P. Schmidt: Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit

Titel
Wandelbare Traditionen - tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Schmidt, Patrick
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Brandt, FernUniversität Hagen

Die ältere deutschsprachige Handwerksforschung hatte klare Vorstellungen vom vorindustriellen Handwerk Europas: Das Handeln der Handwerker war traditionsgeleitet, das heißt geprägt durch Markt- und Innovationsfeindschaft, orientiert an der „Nahrung“, dem standesgemäßen Auskommen, und organisiert in der Zunft. Letztere bildete das Zentrum einer allumfassenden Handwerkskultur; als Lebensgemeinschaft bestimmte sie „von der Wiege bis zur Bahre“ nahezu jegliches Handeln der Handwerker, ihr innerer Zusammenhalt war ausgesprochen groß. Diese Lebensform erreichte im Mittelalter ihren Höhepunkt, während der Frühen Neuzeit verfiel sie aber allmählich aus unterschiedlichsten Gründen (Prozesse der Staats- und Marktbildung).

Dieses Bild, das vor allem von der historischen Schule der Nationalökonomie sowie der älteren Kulturgeschichtsschreibung gezeichnet worden war, ist seit den 1960/70er-Jahren einer grundlegenden Revision unterzogen worden: Das vorindustrielle Handwerk war weder besonders traditionsbezogen im Vergleich zu anderen frühneuzeitlichen Gruppen, noch lässt sich in den Quellen eine besondere Gruppenkohäsion nachweisen, und erst recht nicht kann das in Zünften organisierte Gewerbe in ein simples Verlaufsmodell (mittelalterliche „Blüte“, frühneuzeitlicher „Niedergang“) gepresst werden. Vielmehr betont die jüngere Forschung die Dynamik, Innovationsfähigkeit und Flexibilität des frühneuzeitlichen Handwerks und verweist auf Individualisierungsprozesse jenseits der Zünfte. Herausgestellt werden die zunftinternen Hierarchien, Machtasymmetrien und Verteilungskonflikte – eine Melange, die erhebliches Konfliktpotential enthielt, weswegen die Vorstellung von Zunft als Lebensgemeinschaft mittlerweile in der Forschung passé ist und stattdessen die Grenzen zünftiger Vergesellschaftung untersucht werden.

An dieser Stelle setzt Patrick Schmidt mit seiner Gießener Dissertation an. Ausgehend von der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung untersucht er den „Nexus von Erinnerung und Identität“ (S. 45) im vorindustriellen Handwerk und stellt damit nochmals die Frage nach der Gruppenkohäsion innerhalb der Zünfte. Dabei möchte er nicht in einen Topf mit der älteren Forschung geworfen werden und wendet sich ausdrücklich gegen die – echten oder vermeintlichen – Polarisierungen der älteren wie auch der jüngeren Handwerksgeschichtsschreibung. Für die Zünfte in Frankfurt am Main, Köln, Nürnberg und Straßburg wertete der Autor deswegen neben schriftlichen Quellen (Meister- und Zunftbücher, Chroniken etc.) auch Bilder und Artefakte, also die so genannten Zunftaltertümer (Zunftladen, Willkommpokale etc.), aus. Letztere wurden von der jüngeren Forschung eher selten herangezogen, doch liegen aus den letzten Jahren einige wichtige Vorarbeiten, unter anderen von Wilfried Reininghaus, vor, auf die sich Schmidt stützen konnte. Der Untersuchungszeitraum umfasst das 17./18. Jahrhundert, Beispiele aus dem 16. und 19. Jahrhundert sowie Exkurse zum Mittelalter ergänzen das Bild. Bei Fragestellung und Methode lässt sich Schmidt von der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Halbwachs, die Assmanns etc.) inspirieren, wobei er diese nicht nur breit rezipiert, sondern für seine innerhalb der Gedächtnisforschung eher untypischen Quellen – Zunftbücher beispielsweise dienten primär der Verwaltung und nicht der Erinnerungsarbeit – konzeptionell weiterentwickelt und dafür die Kategorie des „pragmatischen Gedächtnisses“ einführt. Angestrebt wird letztlich nichts Geringeres als der „Brückenschlag zwischen Handwerksgeschichte und neuer Kulturgeschichte“ (S. 16).

