P. Wagner u.a. (Hgg.): Arbeit und Nationalstaat

Titel
Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive


Herausgeber
Wagner, Peter; Didry, Claude; Zimmermann, Benedicte
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Campus Verlag
Anzahl Seiten
442 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Bohlender

Arbeit und Nationalstaat - zwei Grosskategorien unseres gesellschaftlichen und politischen Selbstverstaendnisses; aber auch zwei gesellschaftliche und politische Kategorien, die in den gegenwaertigen sozialwissenschaftlichen Debatten und publizistischen Diskursen ihre Selbstverstaendlichkeiten zu verlieren scheinen. Schon seit den fruehen 80er Jahren mehrten sich die Stimmen, die von einem "Ende der Arbeitsgesellschaft" und einer "Krise des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates" sprachen. Waren diese Stimmen jedoch noch als diagnostische Kritiken konzipiert, die auf spezifische Fehlleistungen und Pathologien aufmerksam machen wollten, so lesen sich heutzutage die "Geschichten" der Arbeit und des (National-)Staates wie Abschlussberichte, die uns eine Bilanzierung von Gewinn und Verlust praesentieren. Und es bleibt natuerlich nicht aus, in solchen Berichten von der Erwartung des Neuen zu sprechen, davon, also wie wir in Zukunft arbeiten, wie wir in Zukunft regiert oder regieren werden. Von pluralen, flexiblen und immateriellen Taetigkeitsformen ist hier genauso die Rede wie von politischen Mehrebenensystemen oder governance without government.

Der von Peter Wagner, Claude Didry und Benedicte Zimmermann herausgegebene Band hat dagegen eine andere Perspektive. Es geht hier weniger um eine abschliessende Bilanzierung mit Blick auf die Zukunft, sondern eher um eine historische Genese und vergleichende Analyse jener oekonomischen und politischen Transformationen, die zwischen dem letzten Drittel des 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Europa zu einer sozialen Konfiguration gefuehrt haben, die Wagner andernorts "organisierte Moderne" genannt hat. 1 Zwei Punkte sind es, die die Kohaerenz des Bandes und den methodischen Anspruch der einzelnen Beitraege begruenden: Zum einen soll die spezifische Wechselbeziehung zwischen "Arbeit" und "Nationalstaat" herausgearbeitet werden, die dort zum Tragen kommt, wo wirtschaftliche Praktiken eine nationale oder nationalstaatliche Verankerung finden. Zum anderen hat der Band sich zur Aufgabe gestellt, an Hand von Fallbeispielen die sich ueberschneidenden aber auch unterscheidenden Organisationsmodi einer Nationalisierung wirtschaftlicher Praktiken in Frankreich und Deutschland darzustellen.

Nun ist die Koppelung dieser beiden Ansprueche ein zusaetzlicher methodischer Reiz, den die Herausgeber dem Leser versprechen; denn nur im Vollzug dieser Koppelung kann sichtbar gemacht werden, dass die beiden Laender zwar mit aehnlichen nationalen und nationalstaatlichen Instanzen und Institutionen auf die Herausforderungen liberaler wirtschaftlicher Praktiken reagieren, dass aber die Organisationsweise, also die jeweilige Ausformung dieser Instanzen und Institutionen nach unterschiedlichen Mustern verlaeuft. Dieser doppelte Blick erfordert allerdings einen die Fachdisziplinen uebergreifenden Zugriff auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand; und dementsprechend sind die Beitraege mit Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten besetzt: mit HistorikerInnen, Soziologen, PolitikwissenschaftlerInnen, Rechts-, Wirtschafts- und Erziehungswissenschaftlern aus beiden Laendern.

