warschau das Wohnsiedlungsprojekt an der Marszałkowska (MDM), die Altstadtrekonstruktion und der Kulturpalast (PKiN). Der reich bebilderte Beitrag verzichtet auf Zwischenüberschriften und vergleicht die polnische mediale Propaganda – die Materialbasis imponiert – mit der DDR-Propaganda und berichtet über städtebauliche Projekte und Konzepte von damals. Dem Verfasser des Beitrages geht es auch darum zu zeigen, dass das sozialistische Modell zwangsimportiert war, unabhängig davon, dass es, mit Blick auf den soeben erst besiegten Nationalsozialismus, im einen Fall eine Täter-Gesellschaft (Deutschland) im anderen Fall eine Opfer-Gesellschaft (Polen) betraf.

Einem Architekturdiskurs in Polen der Jahre 1945-1949 über den damaligen Modernitätsbegriff widmet Jacek Friedrich seinen Beitrag. Verwiesen wird auf das große Echo der 1948 veranstalteten „Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete in Breslau (WZO)“ in der Fachzeitschrift „Architektura“. Einer der wichtigsten Texte jener Zeit von Maciej Nowicki konnte erst 1958, während der polnischen Tauwetter-Periode, erscheinen.

Der Beitrag von Miroslav Marcelli hebt sich von den anderen ab: Essayistisch angelegt mit starker Betonung des „ich“ und „wir“, beginnt dieser mit philosophischen Überlegungen zur Stadt (Rousseau, Barthes), um auf die Städte der Slowakei zu sprechen zu kommen. Die Umgestaltung derer Stadtkerne nach 1945 folgte dem Ideal, dass „jeder Stein, jedes Stück Eisen, jede Blume […] durch Umfang, Farbe, Form und Standort gehorsam zum großen Diskurs über den Sieg des Sozialismus“ beizutragen habe (S. 43). Der Autor möchte einen Reformismus propagieren, „der Raum eröffnet für spielerische, ungebundene und sogar subversive Kräfte“ (S. 50).

„Verbringen Sie die Nacht nicht schlafend!“ betitelt Tímea Kovács ihren Beitrag über Beleuchtungskampagnen in Budapest; Ende der 1920er-Jahre wurde die Lichtreklame eingeführt und verlieh den Einkaufsmeilen der prachtvollen Stadt nun auch bei Nacht neuen Glanz. Wie in Wien, Prag und Berlin 1927 wurden auch in Budapest „Lichtwochen“ veranstaltet, das Nachtleben boomte: 1970 wurde Budapest im Zuge des X. Parteitages einer großangelegten Neonisierungs-Kampagne unterzogen. Neonreklame sollte die sozialistische Konsumwelt attraktiver machen. So haben auch diese inzwischen verschwundenen Pseudowerbungen an den Geschäften und „presszók's“ (Kaffeebars) zum Flair der sozialistischen Stadt gehört.

Im ungarischen Filmschaffen seit den 1970er Jahren wurde der sozialistische Wohnungsbau sowohl in Autorenfilmen thematisiert, als auch in originellen, als „Budapester Schule“ bezeichneten Streifen (welche unter dem Überbegriff Dokumentarismus zusammengefasst wurden), die fiktionale und dokumentarische Verfahren kombinierten. Diese Filme werden im Beitrag von Gábor Gelenczér auf anregende Art vorgestellt.

„Drehort Moskau“ betitelt Eva Binder ihren Beitrag. Es geht ihr um Filme, in denen ‚die Stadt‘ nicht einfach nur Schauplatz und Kulisse für die filmische Erzählung ist, sondern Teil der Inszenierung wird. Vorgestellt werden die Brat-Filme (1997, 2002) „Bumer“ (2003) und „Nočnoj dozor“ (2004).

Prag eignet sich keinesfalls dazu, als Verkörperung der sozialistischen Utopie beschrieben zu werden: Zwei Beiträge in diesem Band nähern sich der Stadt daher in anderer Form. Als Folie wählt Alfrun Kliems das legendäre Buch von Angelo Maria Ripellino „Praga magica“ (1973), welches ein kulturelles Gedächtnis evozierte, das verschüttet war, um aufzuzeigen, wie Künstler – Undergrounddichter, –musiker und Filmemacher – sich mit ihren Mitteln lyrische, akustische und „optische Zufahrtsstraßen in das Wesen der Stadt“ geschaffen haben.

Von Xavier Galmiche wird am Montage-Text von Bohumil Hrabal „Diese Stadt steht in der gemeinsamen Obhut ihrer Bewohner“ (1967) die Krise der avantgardistischen Vorstellung des städtischen Raumes aufgezeigt; begleitet wird diese Analyse von Fotografien von Miroslav Peterka, welche Laden- und Hinweisschilder als Motiv zeigen. Der abgedruckte Bericht zur Veröffentlichung der Zensurbehörde aus dem Jahr 1966 konzediert diesen Aufnahmen, ins satirischen Genre „Dikobraz“ - eine tschechische Entsprechung der sowjetischen Satirezeitschrift „Krokododil“ - zu passen.

Schließlich ist noch auf den Beitrag von Cornelia Kenneweg mit dem Titel „Von der Manufaktur der Träume zum Alptraum des Krieges“ hinzuweisen. Er umfasst eine Analyse des Werkes des serbischen Schriftstellers Vladimir Pištalo und fokussiert auf dessen Belgrad-Imaginationen.

Relikt oder Erbe: An der Kippe von lebendem „Funktionsgedächtnis“ zu „unbewohnten Speichergedächtnis“ (Jaworski nach Aleida Assmann, S. 20) unterliegt die Stadt des „real existierenden Sozialismus“ einem Degradierungsprozess. Der vorliegende Band möchte diese einstige Urbanität architektursemiotisch und mediengeschichtlich verorten.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu: Alexej Kometsch, Hat die Vergangenheit eine Zukunft? In: Adelheid Pichler, Gertraud Marinelli-König (Hrsg.), Kultur – Erbe – Stadt. Stadtentwicklung und UNESCO-Mandat in post- und spätsozialistischen Städten, StudienVerlag, Innsbruck 2008, S. 33-51.

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