B. Mayer u.a.: Eine Stadt wird entnazifiziert

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Titel
Eine Stadt wird entnazifiziert. Die Gauhauptstadt Bayreuth vor der Spruchkammer


Autor(en)
Mayer, Bernd; Paulus, Helmut
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Buchner, Katholische Nachrichten-Agentur Bonn, München

Bayreuth mit seinen Festspielen ist ein Spiegel der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Viele politische und kulturelle Ideen, Strömungen und Entwicklungen des Landes bilden sich in der oberfränkischen Stadt ab, die der Komponist Richard Wagner 1872 zu seiner Wahlheimat gemacht hatte. War der „Bayreuther Geist“ vor dem Ersten Weltkrieg eine ins Künstlerische gewendete Form des übersteigerten deutschen Großmachtdenkens, so beteiligten sich die Wagnerianer in den Weimarer Jahren maßgeblich an der Nazifizierung Bayreuths und ganz Deutschlands. Deshalb ist ein Blick auf den gegenläufigen Prozess, die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges durch die westlichen Siegermächte eingeleitete Entnazifizierung, gerade an diesem Ort besonders reizvoll.

Bayreuth war nicht nur die Stadt Wagners, dessen Festspiele eng mit dem nationalsozialistischen Regime verbunden waren, sondern als Gauhauptstadt der Bayerischen Ostmark eine „NS-Hochburg mit vielen Parteidienststellen und Parteifunktionären“ (S. 28), in die in den Spätjahren des Regimes sogar der in Berlin ansässige Volksgerichtshof verlegt werden sollte, was das Kriegsende jedoch verhinderte. Von daher überrascht es nicht, dass unter den von den vier in Stadt und Landkreis Bayreuth tätigen Spruchkammern durchgeführten 6162 Verfahren einige waren, die national und international große Beachtung fanden, nicht zuletzt der Prozess gegen die Festspielleiterin Winifred Wagner, die Schwiegertochter des Komponisten und gute Freundin von Adolf Hitler.

In der Bayreuther Stadtgeschichtsforschung schließt der Band von Bernd Mayer und Helmut Paulus vorläufig eine Lücke.1 Zugleich lassen es seine unten weiter ausgeführten Mängel als begrüßenswert erscheinen, dass, wie im Vorwort angekündigt, eine umfassendere wissenschaftliche Auswertung der vorliegenden Spruchkammerakten später durch die örtliche „Neue Geschichtswerkstatt“ unter Federführung des Historikers Norbert Aas erfolgen soll. Mayer ist Journalist, Paulus war viele Jahre lang im Justizdienst tätig, beide sind in den vergangenen Jahren bereits mehrfach mit stadtgeschichtlichen Arbeiten hervorgetreten.2

In „Eine Stadt wird entnazifiziert“ schildern sie zunächst, um eine historische Einordnung ihres Gegenstandes bemüht, die letzten Kriegstage in Bayreuth sowie die Zeit der US-amerikanischen Militärregierung. Kursorisch umreißen sie die Tätigkeit der Spruchkammern in Deutschland, um anschließend spektakuläre Fälle aus der Wagnerstadt zu schildern, die nach hohen Parteifunktionären, Repräsentanten von Behörden und Wirtschaftsverbänden sowie nach „NS-Prominenz“ gegliedert sind – zur letzteren Gruppe zählen auch Winifred Wagner und ihr Sohn Wieland. Unter dem Stichwort „Was Spruchkammerakten erzählen“ werden abschließend Anekdoten aus der Bayreuther Geschichte von den Weimarer Spätjahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges geschildert, die die Entnazifizierungsprotokolle sozusagen als „Nebenprodukte“ abwarfen. Darin ist viel Lokalfolklore ohne größeren wissenschaftlichen Wert enthalten.

