F.-R. Erkens, Kurfürsten und Königswahl

: Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums. Hannover 2002 : Verlag Hahnsche Buchhandlung, ISBN 3-7752-5730-6 (geb.) XXIX + 125 S. € 20

Wolf, Armin (Hrsg.): Königliche Tochterstämme, Königswähler und Kurfürsten. . Frankfurt/M. 2002 : Vittorio Klostermann, ISBN 3-465-03200-4 (Leinen) 495 S. € 78

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Hillen, Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln

Die Frage nach dem Wie und Warum der Entstehung des Kurfürstenkollegs ist fast ebenso alt wie dieses selbst. Fast genauso groß wie die Anzahl der an der Diskussion um dessen Zustandekommen Beteiligten ist die Anzahl der Theorien. Und obwohl Armin Wolf noch vor kurzem vollmundig die Lösung dieses „Fundamentalrätsels der deutschen Geschichte“ 1 verkündet hat, geht die Diskussion weiter. Mit den beiden in diesem Jahr erschienenen Veröffentlichungen des genannten Armin Wolf und Franz-Reiner Erkens‘ erreicht sie einen neuen Höhepunkt, nachdem es in den letzten Jahren vorübergehend etwas stiller geworden war.

Das Hauptinteresse der Forschung richtet sich dabei schon seit längerem auf die vier weltlichen Königswähler der Goldenen Bulle, den König von Böhmen, den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg. Für die drei geistlichen, die Erzbischöfe von Köln, Trier und Mainz, glaubt man den Grund für ihre Aufnahme in den exklusiven Kreis der Kurfürsten in ihrer schon seit Jahrhunderten hervorgehobenen Rolle bei der Königserhebung gefunden zu haben. Der von Wolf herausgegebene Sammelband vereint nun 13 Aufsätze von ihm selbst und aus der Feder renommierter Autoren, sämtlich überarbeitete und um Fußnoten angereicherte Fassungen von Vorträgen, die im Juli 1998 auf einer Tagung des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte gehalten wurden. Sie alle spüren der Frage nach, warum manche Fürsten später zu Kurfürsten wurden und manche nicht.

Wolf selber eröffnet die Reihe der Einzeluntersuchungen mit einem programmatischen Aufsatz über „Königswähler und königliche Tochterstämme“, in dem er seine Erklärung für das Zustandekommen des Wählerkollegs nochmals ausbreitet. Kurz zusammengefasst lautet diese: „Die […] aufgezeigten Abstammungen verlaufen […] über die Töchter ausgestorbener Mannesstämme, vielfach sogar über mehrere Generationen nur in weiblicher Linie. Die Königswähler stellten sich auf diese Weise als die Repräsentanten der königlich ottonischen Tochterstämme heraus. Auf dieser Identität ruht die erbrechtliche Begründung der Königswahlrechts: Wahlberechtigt waren die Erbberechtigten“ (4f.) Diesen Zusammenhang glaubt er nach rund 30 Jahren genealogischer Klein- und Fleißarbeit, die in der Tat bewundernswert ist, nachgewiesen zu haben. Entsprechend verkürzte Abstammungstafeln sind dem Aufsatz beigefügt mit dem Versprechen, „die Rekonstruktion der ottonischen Gesamtnachkommenschaft“ nachzuholen (5).

Auf den ersten Blick entfaltet Wolfs These von den Erbberechtigten als Wahlberechtigte eine große Suggestivkraft, die von den erwähnten Abstammungstafeln noch vergrößert wird, welche gleichsam grafisch sein Ergebnis noch klarer hervortreten zu lassen scheinen. Dass seine Überlegungen in der Fachwelt aber bei weitem nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen sind, wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Denn Wolf nimmt teilweise explizit, teilweise implizit die bisherigen Einwände auf und versucht sie zu entkräften. Wie gut ihm dies gelingt, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen. Der Eindruck einer manchmal etwas zwanghaften Suche nach Merkmalen, die die weltlichen Königswähler neben ihrer Abstammung von den Ottonen – die auch noch auf andere Dynastien zutrifft – noch gemeinsam hatten, drängt sich aber auf. Für Wolf steht jedoch nach wie vor fest, dass in dieser Abstammung der letztendliche Grund ihrer Aufnahme in das Wählerkollegium zu sehen ist. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er nun auch die geistlichen Kurfürsten in gewisser Weise zu „Tochterstämmlern“ erklärt (18f.).

