M. Gibas; R. Gries u.a. (Hgg.:): Wiedergeburten

Titel
Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR


Herausgeber
Gibas, Monika; Gries, Rainer; Jakoby, Barbara; Müller, Doris
Erschienen
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 27,61
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Fakultät für Geschichtswissenschaften und Philosophie, Universität Bielefeld

Anfang der zwanziger Jahre forderte Leo Trotzki , der junge Sowjetstaat müsse sich "seine eigenen Feiertage" und auch "seine eigenen Prozessionen" schaffen.1 Auch als der russische Revolutionär längst in Ungnade gefallen war, hat die Sowjetunion seinen Rat beherzigt und ihre Jubiläen und jährlichen Feiertage prächtig inszeniert. Dabei verfolgten die Herrschenden mit ihrem roten Feiertagskalender ein Ziel, das auch schon die französischen Revolutionäre kannten: "Der neue Kalender sollte nicht nur enumerativ eine neue Ära eröffnen, er sollte sie Tag für Tag etablieren und stabilisieren."2

Die deutschen Kommunisten eiferten in ihrem Staat, der Deutschen Demokratischen Republik, von Beginn an dem sowjetischen Vorbild nach. Nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 zogen Erich Honecker und Tausende anderer FDJ-Blauhemden mit einem Fackelzug durch die Mitte Berlins. Vierzig Jahre später im Herbst 1989 trat bei der rituellen Feier der Staatsgründung - wieder ein Fackelzug, Honecker war vor Ort - der moribunde Zustand des sozialistischen deutschen Teilstaates offen zutage. Den Berlinern gelang es, die Staatsfeierlichkeiten als Bühne zur Artikulation ihres Unmuts zu nutzen. Der Umbruch von 1989/91 bedeutete zugleich das Ende des sowjetischen Zeitsystems mit seinen zahlreichen Verästelungen, von denen die DDR der westlichste Ausläufer war.

Von der SED gross in Szene gesetzte Massenaufmärsche bilden also eine Klammer um die vierzig Jahre DDR-Geschichte. Der grossformatige, interdisziplinäre Sammelband "Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR" hat sich dieser Thematik angenommen. Das Buch umfasst 21 Aufsätze und präsentiert außerdem eine Fülle von Bildquellen aus dem Fundus des Deutschen Historischen Museums (DHM). Die Textbeiträge sind in die fünf Kapitel "Geschichte", "Gestaltung", "Vermittlung", "Wahrnehmung" und "Erzählte Zeit" gegliedert. Um einen Überblick über die Vielfalt der Fragestellungen zu geben, werden im folgenden zunächst die einzelnen Beiträge vorgestellt. Anschliessend diskutiere ich kurz die Bedeutung des Bandes für eine Propagandageschichte der DDR.

Die Mitherausgeber Monika Gibas und Rainer Gries führen im ersten Aufsatz des Bandes in die Thematik der runden Jahrestage der DDR ein; Michael Hofmann versucht in seinem einleitenden Beitrag Ursprung und Typologie des sozialistischen Massenfestes zu umreissen. Dabei verweist er auf die Vorbilder aus der französischen und russischen Revolution, aber auch auf eigene Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung.

Den mit "Gestaltung" betitelten ersten Teil des Buches eröffnet die Sprachwissenschaftlerin Ruth Geier mit einer Analyse der politischen Sprache der Festreden, die auf das 'Geburtstagskind' DDR gehalten wurden und in denen sie den zunehmenden Utopieverlust der SED-Führung nachweisen kann. Ihr Urteil (S. 65ff.), daß es in der frühen DDR eine grössere Nähe zwischen Volk und Regierung gegeben habe als in der Spätphase des Regimes, fordert allerdings zur Überprüfung heraus. Ähnliches behauptet auch Monika Gibas, wenn sie feststellt, in den fünfziger Jahren seien die Lieder der Arbeiterbewegung "enthusiastisch mitgesungen" (S. 70) worden. Gibas beschreibt in ihrem zweiten Beitrag von der SED in Auftrag gegebene Festlieder und die für das erste DDR-Dezennium komponierte Musik des Komponisten Paul Dessau.

Dieses Thema vertieft Gerd Rienäcker in seinem Aufsatz zu Dessaus Oper "Lanzelot", die dieser 1969 zum 20. Jahrestag der DDR fertigstellte. Am Beispiel der modernen Musik Paul Dessaus wird deutlich, daß die SED keineswegs immer Freude an den hintersinnigen 'Geschenken' ihrer prominenten 'Kulturschaffenden' hatte. Rainer Gries wiederum schreibt eine "Kleine Geschichte der Geburtstagsgeschenke" und arbeitet heraus, wie zentral die Metapher der Gabe an den Staat in den fünfziger Jahren für die Produktionspropaganda der DDR war. Später versuchte die SED dann, ihrerseits die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen und ihre ökonomischen Anstrengungen als 'Geschenk' an die Bürger darzustellen. An diese Thematik anschliessend beschreiben Stefan Paul und Cordula Günther in ihren Beiträgen neue Textilien, die den DDR-Bürgern zu runden Jahrestagen der Republik von den Herrschenden 'geschenkt' wurden. Jörn Düwel hingegen setzt sich in einem langen und inhaltsreichen Aufsatz kritisch mit der sprunghaften Stadtplanung für das 'sozialistische Berlin' auseinander, das bis zum Ende der DDR nicht zu einem 'fertigen Präsent' heranreifte. Das Kapitel "Gestaltung" wird durch einen Beitrag von Bernd Lindner über die Kunstausstellungen zu den DDR-Dezennien abgeschlossen, die er als eine Form des "gedämpften Jubels" (S. 118) bezeichnet. Ähnlich wie im Beitrag über die Musik Dessaus manifestiert sich hier erneut das problematische Verhältnis der SED-Führung zur künstlerischen Moderne.