Die Bayreuther Spruchkammerverfahren, nicht zuletzt das macht dieses Buch deutlich, unterscheiden sich nur unwesentlich von jenen an anderen Orten in der US-amerikanischen Besatzungszone und lassen ein wiederkehrendes Schema erkennen.3 Der Öffentliche Kläger, der als Staatsanwalt fungierte, beantragte die Einstufung des oder der Betroffenen in die Gruppe I der Hauptbelasteten oder Gruppe II der Belasteten, doch die Spruchkammer wählte nach diversen Berufungsverfahren überwiegend die Gruppe IV der Mitläufer oder die Gruppe V der Entlasteten. Man gestand den ehemaligen nationalsozialistischen Aktivisten meist das „Recht auf den politischen Irrtum“ zu und verhängte milde Urteile. Schon im Vorwort verweisen Mayer und Paulus in sarkastischem Ton darauf, in der Gauhauptstadt seien „fast nur Gutmenschen“ am Werk gewesen: „Der NS-Landrat? Ein bekennender Christ. Der NS-Oberbürgermeister? Ungewöhnliche Milderungsgründe. Der Kreisleiter? Ein anständiger und humaner Mensch. Der erste Gauleiter? Nur an das Gute geglaubt. Der dritte Gauleiter, der noch vor Torschluss drei Menschen aufhängen ließ? Irregeleitetes Pflichtgefühl und missverstandene vaterländische Gesinnung. Der Blutordensträger? Tadellose Haltung. Und so weiter“ (S. 7). Nur sechs der verbliebenen 3916 Prozesse, die nicht zuvor durch Sühnebescheid, Amnestie oder andere Gründe abgeschlossen worden waren, endeten mit einer Eingruppierung der Angeklagten als Hauptschuldige. Weit über 80 Prozent wurden in die Gruppe IV eingestuft – Lutz Niethammers Wort von den Spruchkammern als „Mitläuferfabrik“, das die Autoren zitieren, zeigte sich auch in Bayreuth. Urteilsbegründungen klangen nicht selten „wie eine Laudatio bei einer Ordensverleihung“ (S. 83).

Als Mitläuferin durfte sich auch Winifred Wagner bezeichnen, deren Fall in dem Buch ausführlich geschildert wird. In ihrem Verfahren kam nicht nur die innige Beziehung zu Hitler zur Sprache, die wiederholt zu Gerüchten über eine bevorstehende Hochzeit Anlass gegeben hatte. Erwähnt werden auch die staatlichen Zuwendungen an das Festspielunternehmen, nicht zuletzt aus dem persönlichen Dispositionsfonds des „Führers“, die Vereinnahmung Bayreuths durch das NS-Unternehmen „Kraft durch Freude“, vermeintlich ungerechtfertigte Lebensmittel-Lieferungen an das Haus Wahnfried und vieles mehr. Unzweifelhaft half Winifred Wagner Verfolgten, unter ihnen auch Juden, anderen aber verweigerte sie die Unterstützung – darunter mehreren Festspielkünstlern, die in den Gaskammern starben, sowie dem Sozialdemokraten Oswald Merz, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Folgen jahrelanger KZ-Haft erlag. Dass die Festspielleiterin durch ihre rückhaltlose Unterstützung der Nationalsozialisten schon vor der "Machtergreifung" dazu beigetragen hatte, dass überhaupt Menschen geholfen werden musste, kam vor der Spruchkammer nur am Rande zur Sprache. Lotte Warburg notierte über das Verfahren: „Das Publikum war geschlossen für das Haus Wagner, das Fürstenhaus von Bayreuth. Sie haben das Herz treuer Untertanen gegen ihren Fürsten, die Wagners. Und Frau Wagner hinter Stacheldraht wäre gleichbedeutend mit Bayreuth hinter Stacheldraht“ (S. 129). Winifred wurde zunächst als „Belastete“ eingruppiert, in der Berufung gelang 1948 die Einstufung als „Mitläuferin“. Ihr Sohn Wieland, der spätere Festspielleiter, der die alten Nationalsozialisten erst rund zehn Jahre nach Gründung von Neu-Bayreuth vom Grünen Hügel verbannte, erreichte den gleichen Status. Er hatte sich zunächst dem Verfahren entzogen, weil er mit seiner Familie an den Bodensee und damit in die französische Zone zog. Im Meldebogen vom 22. November 1948 verschwieg er nicht nur seine enge Beziehung zu Hitler, sondern auch die Tätigkeit als stellvertretender ziviler Leiter des KZ-Außenlagers Bayreuth. Doch dahingehende Nachforschungen wurden zu diesem Zeitpunkt „gar nicht mehr angestellt“ (S. 135).