An Wolfs Grundthese von den „Tochterstämmlern“ als Königswählern orientieren sich die folgenden Beiträge, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen. Da sind zunächst diejenigen, die die Überlegungen Wolfs für weiterführend halten und auf den jeweils zu untersuchenden Fall angewandt haben. Dazu zählen Ivan Hlavácek (Böhmen), Gudrun Pischke (Brunonen und Welfen), Alois Schütz (Grafen von Dießen und Andechs, Herzöge von Meranien), Dirk Heibaut (Grafen von Flandern und Hennegau) sowie Klaus van Eickels (Grafen von Holland). Die Beiträge über die Babenberger und die Herzöge von Niederlothringen/Brabant lagen offensichtlich bei Redaktionsschluss noch nicht vor, so dass Armin Wolf diese Lücken mit jeweils einem Kurzbeitrag kurzerhand selbst füllte. Dass sie ebenfalls zu dieser ersten Gruppe zu zählen sind, versteht sich von selbst. Zur zweiten Gruppe gehören die Aufsätze von Helmut Flachenecker (Wittelsbacher), Karlheinz Blaschke (Askanier, Wettiner und die sächsische Kur), Helmut Assing (Askanier und die Brandenburgische Kur) und schließlich Peter Wiegand (Ludowinger). Diese vier widersprechen ganz oder in Teilen der Wolfschen Argumentation und sorgen damit dafür, dass dieser Band dem Verdacht, eine Jubelpublikation für Armin Wolf und seine Thesen zu sein, doch noch entgeht. Abgerundet werden die zwölf Beiträge durch Überlegungen Peter Landaus über das, was um 1300 ein Kollegium ausmachte.

Egal welcher der beiden Gruppen die Aufsätze zuzuordnen sind, bemerkenswert ist der durchgehend hohe wissenschaftliche Standard. Die guten Sitten der gelehrten Auseinandersetzung werden von allen – ob nun Befürworter oder Gegner der Tochterstamm-Theorie – eingehalten. Einzig Alois Schütz trübt leider diesen Gesamteindruck. Seine Attacken richten sich dabei gar nicht einmal gegen die eigentlich zur Diskussion stehenden Thesen über das Zustandekommen des Kurfürstenkollegs. Er nutzt dieses Forum vielmehr als Plattform der Auseinandersetzung mit – man ist fast geneigt zu sagen: seinem Intimfeind – Eduard Hlawitschka. Persönliche Beschimpfungen vermag er nur notdürftig mit akademischen Euphemismen wie „erprobter Kontrovershistoriker“ (303) zu bemänteln. Die an verschiedenen Stellen des Aufsatzes immer wieder durchbrechende Kontroverse zwischen Schütz und Hlawitschka über verschiedene Aspekte der Geschichte der Grafen von Dießen und Andechs, die an dieser Stelle jedenfalls nicht im Vordergrund stehen sollte, macht Schütz’ Untersuchung zwar zu einem Lehrstück professoraler Empfindlichkeiten, aber nicht unbedingt zu einer Bereicherung der Diskussion um das Kurfürstenkolleg.

Wenn es Wolf trotz einiger abweichender Stimmen nicht ganz gelungen ist, den Eindruck zu verwischen, er wolle lediglich ein weiteres Mal seine Thesen von den ottonischen Tochterstämmen propagieren, so handelt es sich bei dem vorliegenden Werk doch um einen nützlichen Sammelband, der auf kleinem Raum alle Wolf-relevante Literatur zusammenstellt. Seine Thesen werden in komprimierter Form dargeboten und alle bisher verstreut veröffentlichten Abstammungstafeln zusammengeführt und ergänzt. Kurzum: Es handelt sich um eine ideale Materialsammlung für die Auseinandersetzung mit den ottonischen Tochterstämmen.