Welches sind nun jene nationalen und nationalstaatlichen Organisationsverfahren, die im Zeitraum zwischen 1870 und 1930 in Frankreich und Deutschland einen stabilen, homogenisierten politischen und wirtschaftlichen Ordnungsraum schaffen, zugleich sich aber in ihren laenderspezifischen Kontexten unterscheiden? Prominent sind hierfuer eine Reihe von sozial-, industrie- und arbeitsmarktpolitischen Regelungen, Prozeduren und Praktiken, deren Genese und Wirkungsweise in den Beitraegen ausfuehrlich diskutiert werden. An erster Stelle stehen die Herausbildung eines nationalen Sozialversicherungsmodells (D. Renard; S. Kott), eines eigenstaendigen Arbeitrechts (U. Mueckenberger, A. Supiot), eines allgemeinen Tarifvertragssystems (H. Homburg) sowie spezifische Organisationsweisen beruflicher Bildung (J. Schriewer, K. Harney) und oeffentlicher Nachfragepolitik (S. Rudischhauser). Nicht weniger bedeutsam als diese sozialpolitischen Sicherungs- und Steuerungsverfahren der Nationalstaaten waren jedoch jene wissenspolitische Regierungstechniken, denen sich zwei weitere Beitraege des Bandes widmen. So beschaeftigt sich J. Adam Tooze mit der Geschichte der statistischen Erfassung volkswirtschaftlicher Taetigkeiten, administrativer Konjunkturforschung und nationaloekonomischer Bilanzierungsanalysen, waehrend der Beitrag von Benedicte Zimmermann sich dem Vergleich der statistischen Konstruktion von Arbeitslosigkeit in beiden Laendern widmet.

In den meisten dieser Beitraege spielt das Ereignis des Ersten Weltkrieges eine zentrale Rolle - und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen, in Hinblick auf den Vergleich der beiden Laender selbst, die im Krieg als Nationen aufeinanderprallen und in einer solchen Extremsituation ihre jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Organisationskapazitaeten aufeinanderbeziehen werden. Zum anderen sind der Verlauf des Krieges und die durch ihn erzeugte Nachkriegssituation gleichsam Katalysatoren fuer die weitere Nationalisierung und nationalstaatliche Konzentration der sozial-oekonomischen Praktiken. Dies betont insbesondere der Beitrag von Claude Didry und Peter Wagner. Auch wenn die Erfahrung der "Grossen Depression" (1873-1896) schon einen ersten Schub in Richtung auf einen "oekonomischen Nationalismus" ausloeste, so ist es - den beiden Autoren zufolge - erst die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, die die beiden Laender darauf festlegt, in der "Frage der Nation" die Organisationsressource zur Koordinierung des je eigenen national-oekonomischen Raumes zu erblicken.

Hat der Sammelband bis hier eine sowohl ueber den Referenzzeitraum wie ueber die Problemstellungen der Beitraege erzeugte Kohaerenz aufzuweisen, so aendert sich dies mit den letzten vier Beitraegen, die unter dem Abschnitt "Qualitaeten und Qualifikationen: die Wirksamkeit von Konventionen in der Arbeitssituation" rubriziert wurden. Zwei der Beitraege fallen ganz aus dem bisher behandelten Zeitraum heraus, insofern sie explizit gegenwartsnahe (1975-1995) Vergleichsanalysen innerbetrieblicher Personalbewertungssysteme einerseits (N. Filion) und bilateraler Handelsbeziehungen und Produktspezialisierungen andererseits (R. Salais) vornehmen. Die beiden anderen Aufsaetze dagegen untersuchen an spezifischen Fallbeispielen in den 1920er und 1930er Jahren - Passagierschiffe (A. Dewerpe) und Dieselmotoren (M Hård, A. Knie) - eine national divergierende Stilisierung bzw. nationale Grammatiken in der Entwicklung, dem Bau und dem Vertrieb von Produkten.

