E. Gatz: Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert

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Titel
Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert. Mit einem Beitrag von Karl-Joseph Hummel


Autor(en)
Gatz, Erwin
Erschienen
Freiburg 2009: Herder Verlag
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Voges, Katholisch-Theologische Fakultät, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

Wer sich mit der Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, wird früher oder später auf die Werke von Erwin Gatz stoßen. Durch die Herausgabe verschiedener Sammelwerke hat sich der Rektor des Campo Santo Teutonico in Rom um die kirchengeschichtliche Forschung sehr verdient gemacht.1 Von 1983 bis 2002 erschienen die fünf Bände des Lexikons „Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches“ bzw. „Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder“, die den Zeitraum von 1198 bis 2001 abdecken. Diesem biographischen Werk stellte Gatz 2004/05 ein historisches Lexikon der Bistümer an die Seite. Von 1991 bis 2008 versammelte er in acht Bänden Beiträge zur „Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“. Das siebenbändige Werk „Kirche und Katholizismus seit 1945“, das seit 1998 erscheint und voraussichtlich in diesem Jahr seinen Abschluss finden wird, ist nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt, sondern dokumentiert die jüngste Geschichte der katholischen Kirche in fast allen Teilen der Welt.

Auf dieser umfangreichen und nicht nur für Kirchenhistoriker außerordentlich hilfreichen Grundlage hat Gatz nun einen Überblick zur Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert verfasst. Ausdrücklich schließt er mit dieser Darstellung an das Bistumslexikon, die „Geschichte des kirchlichen Lebens“ und seinen Abriss im ersten Band von „Kirche und Katholizismus seit 1945“ an (S. 5). Auf diese Weise übernimmt das neue Buch gleichsam die Funktion einer Orientierungshilfe für die von ihm herausgegebenen Werke; häufig verweist er auf Beiträge in diesen Publikationen. Mit Blick auf die jüngste Kirchengeschichtsschreibung kommt Gatz ebenfalls ein nicht geringes Verdienst zu. Als einer der ersten beschreibt er den Weg der katholischen Kirche im ganzen 20. Jahrhundert und erfasst mithin auch die an auseinandergehenden Strömungen nicht arme Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Damit aktualisiert er in gewisser Weise die Gesamtdarstellungen von Heinz Hürten und Klaus Schatz, die vor bzw. mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil enden.2

Die Zäsuren der Weltkriege, des Konzils und der deutschen Einheit aufgreifend, hat Gatz seinen Überblick chronologisch in acht Teile gegliedert.3 Dieser klassischen Anlage einer Kirchengeschichte ordnet Gatz neuere methodische Ansätze unter, die er andernorts mit Bänden zur Caritas oder zur Diaspora vorbildlich umgesetzt hat.4 Fremd wirkt in der nachvollziehbaren Unterteilung allerdings der siebte Teil mit dem Titel „Kirche in der säkularisierten Welt“, zumal unter dieser Überschrift nach Abschnitten über die „Erosion der katholischen Lebenswelt“ und den „Wertewandel“ wiederum vornehmlich Ereignisse der 1970er- und 1980er-Jahre referiert werden.

In unterschiedlicher Gewichtung gliedern strukturelle Gesichtspunkte die einzelnen Teile – zum Beispiel „Bischöfe“ bzw. „Die kirchliche Führung“, „Staat und Kirche“, „Caritas“ sowie „Schule und Erziehung“. Auch entlegen wirkende Themen wie „Katholiken anderer Muttersprache“ oder „Auslandsseelsorge“ kommen zur Sprache, wie bereits in der „Geschichte des kirchlichen Lebens“. Diese teilweise wiederkehrenden Punkte ergänzt Gatz in den einzelnen Abschnitten durch zeitspezifische Aspekte, etwa den „Integralismus- und Literaturstreit“ oder „Die Gemeinsame Synode“. Diese Gliederung hilft einerseits bei einer schnellen Orientierung im Buch; andererseits führt sie zu Doppelungen, wenn eine Einordnung neuer Fakten in größere Zusammenhänge nötig wird. Die Idee der „Katholischen Aktion“ wird beispielsweise einmal im Kontext der Verbände in der Weimarer Republik und ein weiteres Mal im Kontext der Gemeinden im Nationalsozialismus skizziert (S. 90, S. 115). Die Wiederholung bestimmter Fakten führt stellenweise auch zu Widersprüchen im Text. Heißt es einmal, „Pilgerreisen nach Rom [...] konnten sich erst wenige Gläubige leisten“ (S. 31), so liest man an anderer Stelle, die Romwallfahrt sei „seit dem Aufkommen der Eisenbahn zum Massenphänomen geworden“ (S. 47). Bischof Philipp Krementz hat den Kulturkampf einmal 1870, auf der nächsten Seite 1872 ausgelöst (S. 22f.). Umgekehrt führt die Abhandlung bestimmter Themen bisweilen dazu, dass die zeitlichen Grenzen eines Abschnitts überschritten werden. Das ist inhaltlich sinnvoll, stört aber den entstehenden Gesamteindruck einer Phase; zum Beispiel tauchen im Teil über die Vorkonzilszeit ein Zitat aus dem Jahr 1967 über die Arbeit der Katholischen Akademien und ein Abschnitt über die nachkonziliare Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland auf (S. 151, S. 154).