Bei allen Unterschieden zwischen den untersuchten Städten, die Schmidt wiederholt herausstellt – Köln blieb beispielsweise als einzige der vier Städte katholisch, Frankfurt und Nürnberg waren patrizisch dominiert, während Straßburg und Köln Zunftverfassungen hatten –, lassen sich doch aus seinen zahlreichen interessanten Einzelbeobachtungen einige Ergebnisse in generalisierender Absicht herausgreifen: Nachdrücklich wird die Handwerksforschung daran erinnert, dass die Memoria, also das gemeinsame Totengedenken, zum Leben der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zünfte genauso gehörte wie „Nahrungskonflikte“ oder die Festlegung von Qualitätsstandards. Über die gemeinsame religiöse Praxis (Begräbnisse, Prozessionen, Begräbnis- und Sterbekassen, Stiftung von Messen, Altären etc.) konnte eine Gruppenidentität der Zunft als einer Korporation entworfen werden, in der lebende wie verstorbene Mitglieder in einer Raum und Zeit überdauernden Gemeinschaft vereint waren. Im Zuge der Reformation ist in der liturgischen Memoria der Zünfte in den protestantischen Städten ein deutlicher Wandel zu beobachten: Die bisherigen religiösen Praktiken wurden delegitimiert – Memorialmessen beispielsweise fielen ganz weg; die Zünfte wurden zur partiellen Transformation ihres erinnerungskulturellen Handelns genötigt. Weiterhin gab es etwa die gemeinsame Leichenfolge beim Tod eines Mitglieds der Zunft. Doch traten „Medien der Kommemoration“ wie Zunftbücher oder Stiftungsobjekte (Laden, Willkommpokale etc.) mittelfristig an die Stelle kirchlicher Rituale, so dass im protestantischen Kontext der Verstorbenen vor allem auch mittels Schrift und Bild gedacht wurde. In Köln hingegen blieben die Bruderschaften in der Frühen Neuzeit von großer Bedeutung für die Handwerker. Generell ist in allen Städten eine starke Prägung der Mentalitäten durch die Religion im Untersuchungszeitraum erkennbar.

Stiftungen – vor allem Objektstiftungen (Becher, Bestecke, Willkommpokale, Zunftladen etc.) –, getätigt von einzelnen Mitgliedern der Zunft oder von Gruppen bis hin zur ganzen Korporation, waren der „Königsweg in das Gedächtnis der Zunft“ (S. 203) und damit „ein wesentliches Element der Stiftung von Gruppenkohäsion“ (S. 232). Insbesondere in den drei protestantischen Städten sollte über Individual- oder Kollektivstiftungen zur Kommemoration einzelner Zunftangehöriger Gruppensolidarität demonstriert und inszeniert werden. Diese Konstruktion von Gruppenidentität in der Kommemoration von Individuen war alles andere als egalitär, ein „Übergewicht der Eliten in der Stiftungspraxis“ (S. 224) lässt sich konstatieren – leider, wie in der gesamten Arbeit, ohne quantitative Angaben für die ausgewerteten Quellen bzw. das „Übergewicht“. Stiftungen waren also letztlich ein „Herrschaftsinstrument“ (S. 224) der Zunfteliten.

Schriftlichkeit und Erinnerungsarbeit der Zünfte waren pragmatisch und anwendungsorientiert angelegt, das heißt das Gros der Aufzeichnungen diente der Tradierung rechtlichen, administrativen und ökonomischen Wissens der Korporation („pragmatisches Gedächtnis“), während der „Kernbereich zünftischer Erinnerungskulturen“ (S. 182), also explizit identitäts- und kohäsionsstiftende Narrative über die Zünfte und ihre Angehörigen wie Geschichtserzählungen und soziale Memoria, unterrepräsentiert sind (Chronistik etc.). Jedoch werden auch bei den „pragmatischen“ Texten (Zunft- und Meisterbücher) Fragen der Gruppenidentität thematisiert, und sind Übergänge zum kulturellen Gedächtnis der Zunft erkennbar. Vor allem findet sich in diesen Quellen eine individuelle Form der Kommemoration, indem in Text und Bild an einzelne Zunftvorsteher und andere herausragende Personen erinnert wird. In Zunft- und Meisterbüchern wie in der zünftigen Chronistik sind außerdem Ansätze einer Geschichtsschreibung erkennbar, die als Medien der Weltdeutung und Identitätsbildung dienten: Für Frankfurt und Nürnberg lassen sich beispielsweise Ursprungserzählungen nachweisen, welche die Geschichte der jeweiligen Zunft in einen Zusammenhang mit Bibel und Antike stellen. Offensichtlich besaßen diese Ursprungserzählungen in den patrizisch dominierten Städten, wo das Handwerk von der politischen Macht weitgehend ausgeschlossen war, kompensatorische Funktionen und zielten sowohl auf Anerkennung in der städtischen Gesellschaft als auch auf zunftinterne Integration.

