Cover
Titel
The Most Dangerous Art. Poetry, Politics, and Autobiography after the Russian Revolution


Autor(en)
Loewen, Donald
Erschienen
Lanham 2008: Lexington Books
Anzahl Seiten
xii, 224 S.
Preis
€ 55,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Petersen, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Das „Ich“ gehörte lange Zeit nicht zu den Themen, die in der Forschung zur russischen und sowjetischen Geschichte eine besondere Beachtung gefunden haben. Zu wirkungsmächtig waren Selbst- und Fremdeschreibungen, denen zufolge die russische Gesellschaft seit jeher durch einen stark ausgeprägten Kollektivismus charakterisiert sei und sich fundamental vom individualistisch geprägten Westen unterscheide.

Dieses Bild von Russland als einem Reich der Masse wird seit einigen Jahren zunehmend hinterfragt, so dass sich unser Wissen über die Wege, die jenseits von Zaren- und Sowjetmacht „vom Wir zum Ich“1 führten, deutlich verbessert hat: Selbstdarstellungen Moskauer Kaufmannsfamilien sind ebenso Gegenstand des Interesses geworden wie die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen und die Eröffnung von Freiräumen in weiblichen Autobiographien oder die Lebensbeschreibungen bäuerlicher Autoren und Autorinnen, mittels derer sie sich in ihnen vorher verschlossene Diskurse einschrieben.2

Donald Loewen, Associate Professor for Russian Studies an der Binghamton Universität, hat sich nun in seiner ersten Monographie den autobiographischen Texten dreier Personen zugewandt, die bereits Gegenstand einer Vielzahl von Untersuchungen gewesen sind. Mit Ossip Mandelstam (1891-1938), Boris Pasternak (1890-1960) und Marina Zwetajewa (1892-1941) stehen drei der bekanntesten russischen Dichter/innen des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Arbeit, was die Frage aufwirft, ob Loewen wirklich neue Erkenntnisse zu präsentieren vermag. Nach der Lektüre des Buches kann dies mit einem klaren Ja beantwortet werden.

Die Stärke der Studie liegt hierbei nicht in der Auswahl der von Loewen verwendeten Quellen, arbeitet er doch durchgängig, neben der Diskussion der einschlägigen Forschungsliteratur, mit gedruckten Werkausgaben und edierten Korrespondenzen. Interessant und weiterführend ist vielmehr seine vergleichende Perspektive: Bei allen drei Protagonist/innen fragt er danach, welche Motivationen ihren autobiographischen Prosatexten zugrunde lagen und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich hierbei aufzeigen lassen. Es geht ihm mit anderen Worten um eine Betrachtung des Wechselverhältnisses von Text, Biographie des Autors und gesellschaftlichem Kontext – womit er sich zugleich dezidiert gegen den im Rahmen poststrukturalistischer Theorien häufig proklamierten „Tod des Autors“ wendet und statt dessen auf der Relevanz der individuellen und strukturellen Rahmenbedingungen des Schreibens beharrt. Hiermit kann er sicherlich als repräsentativ für das Gros der in der Slawistik vertretenen Zugänge gelten. Sie lehnen unter Verweis auf die zahlreichen Beispiele der russischen und sowjetischen Geschichte, in denen Schreiben immer zugleich auch eine existentielle, nicht selten tödliche Bedeutung hatte, eine Trennung von Autor und Text mehrheitlich ab.

Nach einem einleitenden Kapitel, in welchem der Autor die anfangs noch hart umkämpften, dann aber zunehmend dogmatischer werdenden Rahmenbedingungen literarischen Schaffens im entstehenden Sowjetstaat schildert, widmet sich Loewen seinen drei Protagonist/innen. Seinem Erkenntnisinteresse entsprechend beschränkt er sich auf die Analyse derjenigen Texte, die einen dezidiert autobiographischen Charakter haben: Im Falle Mandelstams sind dies „Das Rauschen der Zeit“ aus dem Jahr 1923 sowie die Ende der 1920er-Jahre verfasste, antistalinistische Polemik „Vierte Prosa“; von Boris Pasternak der „Geleitbrief“, der 1929/31 erschien, sowie der nach Stalins Tod geschriebene autobiographische Entwurf „Menschen und Standorte“. Für die Person Marina Zwetajewas unterzieht Loewen mehrere verstreute Textsegmente einer vergleichenden Betrachtung.

