A. Hedwig (Hrsg.): "Auf eisernen Schienen, so schnell wie der Blitz"

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Titel
"Auf eisernen Schienen, so schnell wie der Blitz". Regionale und überregionale Aspekte der Eisenbahngeschichte


Herausgeber
Hedwig, Andreas
Reihe
Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 19
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 220 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Ruppmann, Bad Homburg

Seit Jahren wird die Erforschung der deutschen Eisenbahngeschichte auf allen Ebenen intensiv betrieben. Die dazu erschienenen fachwissenschaftlichen Publikationen sind kaum mehr zu überschauen. Zusätzlich zielt ein breit gefächertes Angebot an kommentierten Bildbänden mit großem Erfolg auf den populären Markt der Eisenbahn-Nostalgiker und Technik-Begeisterten. Lohnt es sich also, in dieser dicht besetzten Szene ein weiteres Eisenbahnbuch herauszubringen?

Welche Funken ausgewiesene Experten trotz des gut beackerten Forschungsfelds immer noch aus Archivmaterial schlagen können, führt der hier vorzustellende Sammelband beispielhaft vor Augen. Er enthält die ausgearbeiteten Vorträge eines Kolloquiums, das 2006 im Rahmen einer Ausstellung zur frühen hessischen Eisenbahngeschichte im Marburger Staatsarchiv stattgefunden hat. Den Anstoß zur Ausstellung erhielt das Archiv durch das Erscheinen des dreibändigen Sammelwerks "Die hessische Eisenbahntopographie"1. Die Kolloquiums-Beiträge greifen jedoch über das Ausstellungsthema deutlich hinaus, das Buch verbindet nämlich vier Darstellungen zum hessischen Eisenbahnwesen mit vier Aufsätzen zur preußisch-deutschen Eisenbahngeschichte.

Die hessische Eisenbahngeschichte ist sicherlich nicht einzigartig, doch ihr Verlauf weist durch den Wettbewerb zwischen den drei ehemaligen Ländern Hessen-Darmstadt, Nassau und Kurhessen sowie die Eigeninteressen der Stadt Frankfurt gewisse Besonderheiten auf. Insofern bietet sich den Eisenbahnhistorikern ein vielgestaltiges Tableau für die Erforschung spezifischer Gegebenheiten in einem eng begrenzten geografischen Raum. Ludwig Brake schildert die soziale Lage der Eisenbahnarbeiter in Kurhessen und Hessen-Darmstadt um 1850. Diese blieb trotz der Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für ungelernte Kräfte schlecht, weil die Arbeiter nur temporär im Eisenbahnbau beschäftigt wurden und die Bahngesellschaften wegen des Zwangs zu größter Sparsamkeit die Herstellungskosten der Strecken und damit vor allem die Löhne drückten. Die Kunsthistorikerin Birgit Klein stellt, illustriert mit 21 Abbildungen, das Skulpturenprogramm des 1888 eröffneten Frankfurter Hauptbahnhofs vor, das die in traditioneller Architektur errichtete, repräsentative Bahnhofsfront auf der Ostseite mit dem Motiv-Kanon des gründerzeitlichen Historismus ausschmückte. Nicht beizupflichten ist jedoch ihrer Feststellung, dass "mit der architektonischen Gestaltung des Hauptbahnhofs der Dominanz Preußens Ausdruck verliehen und der Stadt in gewisser Weise ein 'preußischer Stempel' aufgedrückt wurde" (S. 39). Das Frankfurter Bürgertum hatte den Hauptbahnhof demonstrativ größer als alle Bahnhöfe in Berlin konzipiert, um seine eigene Identität gegenüber der preußischen Zentralgewalt zu unterstreichen.

Die oft vernachlässigte Geschichte der Nebenbahnen ist das Fachgebiet von Lutz Münzer. Der preußische Staat investierte ab etwa 1880 im ländlichen Kurhessen und in Waldeck in solche Linien, weil er bestrebt war, dort die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren und die Abwanderung der Landbevölkerung zu begrenzen. Trotz achtbarer Erfolge ging die Rechnung aufgrund der geringen Transportvolumina betriebswirtschaftlich aber meist nicht auf. Das Aufkommen der LKW-Transporte ab 1920 machte viele dieser Strecken obsolet. Der Beitrag von Bernhard Hager verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er in seiner Darstellung zur 1896/97 vollzogenen preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft auch die gesamte Entwicklungsgeschichte der Eisenbahnen im Rhein-Main-Taunus-Gebiet abhandelt und dabei die besondere Bedeutung der überaus erfolgreichen Hessischen Ludwigsbahn für das Verkehrswesen im Rhein-Neckar-Raum herausarbeitet.