Insgesamt lassen die zünftigen Erinnerungskulturen keine bedingungslose Bereitschaft zur Hochschätzung von Tradition erkennen, sondern vielmehr partielle Innovationsfähigkeit und -bereitschaft. Die von Schmidt dafür untersuchten schriftlichen Quellen wurden vermutlich durchweg von den Zunftvorstehern oder deren Schreibern aufgezeichnet, folglich überwiegt das spezifische Erinnerungsinteresse der Zunfteliten: „Ein Ideal von hierarchischer Ordnung in den zünftischen Erinnerungskulturen“ war „sehr viel präsenter […] als ein konkurrierendes Ideal genossenschaftlicher Gleichheit“, „oftmals“ wird „’Ordnung’ stillschweigend mit ‚Hierarchie’ gleichgesetzt, und ebenso stillschweigend wird die Zunft mit ihren Vorstehern identifiziert“ (S. 373f.). Darüber hinaus finden sich in den schriftlichen Quellen Frömmigkeitsdiskurse sowie „kleinbürgerliche“ Wert- und Ordnungsvorstellungen (Fleiß, Disziplin etc.) weit öfter als vermeintlich handwerksspezifische Normen wie Ehre und Solidarität.

Das stereotype Bild eines unreflektierten Traditionalismus kann Schmidt revidieren. Dieses Ergebnis ist nicht unwichtig, aber auch nicht wirklich überraschend. Denn einen solchen Traditionalismus postuliert in der seriösen Handwerksforschung von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen schon lange niemand mehr. Schmidt rennt mit vielen seiner Ergebnisse – partielle Innovationsfähigkeit und -bereitschaft der Zünfte, keine bedingungslose Bereitschaft zur Hochschätzung von Tradition im Handwerk, Kontinuitäten und Diskontinuitäten bei den zünftigen Erinnerungskulturen, Hierarchien und Zunfteliten – offene Türen ein. Das Bild, das Schmidt von der Forschung zeichnet, fällt etwas holzschnittartig aus: Die ältere Handwerksforschung wird zwar ausführlich vorgestellt, eine Auseinandersetzung mit der so einflussreichen Historische Schule der Nationalökonomie fehlt jedoch gänzlich. Der jüngeren Handwerksforschung werden Dichotomien eher unterstellt als wirklich angemessen belegt. Fraglich ist vor allem, ob sich aus Erinnerungskulturen, die überwiegend von den Zunfteliten getragen wurden, wirklich weitreichende Rückschlüsse auf eine ausgeprägte Gruppenkohäsion in den Zünften und entsprechende Identitäten der „einfachen“ Zunftmitglieder ziehen lassen. Bei den meisten der von Schmidt angeführten Beispiele werden diese Aspekte eher behauptet als im strengen Sinne bewiesen. Hier hätten andere Quellentypen (zum Beispiel Justizakten) – wenigstens exemplarisch – herangezogen, eine stärkere Kontextualisierung der Quellen – auch wirtschaftsgeschichtlich – vorgenommen und damit die Selbstbeschreibungen der Zunfteliten aufgebrochen werden müssen, um „den Grad der Kohäsion in den Zünften und der Identifikation ihrer Angehörigen mit ihnen“ (S. 72) wirklich bestimmen zu können. Das Buch hat seine Längen. Schmidts Text – eigentlich gut lesbar – wurde offensichtlich nicht lektoriert; der Stoff hätte ohne Schaden gestrafft sowie von Wiederholungen befreit werden können. Trotz all der Einwände liegt insgesamt aber eine interessante Studie mit vielen Anregungen für die Handwerksforschung vor.

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