Mit einem detaillierten Aufsatz über die zentrale Ausstellung im Ostberliner Museum für Deutsche Geschichte zum 10. Jahrestag der DDR - die von der Partei zu einer Erfolgsbilanz von zehn Jahren SED-Herrschaft umgestaltet wurde - eröffnet Dieter Vorsteher (DHM) das Kapitel "Vermittlung". Jörg-Uwe Fischer diskutiert anschliessend die Rolle des neuen Mediums Fernsehen bei der "Heer- und Nabelschau" (S. 152) der DDR an ihren Jahrestagen, während Gerald Diesener die seines Erachtens bemerkenswert kritische Fernsehserie "Die lange Strasse" dem Vergessen entreisst, die aus Anlass des 30. Jahrestages der DDR 1979 ausgestrahlt wurde. Doris Müller schliesst das Kapitel mit einem Beitrag über die letzte zentrale Jubiläumsausstellung der DDR im Herbst 1989, die kurz darauf durch Bürgergruppen umgestaltet wurde. So änderte sich im Jahre des Umbruchs die Funktion des Museums für Deutsche Geschichte, das von einer Bühne der SED zu einem Raum der Bürgerbewegung wurde. Alle Aufsätze verdeutlichen, welch hohen Stellenwert die SED der Vermittlung eigener Geschichte durch die verschiedensten Medien beimass, die dann zum Fundament eines Eigenbewusstseins der DDR-Bürger werden sollte.

Den Teil "Wahrnehmungen" beginnt Ingeborg Blom mit einem Aufsatz über die Rezeption der DDR-Jubelfeiern in den Printmedien der Bundesrepublik. Die bundesdeutschen Zeitungen zeichneten zwar ein nach ihrer politischen Orientierung unterschiedliches Bild von den Jubiläumsfeiern; in ihrer überwiegenden Mehrzahl thematisierten sie jedoch die eklatante Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR. Barbara Jakoby referiert anschliessend die Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit auf die runden Geburtstage der DDR. Mit der Zeit nahmen die Anstrengungen MfS zu, Störungen der öffentlichen Feierlichkeiten bereits präventiv zu verhindern. Diese Erkenntnis korrespondiert mit den Ergebnissen der jüngsten Forschung über das MfS, die herausgearbeitet hat, daß die Staatssicherheit zunehmend versuchte, Konfliktfelder schon frühzeitig zu erkennen und so den reibungslosen Ablauf öffentlicher Veranstaltungen zu sichern. Dabei zeigt die Autorin, daß gerade in den achtziger Jahren die Angst der Regierung vor ihrer eignen Bevölkerung beständig wuchs. Klaus Schönberger erklärt in seinem Aufsatz, wie Orden im Laufe der DDR-Geschichte zunehmend zu einem Zahlungsmittel im 'sozialistischen Wettbewerb' wurden. Er interpretiert die Verteilung der Ehrenzeichen als "systematische Inszenierung von Massenloyalität" (S. 220), die einen festen Bestandteil des Feierritus der DDR gebildet habe. Neben der Möglichkeit, symbolisches Kapital in Form von Orden zu akkumulieren, bestand für die Bevölkerung der Reiz der Auszeichnung häufig in der mit ihr verbundenen Geldprämie. Anschliessend versucht Dirk Schindelbeck, das Verhalten der Leipziger Montagsdemonstranten des Jahres 1989 einerseits moralisierend zu bewerten (durch die Annahme des Begrüssungsgeldes "verkaufte das Volk seine Würde", S. 232) und andererseits die Ereignisse massenpsychologisch zu deuten. Dieser psychohistorische Ansatz führt jedoch nach meiner Ansicht zu einer Trivialisierung der Protestbewegung, die hier lediglich als "chemischer Reaktionszyklus" (S. 235) dargestellt wird und vermag mit seiner verengten Perspektive den steigenden Zuspruch für die Opposition nicht überzeugend zu erklären.

