V. Reinhardt: Calvin und die Reformation in Genf

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Titel
Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf


Autor(en)
Reinhardt, Volker
Erschienen
München 2009: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Kaufmann, Theologische Fakultät, Universität Göttingen

Gegenstand des Buches des Fribourger Historikers ist das klassische Thema der Durchsetzung der Reformation in Genf. Auch der Zugang, den Reinhardt wählt, ist im Ganzen recht traditionell: Das Ringen der ca. 10.000 Einwohner starken Kommune um politische Unabhängigkeit gegenüber dem bischöflichen Stadtherrn und den ein sogenanntes vidomnat, das heißt eine Stellvertretung des Bischofs in weltlichen Angelegenheiten, wahrnehmenden Herzögen von Savoyen, die mit militärischer Unterstützung Berns erfochtene relative Autonomie der Stadt und die sich aus diesen politischen Entwicklungen ergebende Affinität gegenüber einer religiösen Entwicklung, die die kommunale Selbständigkeit begünstigte. Auch wenn die reformatorische Entwicklung in Genf bekanntlich mit dem Wirken zunächst Farels, dann vor allem Calvins genuin verbunden war, kommt der regional- und territorialpolitischen Konstellation eine wesentliche Bedeutung zu: Savoyens Versuche, Genf unter seine Botmäßigkeit zu zwingen, begleiteten das weitere 16. Jahrhundert; die burgrechtspolitische Liaison mit Bern (combourgeoisie) blieb seit der Eroberung des Waadtlandes durch die Aarestadt 1536 ein Gegenstand immer neuer Verhandlungen und wurde erst mit dem Beitritt Zürichs im Jahre 1582 in eine Form gebracht, die die Befürchtung der Genfer vor Autonomieverlusten durch eidgenössische Partner definitiv entschärfte. Die durchweg gescheiterten Versuche der französischen Könige, das Ketzernest an der Rhone, aus dem zahllose geistliche Führer des Protestantismus in das Territorium des „allerchristlichsten Königs“ eindrangen, abzustrafen, dokumentieren auf ihre Weise, dass Genf seit den 1560er-Jahren zu einem Zentralort der Zeit, eben zum „protestantischen Rom“, geworden ist.

Reinhardts Darstellung lässt sich als ein Versuch begreifen, das Tremendum und das Fascinosum des Genfer Reformiertentums in multiperspektivischer Breite zu analysieren, jedenfalls keinesfalls primär als das Werk eines einzelnen Mannes darzustellen: Johannes Calvins. Und er tut gut daran, nicht nur nach den personellen und sozialen Kontexten und den (heutigentags auch historiographisch wohl unvermeidlichen) „Netzwerken“ zu fragen, die Calvins Wirken begünstigt haben, sondern auch die strukturellen Spannungen zwischen „Kirche“ und „Staat“ und die relativ instabilen Koalitionen, in denen sich das Wirken Calvins in seiner ersten Genfer Phase (Juli 1536 – April 1538) bewegte, als prägende Aspekte zu betonen. Unermüdlich, und auch ein wenig angestrengt, versucht Reinhardt jedem historiographisch „unkorrekten“ Versuch zu wehren, die Genfer Reformation vornehmlich als Werk diesen einen „grossen Mannes“ erscheinen zu lassen. Der Fokus seiner Darstellung liegt denn auch nicht auf Calvin, sondern eindeutig auf seinem maßgeblichen Wirkungsort Genf; die für Calvins theologische Entwicklung, auch für sein späteres Genfer Wirken außerordentlich wichtige Straßburger Zeit interessiert Reinhardt kaum. Der „Preis“ dieses Ansatzes ist nicht unerheblich: Calvins nachhaltige Prägung durch Bucer, seine auch für die innerprotestantische Konfessionspolitik der zweiten Jahrhundertshälfte wichtigen Kontakte zu Melanchthon und anderen deutschen Theologen, sein diffiziles Verhältnis zur Person und zur Theologie Luthers, seine Erfahrung mit den kaiserlichen Religionsgesprächen, der Aufbau eines breiten Korrespondenznetzes – all dies bleibt in Reinhardts Darstellung weitestgehend unerwähnt.

Hinsichtlich der Perspektive auf Calvins Theologie, der Reinhardt einen für einen Allgemeinhistoriker bemerkenswert breiten Raum zubilligt, erscheint die undiskutierte Zentralstellung der Prädestinationslehre im Lichte der theologischen Calvinforschung keineswegs so selbstverständlich, wie er vorauszusetzen scheint. Dass in Reinhardts Buch außer der antireformatorisch gesinnten Nonne Jeanne de Jussie und dem Chronisten Michel Roset, einem glühenden Parteigänger Calvins, praktisch nur Calvin selbst zu Wort kommt (vornehmlich in Gestalt von Predigt- und Briefzitaten bzw. einigen Abschnitten aus der Institutio) ist angesichts dessen, dass es dem Verfasser doch um Genf und nicht primär um Calvin geht, aufs Ganze gesehen nur bedingt überzeugend.