Die zweite Aufsatzgruppe untersucht spezielle Fragen der preußisch-deutschen Eisenbahngeschichte. Klaus-Jürgen Bremm beschreibt die von Preußen frühzeitig erkannte Modernisierungswirkung der Eisenbahn für militärische Operationen. Minutiös weist er nach, wie der preußische Generalstab 1870 zu Beginn des deutsch-französischen Krieges rund 50 verschiedene Eisenbahngesellschaften und deren Fuhrpark einem rigiden Militärfahrplan zu Lasten des gesamten zivilen Verkehrs unterwarf, um auf sechs Transportlinien des Norddeutschen Bundes und drei Linien in Süddeutschland insgesamt 16 Korps innerhalb weniger Wochen in die Bereitstellungs- und Verdichtungsräume zu bringen. Die Weisungsbefugnisse hatten hierbei wenige junge Generalstäbler, die über das notwendige bahnbetriebstechnische Fachwissen verfügten, während die Betriebsleitung der Bahnen bei den zivilen Gesellschaften verblieb. Dieses schon beim Aufmarsch zum Krieg mit Österreich 1866 bewährte System war im Hinblick auf die 1870 viel größeren Truppenbewegungen perfektioniert worden. Der Aufmarsch nach Fahrplan wurde im 20. Jahrhundert zum Bestimmungsfaktor für die Eskalation politischer Krisen, weil seine Eigendynamik diplomatische Bemühungen erschwerte.

Christopher Kopper widmet sich der Privatisierung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) zwischen 1924 und 1937, die er als geglückt bezeichnet. Dabei räumt er mit dem weit verbreiteten – und durch NS-Kreise während der Zwischenkriegszeit vehement propagierten – Vorurteil auf, die Privatisierung und Zusammenfassung der Länderbahnen in einem eigenständigen Unternehmen sei im Gefolge des Ersten Weltkriegs von den Alliierten erzwungen worden, um die Reparationszahlungen sicherzustellen, und durch diese finanzielle Auszehrung hätte die DRG ihre Leistungsfähigkeit verloren. Das Gegenteil war der Fall: Die DRG modernisierte schon während der Inflationszeit ihren Lokomotiven- und Wagenpark, wandte danach große Summen für den Unterhalt des Schienennetzes auf und investierte gleichzeitig ihre Gewinne in neue Betriebstechnik, um das vorhandenen Streckennetz intensiver nutzen zu können. Die unternehmerische Selbstständigkeit der DRG ging allerdings im NS-Staat verloren. 1937 wurde sie wieder in das Reichsverkehrsministerium eingegliedert. Als unselbstständiger Regiebetrieb unterlag die Reichsbahn ab diesem Zeitpunkt dem Diktat der Rüstungspolitik und der Kriegsführung.

Zwei übergreifende Betrachtungen zu den Folgewirkungen des Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert rahmen die genannten Aufsätze ein. Im Zentrum des Eröffnungsessays von Ralf Roth steht die rasch einsetzende regionale Mobilität insbesondere der armen Bevölkerungsschichten, gestützt auf die zunehmende Vernetzung der Länderbahnen und die Einführung von Billigtarifen, also der 3. und 4. Klasse. Das machte sich nicht nur in den bekannten Auswanderungswellen nach Nordamerika bemerkbar, sondern auch in den Binnenwanderungen von landwirtschaftlichen Regionen in die Industriereviere und städtischen Agglomerationen. Peter Borscheids Beitrag greift am Schluss des Bands einmal mehr sein Lieblingsthema auf: Die Modernisierung durch Beschleunigungskräfte. Der Ausgangspunkt dieses Prozesses waren allerdings nicht die Eisenbahnen, sondern die etwa ein Jahrhundert zuvor einsetzenden Handlungszwänge konkurrierender Länder zur Rationalisierung des Fernhandels und zur Verbesserung der Kommunikation über lange Distanzen. Die Anwendung der Dampfkraft im land- und wassergebundenen Verkehr stellte jedoch einen Quantensprung dar, weil jetzt eine ubiquitäre technische Kraftquelle für dauerhaftes Tempo zur Verfügung stand. Die Welt – fasziniert von der Akzeleration des Lebens – begann, dem technischen Fortschritt zu huldigen. Gleichzeitig mussten die Zeitgenossen lernen, ihre Ängste zu bewältigen und sich dem Tempo anzupassen.

Den Textteil schließen hervorragend reproduzierte und erläuterte Abbildungen der Ausstellungstücke ab, die in einer wohltuend knappen, aber dennoch präzisen Einführung durch den Kurator Karl Munk kommentiert werden. Die aus verschiedenen Archiven ans Tageslicht beförderten und sorgfältig ausgewählten Hinterlassenschaften aus der Frühphase des Eisenbahnzeitalters visualisieren die revolutionäre Ablösung der Zugtiere durch die Transportinnovation und weisen auf ihre vielgestaltige Ordnungswirkung im Verkehrswesen des 19. Jahrhunderts hin. Hier findet sich auch der Titel des Bands aufgelöst: Es handelt sich um die erste Zeile eines Gedichts von Heinrich Heine aus dem Jahre 1857, in dem er als Zeitzeuge des frühen Eisenbahnverkehrs einen vorbeifahrenden Zug beschreibt. Nach dem Betrachten der Abbildungen würde man gerne noch einmal punktuell zu den Texten zurückkehren, doch dabei vermisst man ein Schlagwortverzeichnis und ein Personenregister. Die Ausstattung und Qualität des Sammelbands versöhnt mit diesem kleinen Mangel, zumal der relativ günstige Preis überrascht.

Anmerkung:
1 Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen. Eisenbahn in Hessen, hrsg. vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen. Bd. I: Volker Rödel, Eisenbahngeschichte und -baugattungen 1829-1999; Bd. II (1/2): Heinz Schomann, Eisenbahnbauten und -strecken 1839-1939, Stuttgart 2005.

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