"Erzählte Zeit" lautet der Titel des letzten Kapitels, in dem Monika Gibas in ihrem dritten Beitrag zu diesem Band die "Metaerzählung" des SED-Regimes zum 7. Oktober eher nacherzählt als analysiert. Der Leipziger Soziologe Thomas Ahbe beschreibt die DDR als einen Arbeiterstaat, der seine (Rest-)Legitimation in dem Moment einbüsste, als er die materiellen Bedürfnisse jener 'herrschenden Klasse' nicht mehr befriedigen konnte. Den Band beschliessend, beschreibt Rainer Gries Strukturen der Zeit in der DDR - vom forcierten Tempo unter Ulbricht bis zur "Entdeckung der Langsamkeit" in der Honecker-Ära. Er zeigt auf, daß sich die DDR nur als ein Subsystem in der nach "Moskauer Zeit" (S. 300) taktierten neuen Epoche sah. Es war dann auch der Amtsantritt Michail Gorbatschows, der dieses Zeitsystem aus dem Gleichtakt brachte; die Perestroika bedeutete das endgültige Ende eines gemeinsamen Erwartungshorizonts der sozialistischen Welt, einer gemeinsamen Geschichte der Zukunft.

Der umfangreiche Sammelband "Wiedergeburten" beleuchtet die runden Jahrestage der DDR, die zugleich Herrschaftsjubiläen der SED waren, aus unterschiedlichen Perspektiven. Neben den oben besprochenen Textbeiträgen ist das grosse Format zu loben, das es erlaubte, zahlreiche unterschiedliche Bildquellen zur Illustration des Inhalts in den Band aufzunehmen. Von dieser visuellen Ergänzung profitieren alle Beiträge, die so zu einem anschaulichen Stück Propagandageschichte werden. Es sind gerade die unterschiedlichen Bilder, die es dem Leser erlauben, sich Phasen relativer Modernität, bleierner Stagnation und vermehrter Rückständigkeit der DDR vor Augen zu führen.

Neben den vielen neuen Aspekten, die man hier über die Propaganda des SED-Staats erfährt, bleiben jedoch nach wie vor einige Leerstellen, die durch weitere kritische Forschung und intensive Reflexion evtl. gefüllt werden könnten. Da wäre zunächst die schwierige Frage nach der Wirkungsmächtigkeit der grossen Inszenierungen: Gelang es der SED wenigstens partiell, durch ihre grossen Anstrengungen, Vertrauen in das sozialistische System zu schaffen? Oder erlagen die Herrschenden in der DDR durch den permanenten Rekurs auf eigene Erfolge einer Selbsttäuschung? Der Versuch der SED-Führung, durch ihre Feste neue Identitäten zu stiften, wird in "Wiedergeburten" in vielen Facetten vorgeführt. Im Anschluß könnte man hier fragen: Was waren die gesellschaftlichen Kosten der Konstruktion einer neuen DDR-Identität, wie sie von der SED betrieben wurde? Der Beginn einer neuen Zeitrechnung im Jahre 1949 bedeutete schliesslich auch, daß man die NS-Zeit aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend ausblendete. Wie verträgt sich dieser Befund mit den nicht zu übersehenden Kontinuitäten deutscher Geschichte, etwa mit der Omnipräsenz nationaler Symbole an den Staatsfeiertagen und mit der starken militärischen Komponente in den Feiern?

Schliesslich wäre es reizvoll, die Strukturen von Öffentlichkeit in staatssozialistischen Diktaturen systematisch zu analysieren. Die Inszenierungen zum 7. Oktober bilden dabei nur einen Teil in dem ständigen Versuch des Regimes, öffentliche Räume zu kontrollieren und zu besetzen. Alljährlich sah sich die SED dazu verpflichtet, die Nähe zwischen Volk und herrschender Partei öffentlich aufzuführen, obwohl sie sich zunehmend über die Risiken dieser Veranstaltungen bewusst wurde: In der modernen Mediengesellschaft mit ausländischen Korrespondenten vor Ort, bestand die Gefahr, daß die Opposition die Bühne(n) des Regimes für ihre Zwecke umnutzt.

Als Teil der Selbstrepräsentation blieb die SED bis zum Ende ihrer Herrschaft Elementen pseudodemokratischer Mobilisierung verpflichtet, wie sie in der Sowjetunion der zwanziger Jahre entwickelt worden waren. Wie in der Wirtschaft und Gesellschaft, so war die DDR auch bei ihrer Festkultur offensichtlich nur zu einer partiellen Modernisierung fähig. Diese Stagnation der Formen führte dazu, daß spätestens in den achtziger Jahren für viele westliche Beobachter die (Militär-)Paraden und Massenaufmärsche durch das beflaggte Ostberlin weniger bedrohlich als befremdlich unzeitgemäss und unfreiwillig komisch wirkten. Aus der show of force war eine Farce geworden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Leo Trotzki: Fragen des Alltagslebens. Die Epoche der "Kulturarbeit" und ihre Aufgaben, Hamburg 1923, S. 68ff.
2Vgl. Reinhart Koselleck: Hinweise auf die 'Neue Zeit' im französischen Revolutionskalender, in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/ Main 2000, S. 240-246, hier S. 243.

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