Diesen Fehdehandschuh nimmt Franz-Reiner Erkens mit seinem kleinen Bändchen zu den neuen Theorien über die Entstehung des Kurfürstenkollegiums prompt auf. Denn obwohl der Titel verspricht, sich mit mehreren Theorien auseinander zu setzen, konzentriert sich Erkens in Wesentlichen auf die Wolfschen Tochterstämme. Theorien wie die von Heinz Thomas stellen dabei allerdings auch keinen ernsthaften Gegner dar. Ihr nimmt sich Erkens aber immerhin noch näher an, nachdem er das Erklärungsmodell Constantin Faussners mit wenigen Zeilen und ohne viel Federlesens zurecht als nicht tragfähig beiseite schiebt (5). Nach Thomas habe nämlich der Böhmenkönig 1239, als er zusammen mit dem bayerischen Herzog, der zugleich Pfalzgraf bei Rhein war, und wahrscheinlich mit den Markgrafen von Brandenburg und dem Herzog von Sachsen die Wahl eines Gegenkönigs gegen Friedrich II. bzw. Konrad IV. betrieb, die Erzämtertheorie erfunden, die das besondere Wahlrecht dieser vier Fürsten begründen sollte. Danach ließe sich die Beschränkung auf die später in der Goldenen Bulle genannten weltlichen Wähler auf die Ausübung der sogenannten Erzämter des Schenken, Marschalls, Kämmerers und Truchsesses zurück führen. Die Erzämtertheorie habe sich dann später durchgesetzt, wenn das geplante Königswahlprojekt von 1239 auch gescheitert sei (50f.). Als zentrales Argument gegen diese Überlegungen führt Erkens ins Feld, dass Thomas wohl von „Rechtsverhältnissen aus[gehe], die erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eingetreten sind“ (52), wenn er der Ansicht sei, die Bekleidung eines Erzamtes begründe den Vorrang eines „Amtsinhabers“ bei der Wahl des Königs. Vielmehr sprächen alle verfügbaren Quellen nur von einem Vorrang bei der Kur, also der Ausrufung eines neuen Königs, der zuvor ausgewählt worden war 2.

Außerdem setze die Theorie von Thomas, ebenso wie die von Armin Wolf, voraus, dass der Königswahlparagraph des Sachsenspiegels, dessen Entstehung man zwischen 1220 und 1235 ansetzt und der als die eigentliche Grundlage der Erzämtertheorie gilt, erst später interpoliert worden sei. Dies sei zwar nicht völlig auszuschließen, aber – so die Überzeugung Erkens‘ – nicht eben sehr wahrscheinlich.

Was in der Auseinandersetzung mit dieser Variante der Erzämtertheorie als Nebenargument benutzt wird, ist Erkens’ zentrale Überlegung für die Ablehnung der Tochterstammtheorie Wolfs. Armin Wolf geht davon aus, dass das exklusive Kurrecht von sieben Fürsten erstmals 1273 bei der Königswahl Rudolfs von Habsburg wirksam geworden ist, nachdem sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts der Kreis der durch ihre kognatische Verwandtschaft mit den Ottonen Wahlberechtigten aus verschiedenen Gründen auf gerade diese sieben verringert hatte. 1273 und bei den nachfolgenden Wahlen habe man andere Fürsten erfolgreich von der Wahl ausgegrenzt und so die Wahlberechtigung sich selbst und damit vier weltlichen Fürsten zugesprochen, die nicht nur Nachkommen ottonischer Tochterstämme waren, sondern als Erbengemeinschaft in der Erbengemeinschaft auch noch die habsburgischen Tochterstämme repräsentierten. Der Sachsenspiegel und die Stader Annalen (vor 1235 bzw. 1264 aufgezeichnet) seien also nachträglich ergänzt worden, weil sie zur Zeit ihrer Entstehung noch nichts von diesem exklusiven Wahlrecht hätten wissen können.