Mayer und Paulus greifen in ihrem trotz des Themas durchaus unterhaltsam geschriebenen Buch ein Thema auf, das nicht nur die Forschung über die Stadtgeschichte, sondern auch jene über Wagner und die Festspiele und die lokalhistorische Betrachtung der Entnazifizierung bereichern dürfte. Dass sich die Autoren im Vorwort selbst eine verdienstvolle Arbeit bescheinigen, schlägt dabei weniger negativ zu Buche als gewisse Einseitigkeiten, die man als Relativierung der Verantwortung führender Bayreuther NS-Persönlichkeiten auslegen könnte, etwa wenn – wie im Fall des Gauleiters Fritz Wächtler – lange Zitate oder indirekte Wiedergaben aus den Aussagen der Verteidigungszeugen reproduziert werden, wenig aber aus der Anklageschrift. Ein Foto von Wächtlers Grab aus der Privatschatulle eines der Autoren abzudrucken, ist Geschmackssache. Und warum es „unverständlich und persönlichkeitsfremd“ (S. 107) sein soll, wenn ein NS-Landrat nach 1945 für eine rechtsradikale Partei eintritt, bleibt ebenfalls rätselhaft. Das Personenregister ist mit wenig Sorgfalt erstellt worden, zudem erinnern zahlreiche Druckfehler in dem ansonsten gut gestalteten und reich bebilderten Buch an mangelnde verlegerische Aufmerksamkeit.

Wenig Gedanken haben sich offenbar auch die Bayreuther Stadtväter der 1970er-Jahre gemacht, wie dem Buch zu entnehmen ist: Sie machten den NS-Staranwalt Fritz Meyer zum Ehrenbürger, verliehen der Philosophin Gertrud Kahl-Furthmann, die sich noch nach dem Weltkrieg als glühende Verehrerin von Parteigrößen hervorgetan hatte, den städtischen Kulturpreis und ehrten den Architekten Hans C. Reissinger mit der Goldenen Bürgermedaille. Der „kleine Speer von Bayreuth“, Onkel der Frau von Wieland Wagner, hatte das von Hitler protegierte Bayreuther NS-Gauforum geplant, dem Teile der historischen Innenstadt zum Opfer gefallen wären. Das Kriegsende verhinderte das.

Anmerkungen
1 Grundlegend Karl Müssel, Bayreuth in acht Jahrhunderten. Geschichte einer Stadt, Bindlach 1993; Rainer Trübsbach, Geschichte der Stadt Bayreuth 1194-1994, Bayreuth 1993.
2 Bernd Mayer, Bayreuth im 20. Jahrhundert, Bayreuth 2003; ders. / Wolfgang Lammel, Bayreuth. Bewegte Zeiten. Die 50er Jahre, Gudensberg-Gleichen 2000; Ekkehard Hübschmann / Helmut Paulus; Siegfried Pokorny, Physische und behördliche Gewalt. Die „Reichskristallnacht“ und die Verfolgung der Juden in Bayreuth, Bayreuth 2000.
3 Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Bonn 1994 (zuerst 1972 u.d.T. Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung); vgl. auch Paul Hoser, Die Entnazifizierung in Bayern, in: Walter Schuster / Wolfgang Weber (Hrsg.): Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, S. 473-510.

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