Blickt man auf die Ergebnisse dieser Vorgehensweise, so werden zunächst die Unterschiede deutlich. Die beiden Selbstbeschreibungen Mandelstams sind von einer inhaltlichen und stilistischen Kompromisslosigkeit geprägt, die seiner kategorischen Ablehnung der zunehmenden staatlichen Eingriffe in die dichterische Freiheit entsprach und die er schließlich 1938 mit einem qualvollen Tod in einem Durchgangslager des Gulag bei Wladiwostok bezahlte. Pasternak verfolgte demgegenüber einen deutlich abwägenderen Kurs und war bestrebt, eine Nische im Sowjetsystem zu finden, ohne sein Selbstverständnis als Dichter völlig aufzugeben. Als Einziger der drei überlebte er die Jahre des stalinistischen Terrors, wobei auch er niemals eine sichere Position innehatte, wie nicht zuletzt seine erzwungene Ablehnung des Literaturnobelpreises 1958 deutlich machte. Und Marina Zwetajewas autobiographische Texte spiegeln vor allem ihre Versuche der Selbstfindung im Pariser Exil der 1930er-Jahre wieder. Dort zog sie jedoch sowohl die Kritik der sowjetischen Literaturrezensenten als auch die der verschiedenen politischen Strömungen der Emigration auf sich. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrte sie in die Sowjetunion zurück, wo sie sich zwei Jahre später das Leben nahm.

So unterschiedlich die Biographien verliefen, so überzeugend gelingt es Loewen zugleich, einen Kern an Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, der dem Handeln aller drei Protagonist/innen zugrunde lag. Dieser lässt sich zusammenfassend beschreiben als Glaube an die grundsätzliche Unabhängigkeit des Dichters respektive der Dichterin von staatlicher Einflussnahme und eine entsprechende Ablehnung jeglicher Bestrebungen, Literatur zu funktionalisieren. Wenn Kritiker von links und rechts Zwetajewa im Exil für ihre vermeintlich falschen politischen Stellungnahmen angriffen, dann gingen sie deshalb fehl, weil sie ihr Schaffen weder in die eine noch in die andere Richtung ausgelegt wissen wollte, sondern es als Wert an sich begriff. Zugleich ist auffällig, dass alle drei mit ihrer Dichtung zu Berühmtheit gelangten, ihre autobiographischen Texte aber als Prosa verfassten. Loewen deutet dies einerseits als Reaktion auf die zunehmend enger werdenden dichterischen Spielräume, verweist aber auch auf den allgemeinen Anspruch, mittels der Autobiographik trotz aller retrospektiven Stilisierungen ein gewisses Maß an Authentizität zu erreichen. Man wollte sich positionieren und gegen die Instrumentalisierung von Literatur Stellung beziehen. Hierfür wählte man bewusst die Prosa als eine für direkter erachtete Form der Darstellung.

Donald Loewen hat ein Buch geschrieben, das sich nicht nur sehr spannend liest, sondern durch seine komparatistische Perspektive auch inhaltlich hochinteressant ist. Sein vermeintlich konventionelles Beharren auf der Einheit von Autor, Text und Kontext erweist sich als überzeugend, und es erscheint schwer vorstellbar, wie diese Thematik ohne die Beleuchtung dieser Wechselwirkungen angemessen beschrieben werden könnte. Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit auch über den engeren Kreis der Slawistik hinaus rezipiert werden wird, bietet sie doch für interdisziplinär verstandene (Auto)biographieforschung zahlreiche Ansatzpunkte. Loewens nächstes Projekt, das sich der Sowjetunion der 1950er- und 1960er-Jahre widmen soll, ist jedenfalls bereits angekündigt – und es gibt guten Grund, ihm mit Interesse entgegenzusehen.

Anmerkungen:
1 Julia Herzberg / Christoph Schmidt (Hrsg.), Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, Köln 2007. Der Band bietet einen gelungenen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand sowie eine sehr dankenswerte Bibliographie einschlägiger Publikationen.
2 Stellvertretend seien genannt: Toby W. Clyman / Judith Vowles (Hrsg.), Russia through Women’s Eyes, New Haven 1996; Laura Engelstein / Stephanie Sandler, Self and Story in Russian History, Ithaca 2000; Irina Savkina, „Pišu sebja…“ Avtodokumental’nye ženskie teksty v russkoj literatury pervoj poloviny XIX veka, Tampere 2001; Jochen Hellbeck / Klaus Heller (Hrsg.), Autobiographical Practices in Russia. Autobiographische Praktiken in Russland, Göttingen 2004; Julia Herzberg, „Selbstbildung” und Gemeinwohl. Das Aushandeln eines besseren Russlands in bäuerlichen Briefen und Autobiographien, in: Walter Sperling (Hrsg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800-1917, Frankfurt am Main 2008, S. 255-279.

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