Interessant an allen diesen Beitraegen ist, dass sie gegenueber der Ausgangskonzeption des Bandes - naemlich eine laendervergleichende Rekonstruktion des ineinander geschobenen Verhaeltnisses von "Arbeit" und "Nationalstaat" zu leisten - eine perspektivische Verschiebung vornehmen, die auf eine spezifische Unschaerfe des Gebrauchs der Begriffe "national" und "nationalstaatlich" sowie "arbeitsbezogenen Institutionen" und "Konventionen" verweist. Die historisch vergleichende Genese der Sozialversicherung, des Tarifvertrages, des Arbeitsrechtes oder statistischer Konjunktur- und Forschungsaemter laesst sich ohne weiteres als die Geschichte einer wechselseitigen Verschraenkung von "Arbeit" und Nationalstaat" nachzeichnen; sie erscheinen dann als nationalstaatlich formatierte arbeitsbezogene Institutionen. Anders dagegen muss eine Untersuchung verlaufen, die sich auf Produkte, Produktwelten, Betriebe oder einzelne Unternehmen konzentriert und dort die laenderspezifische Einschreibung sozio-kultureller Stile und Grammatiken expliziert; hier geht es nicht um die explizit staatliche, administrative Aneignung und Regierung sozialer und wirtschaftlicher Praktiken, sondern um eine sub-politische Regulierung betrieblicher Arbeitsverhaeltnisse (wie der Beitrag von Filion zeigt) oder um eine soziale Regulation des Verhaeltnisses von Produktion und Konsumtion, die in der Produktentwicklung eines Unternehmens selbst schon angelegt ist (wie der Beitrag von Salais zeigt). Es handelt sich hierbei also um national formatierte Koordinationsregeln und Konventionen. Die Regeln und Konventionen koennen zwar von nationalstaatlichen Institutionen normiert und standardisiert werden, aber sie bleiben, wie Salais schreibt, "vielschichtige, endogene und bewegliche Bezugspunkte. Es handelt sich gewiss um Regeln, die dem Spiel der Konkurrenz und Kooperation zwischen Firmen zugrunde liegen; diese Regeln veraendern sich jedoch faktisch oder strategisch im Verlauf des Spiels durch das Spiel selbst." (415)

Die Unterscheidung zwischen nationalstaatlichen Institutionen, die einen gesamten volkswirtschaftlichen Raum begrenzen und strukturieren und nationalen Konventionen, die Arbeitsverhaeltnisse, Produkt- und Konsumwelten regulieren und vermitteln, wird in den einzelnen Beitraegen des Bandes leider nicht ausdruecklich reflektiert - mit der Folge, dass gerade die interessanten Beitraege von Filion und Salais lediglich als thematische Beigabe erscheinen. Im Anschluss an diese Unterscheidung waere naemlich nicht nur die Frage zu stellen, wie sich die einzelnen nationalstaatlich Institutionen zu einer aufeinander abgestimmten, kohaerenten Konfiguration (Sozial- oder Wohlfahrtstaat) ausbilden konnten, sondern auch wie sich die einzelnen sozialen und oekonomischen Konventionen nationalisieren und sich mit den staatlich-administrativen Arrangements verschraenken konnten (National-Oekonomie). Eine theoretische Reflexion in diese Richtung haette nicht unbedingt Neuland betreten muessen, zumal seit Ende der 70er Jahre zunaechst in Frankreich, dann aber auch in den USA und Deutschland das oekonomische und sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm der "Regulationstheorie" (M. Aglietta, R. Boyer, A. Lipietz) hierzu einschlaegige Arbeiten veroeffentlicht hat. 2

Zurecht hat Peter Wagner darauf aufmerksam gemacht (S. 47), dass die Erforschung und Beschreibung der "organisierten Elemente des westlichen Kapitalismus" mit dem "Aufkommen des Neoliberalismus" an Bedeutung verloren haben. Die einstigen Theoreme der "Industrialisierung und Organisierung" seien vorerst von der Tagesordnung verschwunden und haben den Phaenomenen der "Globalisierung", der "Internationalisierung" und der "Spezialisierung" Platz gemacht. Der Sammelband von Wagner, Didry und Zimmermann muss deshalb keineswegs sogleich in den Antiquariaten verschwinden. Er zeigt naemlich unter anderem auch, dass wissenschaftliche Theoreme oekonomischen und politischen Konjunkturen unterliegen, die - wie wir wissen - wesentlich schwankend sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. Peter Wagner, Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Frankfurt/New York 1995.
2 Vgl. dazu die neueren deutschen Veroeffentlichungen: Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Pruefstand. Hamburg 2000; Alain Lipietz, Nach dem Ende des goldenen Zeitalters. Hamburg 1998 sowie Becker/Schumm/Sablowski (Hg.), Jenseits der Nationaloekonomie. Hamburg 1997.

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