In das chronologische Gerüst trägt Gatz in erster Linie eine Fülle von Fakten ein. Die für einen 200-seitigen Abriss unvermeidliche Auswahl trifft er einerseits mit Weitblick, andererseits mit großer Souveränität, die er mit dem Mut zur pointierten Formulierung verbindet. Der Kürze fällt hin und wieder die Anschaulichkeit zum Opfer, wenn Gatz etwa über den Bonifatiusverein knapp schreibt, er habe „Wesentliches für die Diasporagemeinden“ geleistet (S. 30). Manchmal folgt eine Erläuterung später im Text, manchmal wird der in der Forschung nicht bewanderte Leser in anderen Werken nachschlagen müssen. Insgesamt entsteht ein detailreiches Bild, das nur wenige Punkte vermissen lässt. Beispielsweise kommt die Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk nicht vor, und der Leipziger Benno-Verlag findet weder in dem Abschnitt über die „Katholische Presse“ noch in jenem über den „Sonderweg der Kirche in der DDR“ Erwähnung. Die umfassende Kenntnis des Autors zeigt sich andererseits in manch beiläufiger Bemerkung. So erhellt Gatz aufschlussreiche Zusammenhänge, zum Beispiel „dass aus der Jugendbewegung [...] eine Reihe von Architekten hervorging, die den modernen Kirchenbau, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, prägten“ (S. 81), oder kommentiert das Verfahren der Bischofswahl mit erfrischender Klarheit: „Faktisch hatte der Hl. Stuhl seitdem die ausschlaggebende Rolle bei der Neubesetzung der Bistümer.“ (S. 93) Dieses reiche Wissen hätte noch stärker in das Buch einfließen können. Insbesondere wünschte man sich hier und da eine prägnantere Zeichnung großer Entwicklungslinien, die aus dem Dickicht zahlreicher Einzelheiten nur schwach hervortreten.

Einige Druckfehler und kleinere Ungenauigkeiten trüben den guten Gesamteindruck nicht, sollten im Fall einer zweifellos wünschenswerten zweiten Auflage jedoch korrigiert werden (auf S. 140 zum Beispiel ist offenbar eine ganze Zeile verlorengegangen). Das Buch bietet eine informative und verständliche Einführung in die jüngere deutsche Kirchengeschichte mit nicht wenigen Bezügen bis in die Gegenwart hinein. Erwin Gatz hat darin eine Übersichtskarte gezeichnet, auf der der Weg der katholischen Kirche in Deutschland eingetragen ist. Besonders Studentinnen und Studenten werden dankbar auf diese erste Orientierung zurückgreifen. Um die Abzweigungen und kleinen Seitenwege im Einzelnen erkennen zu können, muss man Darstellungen mit einem anderen Maßstab bemühen. Die Suche im Bibliothekskatalog kann dabei wieder mit dem Namen Gatz beginnen.

Anmerkungen:
1 Eine Publikationsliste ist im Internet verfügbar unter <http://www.dbk.de/imperia/md/content/pressemitteilungen/gatz_lebenslauf_schriftenverzeichnis.pdf>.
2 Heinz Hürten, Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800–1960, Mainz 1986; Klaus Schatz, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum, Frankfurt am Main 1986.
3 Die ersten sechs Abschnitte im Teil „Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft“ hat Karl-Joseph Hummel verfasst, Direktor der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn.
4 Erwin Gatz (Hrsg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 3: Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke, Freiburg 1993; Bd. 5: Caritas und soziale Dienste, Freiburg 1997.

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