Gelänge es nun – so Erkens’ Überlegung – nachzuweisen, dass es keine Interpolation gegeben hat, dass also ein exklusives Wahlrecht schon vor 1273 bekannt war, dann würde das Wolfsche Thesengebäude von den habsburgischen und damit auch den ottonischen Tochterstämmen in sich zusammenbrechen. Denn nur durch grundlegende Kritik an dem „fein ziseliert[en] und in sich geschlossen“ (10) erscheinenden Erklärungsmodell Wolfs, ließe sich dessen Fehlerhaftigkeit nachweisen, wie Erkens richtigerweise feststellt. Mit seiner Quellenkritik, die hier nicht im einzelnen nachvollzogen werden kann, gelingt es ihm tatsächlich, eine solche nachträgliche Ergänzung sehr unwahrscheinlich machen.

Aber er begnügt sich nicht nur damit das Tochterstamm-Modell einzureißen, sondern er stellt dem ein eigenes Erklärungsmodell gegenüber. Dabei geht er von einer allmählichen Entwicklung hin zu einem exklusiven Kurrecht aus und stellt im Verlauf seiner Argumentation die Thesen Wolfs geradezu auf den Kopf: „Die habsburgischen Ehen der weltlichen Wahlfürsten von 1272 schufen nicht erst deren alleiniges Recht zur Königswahl, sondern die schon vorhandene Stellung als Kurfürsten machte […] aus den Wählern von 1272 […] attraktive Heiratskandidaten für die zahlreichen Töchter des neuen Königs“ (47).

Als Ergebnis präsentiert Erkens eine an Martin Lintzel angelehnte „Fernbleiben-Theorie“ 3, die er um den Einfluss, den der Sachsenspiegel als normative Quelle auf die Rechtswirklichkeit gehabt habe (81), erweitert und die die Entwicklung des Kürfürstenkollegs als um 1252/57 abgeschlossen betrachtet (97). Damit gelingt es ihm, eine gleichsam organische Erklärung für das Zustandekommen dieses Königswählergremiums (wieder) zu finden: Nur diejenigen Fürsten, die noch ein Interesse an einer Wahlbeteiligung hatten, nahmen noch an ihr teil. So verringerte sich durch Fernbleiben der Wählerkreis auf genau diese vier weltlichen Wähler. Diese Erklärung hat neben der Tatsache, dass die Annahme eines historischen Prozesses „besser der allgemeinen historischen Erfahrung“ entspricht (35), den Vorteil, nicht die Frage beantworten zu müssen, deren Antwort Wolf immer noch schuldig geblieben ist, nämlich warum es für eine angeblich seit Jahrhunderten bestehende Wahlberechtigung der Repräsentanten der ottonischen Tochterstämme bei der deutschen Königswahl kein einziges schriftliches Zeugnis gibt, das den Nexus zwischen Erbberechtigung und Wahlberechtigung explizit darlegt. Ob Erkens mit dieser Theorie der entscheidende Durchbruch gelungen ist, bleibt abzuwarten, denn auch sie zwängt notgedrungen das nicht gerade reiche und ausgesprochen disparate Quellenmaterial in ein System, von dem keiner weiß, ob es der zum Teil höchst unsystematischen mittelalterlichen Wirklichkeit nahe kommt. In jedem Fall repräsentiert diese kleine Studie zur Zeit den Forschungsstand. Die spannende Diskussion um das „Fundamentalrätsel der deutschen Geschichte“ kann weitergehen.

1 Armin Wolf, Die Kurfürsten des Reiches, in: Mario Kramp (Hg.), Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, Bd. 1, Mainz 2000, S. 87-96, S. 93
2 Für ein weiteres Argument gegen die Thesen von Thomas aber auch von Faussner siehe, Christian Hillen, Rex Clericorum – Wahl und Wähler Heinrich Raspes 1246, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte, Bd. 55 (2001), S. 57-76, S. 75 Anm. 103
3 Vgl. Martin Lintzel, Die Entstehung des Kürfürstenkollegs, in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Zur Karolinger- und Ottonenzeit, zum hohen und späten Mittelalter, zur Literaturgeschichte, Berlin 1961, S. 431-463

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