Im Zentrum der literarisch durchweg gelungenen, stark narrativ gehaltenen Darstellung stehen die Durchsetzung der Reformation als eines religiös-moralischen Deutungs-, Regulierungs- und Disziplinierungssystems, die Mittel, derer sich ihre Protagonisten und ihre Gegner bedienten, die unterschiedlichen Anspruchs- und Radikalitätsgrade, die in vielschichtigen Konfliktszenarien auftraten, und die Motive, denen die unterschiedlichen sozialen und individuellen Handlungsträger verpflichtet waren. Die „Erfolgsgeschichte“ einer zunächst, seit 1541, dem Beginn von Calvins zweiter Genfer Phase, sukzessive, dann, seit 1555, dynamisch fortschreitenden religiös-moralischen Umgestaltung des städtischen Gemeinwesens Genfs hing entscheidend damit zusammen, dass es den zunächst vielfach beargwöhnten „Fremden“ aus Frankreich unter Führung der stadtfremden Pfarrerschaft gelang, als neue, hohen moralischen Ansprüchen genügende, Leistungselite zu imponieren. Der quantitativ gewaltige Zuzug an Glaubensflüchtlingen aus aller Herren Länder, von denen nur ein Bruchteil das Bürgerrecht erwarb, verstärkte den religiösen Integrationsdruck, steigerte aber auch die Bedeutung der Stadt im Kontext der internationalen Konfessionspolitik. Die etwa hinsichtlich der Frage der Exkommunikationsgewalt nie abschließend gelösten Kompetenzquerelen zwischen der Pfarrerschaft bzw. dem Konsistorium und der städtischen Obrigkeit konnten doch nach und nach in ein aufs Ganze gesehen stabiles Gleichgewicht gebracht werden; bestimmte Ziele aller Konfessionsgesellschaften, wie die Bekämpfung außerehelicher Sexualität und die Eindämmung unehelicher Geburten, wurden in Genf mit besonders rigiden Drohungen (Todesstrafe bei Ehebruch) verbunden, zeitigten aber auch überdurchschnittliche Erfolge, nicht zuletzt, weil die geistlichen und die weltlichen Behörden seit 1555 überwiegend an einem Strang zogen. In Bezug auf die religiösen Bildungserwartungen der Jugend und des gemeinen Mannes war die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Genf geringer als in jeder der anderen Konfessionen. Und auch hinsichtlich der Bereitschaft, um eines christlichen Lebenszeugnisses willen Entbehrungen, Verzicht auf Luxus, Annehmlichkeiten und Wohlleben auf sich zu nehmen, kurz: innerweltliche Askese zu praktizieren, gingen die Genfer bekanntlich weiter als jede andere Konfessionsgesellschaft der Zeit. Das Ethos eines politischen Widerstandsgeistes des Calvinismus führt Reinhardt überzeugend auf die Pflichtstrenge reformierter Pfarrer zurück, die wegen der harten Ansprüche, die sie an sich selbst stellten, von ihren Gemeinden eher als vorbildlich empfunden wurden, als dies bei den lutherischen oder gar den katholischen Geistlichen der Fall war.

Die allfälligen modernisierungstheoretischen Räsonnements über „Calvinismus und Demokratie“ bzw. „Calvinismus und Kapitalismus“ dürfen natürlich auch in diesem Buch nicht fehlen, fallen aber bemerkenswert ausgewogen aus. Dass man der rigoros egalisierenden Tendenz calvinistischer Moralität im Verhältnis zu ständischen Selbstverständnissen und dem an der Leistung im Amt orientierten Ethos des Calvinismus eine „modernisierende“ Bedeutung hinsichtlich der Ausbildung eines okzidentalen Zivilisationstypus zuerkennen mag, will denn auch der Autor nicht bestreiten.

Reinhardt hat eine interessante, für eine breitere Öffentlichkeit bestimmte, gehaltvolle und den Forschungsstand zur Genfer Reformation weitgehend sachgerecht aufnehmende Darstellung vorgelegt. An einigen Stellen, insbesondere dort, wo er Genf mit italienischen Verhältnissen vergleicht, blitzen eigenständige und innovative, aber leider nicht wirklich ausgearbeitete Interpretationsperspektiven, die man dem vorzüglichen Italienkenner unbedingt zutraute, auf. So bleibt eigentlich nur ein Wermutstropfen: der allzu trendmäßige, ein wenig marktschreierische, aber – zum Glück! – durch die Darstellung selbst nicht gedeckte Haupttitel des Buches: „Die Tyrannei der Tugend“. Denn dass das Leben im Genf Calvins nach den Maßstäben der Zeit mit einer Tyrannis ebenso wenig zu tun hatte wie mit dem in einer offenen, toleranten Gesellschaft der Moderne, weiß natürlich auch Reinhardt. Und der Maßstab dessen, was man für eine repressive moralische Anforderung halten mag, kann ja im Kontext einer reformationshistorischen Studie wohl nur im 16. Jahrhundert selbst gefunden werden. Dass sich der Calvinismus von den anderen Konfessionen weniger in Bezug auf die sittlichen Ziele als in Hinblick auf die Effizienz seiner Methoden, diese zu erreichen, unterschied, dürfte aber unstrittig sein. Der Titel des Buches leistet seinem Inhalt also keinen guten Dienst.

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